Thema

Mitreden und Zukunft gestalten

Gemeindeentwicklungsprogramm: aktive Bürgerbeteiligung
Bei einer Bürgerbeteiligung geht es nicht darum die eigenen Interessen unterzubringen, sondern mit dem Blick auf das Ganze die Gemeinde mitzugestalten.
In diesen Monaten werden in allen Gemeinden die Weichen für die Zukunft gestellt. Dabei sollten alle mitreden, auch sozial engagierte Bürgerinnen und Bürger.
Leo Resch,
Referatsleiter der Arche im KVW
Auf den ersten Blick scheinen die Themenbereiche Sozialpolitik und Urbanistik kaum Berührungspunkte zu haben. Sehen wir jedoch genauer hin, und dazu möchte ich Sie als Leserin und Leser dieses Artikels einladen, sind die Themen eng miteinander verflochten.
In den kommenden zwölf bis 24 Monaten werden die Weichen für das Leben in und mit unserer Landschaft gestellt. In diesem Zeitrahmen werden nämlich die Entwicklungsprogramme der Gemeinden ausgearbeitet. Das ist ein wichtiger Prozess, bei dem sich möglichst viele sozial engagierte Personen einbringen sollten, weil damit die Zukunft für nachfolgende Generationen gestaltet wird.
Die Lebensräume von morgen
Mit dem neuen Gesetz für Raum und Landschaft vom Juli 2020 erhielt jede Gemeinde die Aufgabe, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, wie sie sich in den kommenden zehn Jahren entwickeln möchte. Sie muss ein Gemeindeentwicklungsprogramm erarbeiten – nicht von Politiker:innen und Fachleuten allein im stillen Kämmerchen erstellt –, sondern das die aktive Zusammenarbeit mit den Bürgerinnen und Bürgern braucht. Es geht nicht nur darum, ob und in welchem Ausmaß in den kommenden zehn Jahren Bauflächen entstehen, sondern auch darum, wo und in welcher Quantität und Qualität Freiflächen für soziales Leben, für die Kultur und die Natur gesichert werden sollen. Es geht darum, wie die Lebensräume von morgen aussehen werden.
Fachleute sind alle, die im Dorf leben
Da es niemanden gibt, der besser Bescheid weiß über das Leben im Dorf als die Bürger:innen, die dort wohnen, ist es unerlässlich, dass diese aktiv mitplanen. Der Miteinbezug der Bevölkerung wurde sogar gesetzlich verankert. Bei der Ausarbeitung der Entwicklungsprogramme muss also dafür gesorgt werden, dass nicht nur einzelne Interessensgruppen zum Zug kommen. Damit ist zumindest theoretisch gewährleistet, dass jede und jeder sich einbringen kann.
In der Praxis sieht es anders aus. Sieht man sich die Themen an, die derzeit bei Medien und Politik im Mittelpunkt stehen, dann entsteht der Eindruck, es gäbe nur Wirtschaft, Gastgewerbe, Handwerk und Landwirtschaft. Hin und wieder geht es auch um Menschen, die in der Pflege arbeiten. Jugendliche, Familien, Angestellte und Senior:innen kommen selten zu Wort und werden kaum gehört.
Sozial engagierte Gruppen sind zu leise
Ob es daran liegt, dass diese Gruppen über weniger finanzielle Mittel verfügen oder daran, dass sie es nicht gewohnt sind, sich ganz nach vorne zu stellen, um laut ihre Forderungen vorzubringen, ist Ansichtssache. Tatsache ist, dass die Stimme der sozial engagierten Gruppen sehr leise geworden ist.
Um sicherzustellen, dass die Zukunft der Gemeinden auch im Sinne der Jugend, der Familien, Angestellten und Senior:innen geplant wird, ist es dringend nötig mitzureden und nicht nur darüber zu klagen, dass andere Interessensgruppen lauter sind und vehementer vorgehen. Jetzt ist der Moment da, in dem sozial engagierte Menschen und deren Vertretungen ihre Anliegen mit Nachdruck vorbringen können. Das Gemeindeentwicklungsprogramm bietet die einmalige Chance dazu.
Freiflächen für Spiel, Erholung, Sozialkontakte, Wohnbau
Speziell für Themenbereiche, die viel Raum benötigen, ist es wichtig, dass der Bedarf angemeldet wird. Freiflächen für alle Generationen – zum Spielen, für die Erholung, für körperliche Ertüchtigung und das Pflegen sozialer Kontakte – werden ebenso dringend benötigt wie Flächen für den Wohnbau. Der Bedarf an Freiflächen kann anhand von Einwohnerzahlen, der Größe sowie der Erreichbarkeit der bestehenden Flächen und der gewünschten Tätigkeiten gut errechnet werden. Beim Wohnbau ist die Sache etwas schwieriger. Daher ist es sehr wichtig, dass genauer hingeschaut wird. Der Wohnbau wurde in den letzten Jahren oft wegen des Flächenverbrauchs an den Pranger gestellt. Eine Sichtweise, die – wie eine Studie des AFI aus dem Jahr 2017 belegt – falsch ist. Die Bauabschlüsse von Wohnbaugenossenschaften und des WOBI haben in den Jahren 1971 bis 2005 lediglich 9,4 Prozent ausgemacht.
Wohnen als Grundrecht
Von einigen Gemeindepolitiker:innen wurde und wird das Argument vertreten, dass Flächen für den Wohnbau nur gerechtfertigt sind, wenn die Gemeinde wachsen möchte. Zuallererst ist das Wohnen aber ein Grundrecht. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht auf eine Wohnung. Das bedeutet nicht, dass jede und jeder auf der grünen Wiese eine Eigentumswohnung bauen kann. Doch es bedeutet, dass jede Gemeinde dafür sorgen muss, dass den Bewohner:innen und Arbeitskräften ein ausreichendes Angebot an Wohnmöglichkeiten zur Verfügung steht.
Städte wie Bozen oder Tourismuszonen wie das Grödner Tal tun sich schwer, den Bedarf an Wohnraum auszuloten. Zahlungskräftige Touristen schnappen sich alle Wohnungen, die auf dem Markt sind, und gleichzeitig suchen Beschäftigte im Gastgewerbe oder bei Unternehmen ebenso nach Wohnungen wie der Sozialbetrieb. Die Bevölkerungsentwicklung ist es, die den Bedarf an Wohnraum steigert, denn Familien werden kleiner und immer mehr ältere Menschen wohnen allein in sehr großen Wohnungen. Daraus ergibt sich, dass auch bei gleichbleibender Einwohnerzahl Jahr für Jahr neue Wohnungen gebraucht werden. Fachleute gehen davon aus, dass jährlich aufgrund sich ändernder Bedürfnisse und Haushaltsgrößen, eine Gemeinde bei gleichbleibender Einwohnerzahl ein Prozent neuer Wohnungen benötigt.
Das mag auf den ersten Blick nicht viel erscheinen. Berechnen wir daraus jedoch zum Beispiel den Bedarf von Bozen mit seinen rund 50.000 Haushalten, ergibt sich ein jährlicher Bedarf von 500 zusätzlichen Wohnungen.
Wohnraum ist knapp
Wir sehen, dass diese ein Prozent viel mehr sind, als die allermeisten Gemeinden in den letzten Jahren an neuem Wohnraum geschaffen haben. Um diesen Bedarf decken zu können, müssen auf jeden Fall auch neue Wege beschritten werden. Es wäre nicht zu verantworten, diesen Bedarf allein mit dem Umwidmen von Grünflächen in Wohnbauzonen zu decken. Auch hier ist ein Umdenken nötig. Es gilt, leerstehende Gebäude zu nutzen, wenig genutzte Gebäude einer neuen und intensiveren Nutzung zuzuführen, und es gilt, die Intensität der Nutzung zu steigern – sprich, wir müssen dichter und höher bauen, ohne die Qualität zu reduzieren, und nicht zuletzt müssen wir die Ansprüche an die Flächen an die neue Situation anpassen. Bescheidenheit erscheint mir notwendig für all jene, die ihre Wohnsituation ändern möchten oder müssen.
Warum das Mitreden jetzt so wichtig ist
Es braucht jetzt sozial engagierte Personen, die sich am Gemeindeentwicklungsprogramm beteiligen. Es geht darum, dass auch in Zukunft genügend Flächen für das Grundrecht des Wohnens und das kulturelle und soziale Leben zur Verfügung stehen.
Bitte informieren Sie sich in Ihrer Gemeinde, in welcher Phase sich das Gemeindeentwicklungsprogramm aktuell befindet, und bringen Sie Ihr Wissen über die Bedürfnisse in Ihrer Gemeinde ein. Bitte nutzen Sie dieses wichtige Planungsinstrument und stellen Sie damit sicher, dass die Bedürfnisse aller Bürger:innen auch in Ihrer Gemeinde Gehör finden.
Der KVW organisiert dazu eine landesweite Vortragsreihe, die Termine finden Sie auf Seite 11.
TEXT: Leo Resch

KVW Soziales

Wie Menschen und Jobs sich finden

Gute Arbeitsmarktlage mit bisher unbekannten Entwicklungen
Südtirols Arbeitsmarkt entwickelt sich immer mehr zu einem Arbeitnehmermarkt und entspricht damit dem europäischen Trend. Warum das so ist, wie er die Situation bewertet und was die Herausforderungen der Zukunft sind – das haben wir Stefan Luther vom Amt für Arbeitsmarktbeobachtung gefragt.
Stefan Luther,
Amtsdirektor des Amtes für Arbeitsmarktbeobachtung der Südtiroler Landesverwaltung
In welcher Lage befindet sich Ihrer Einschätzung nach der Südtiroler Arbeitsmarkt?
Stefan Luther: Das ist gar nicht so leicht auf den Punkt zu bringen. Denn eigentlich haben wir mehrere Arbeitsmärkte, die sehr stark regional oder berufsspezifisch geprägt sind. Der Arbeitsmarkt des Tourismus hängt von anderen Faktoren ab als jener der Pflege. Prinzipiell gehe ich zum derzeitigen Zeitpunkt davon aus, dass die Auswirkungen der Corona-Krise im Hinblick auf die Anzahl der Arbeitnehmer:innen wohl überwunden sind. Seit Sommer 2021 haben die Arbeitsverhältnisse quantitativ dasselbe Niveau wie im bisherigen Rekordjahr 2019 erreicht. Trotz des unsicheren internationalen Umfeldes setzt sich diese Entwicklung auch fort – bis jetzt.
Zeichnet sich also wirklich ein Arbeitskräftemangel ab?
Luther: Dem ist so, zumindest mittel- und langfristig. Denn die Südtiroler Erwerbsbevölkerung nimmt ab, und der Bedarf an Arbeitskräften steigt. 2011 hatten wir noch 184.500 Arbeitnehmende im Jahresschnitt; 2021 – wohlgemerkt nach zwei Jahren Krise – 207.500. Also ein Plus von 14 Prozent. Wenn es so weitergeht, werden zum Ende der laufenden Legislaturperiode etwa 7.000 potenzielle Arbeitskräfte weniger zur Verfügung stehen, da die Südtiroler Erwerbsbevölkerung stagniert. Auch kurzfristig fehlen Arbeitskräfte: Die digitale Arbeitsmarktbörse des Landes, die eJobBörse (www.jobs.bz.it) mit immerhin 25 Prozent Marktanteil, hat noch nie so viele offene Stellenangebote in den ersten vier Monaten des Jahres verzeichnet: nämlich über 5.600. Es fehlen also Arbeitskräfte, nicht nur Fachkräfte in diversen Berufen und Branchen. Selbst bekanntere Betriebe haben Schwierigkeiten, Arbeitskräfte zu rekrutieren, und müssen deshalb Anforderungen wie die Kenntnis beider Landessprachen herabsetzen. Ich sehe Anzeichen, dass sich Südtirol wie andere mitteleuropäische Regionen zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt: Arbeit­nehmer­:innen suchen sich ihren Arbeitgeber aus.
Also eine sehr gute Arbeitsmarkt­lage. Dennoch gibt es auch viele Menschen, die keine Arbeit finden.
Luther: Sie bringen das Dilemma auf den Punkt. Wir haben Arbeitsmarktspannungen: Betriebe finden keine Leute, Arbeitslose – ohne Saisonarbeitslose waren im April dieses Jahres immerhin fast 10.000 Arbeitslose registriert – finden keine passenden Stellen. Das ist unsozial und unwirtschaftlich. Dennoch bin ich optimistisch.
Woraus speist sich Ihr Optimismus?
Luther: Es gibt Instrumente, um das Zusammentreffen von Betrieben und Arbeitslosen zu erleichtern – das ist der Kernbereich aktiver Arbeitsmarktpolitik, mit einem Ziel: Beschäftigungshindernisse abzubauen. Und zwar auf Seiten der Betriebe wie der Arbeitslosen. Es geht um Beratung, um Weiterbildung bis hin zur Umschulung und auch um gezielte Förderungen. Ein sehr wirksames Instrument, um die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu fördern, ist eine starke und professionelle Arbeitsvermittlung. Und dies gilt ganz ausdrücklich auch für die
gezielte Arbeitsvermittlung für Menschen mit Beeinträchtigung.
Betrachten Sie Digitalisierung und Automatisierung nicht als Gefahr für den Südtiroler Arbeitsmarkt?
Luther: Aus heutiger Sicht nicht −wenn es der Schul- und Ausbildungswelt gelingt, die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln. Moderne Arbeitsmärkte sind dynamisch. Bereits jetzt verfügt die Abteilung Arbeit über einen wertvollen Datenschatz und ausreichend Informationen, um zukunftsfähige Konzepte für den Arbeitsmarkt zu entwickeln. Ein Beispiel: Auf den Arbeitskräftemangel durch demografischen Wandel haben wir bereits vor mehr als zehn Jahren aufmerksam gemacht – jetzt wird er in den Betrieben spürbar. Was uns fehlt, sind fachlich kompetente Mitarbeiter:innen in ausreichender Zahl, um diese Konzepte auch in die Praxis umzusetzen. Wie Sie sich vorstellen können, ist die Beratung von Betrieben wie von Arbeitssuchenden alles andere als eine bürokratische Tätigkeit. Es gilt mitunter, arbeitslose Personen engmaschiger zu aktivieren als es heute möglich ist. Der Arbeitsvermittlung muss gelingen, den Bedarf der Arbeitssuchenden und der Betriebe zu erkennen und somit Übereinstimmungen zu suchen und zu finden. Und manchmal auch Menschen und Jobs zusammenzubringen, die vielleicht auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, sich dann aber als Glücksgriff erweisen.
Ich würde die Herausforderung so auf den Punkt bringen: Eine professionelle Arbeitsvermittlung ist ein enormer wirtschaftlicher und sozialer Mehrwert und stärkt Südtirols Attraktivität für Betriebe und Arbeitskräfte.