Thema

Wert des Sozialstaates erkennen

Pandemie stellt sozialen Zusammenhalt auf die Probe
Was bringt das Soziale, was bringt der Sozialstaat überhaupt, fragen sich viele. Gerade jetzt - in Zeiten großer Veränderungen - muss in einem Sozialverband wie dem KVW diese Frage diskutiert werden. Der KVW ist das soziale Gewissen im Land, er hat das Ohr nah am Bürger und zurzeit auch ganz nah bei all jenen Bürgern, denen es durch die Corona-Krise nicht gut geht. In den Patronaten im Land werden viele Hilfesuchende vorstellig. Dort wird täglich sichtbar, mit welchen Schwierigkeiten die Menschen in Südtirol nun konfrontiert sind. Eine gut funktionierende Sozialpolitik ist in wirtschaftlich schwierigen Zeiten von größter Wichtigkeit, sie gewinnen an Wert. Dazu ein Interview mit dem KVW Landesvorsitzenden Werner Steiner.
Kompass: Was leistet der Sozialstaat? Und für wen erbringt er Leistungen?
Werner Steiner: Jedes Leben verläuft unterschiedlich, aber beispielhaft könnte man sagen, dass doch jede und jeder in unterschiedlicher Höhe Leistungen des Sozialstaates in Anspruch nimmt. Es hängt neben dem Alter vor allem von der Vermögens- und Einkommenssituation ab. Als Kinder erhalten wir Familienleistungen und nehmen staatliche Bildung in Anspruch. Im Falle von Krankheit stehen uns ein Kinderarzt bzw. ein Hausarzt und öffentliche Krankenhäuser zur Verfügung. Sobald wir im Erwerbsleben stehen, zahlen wir ins Sozialsystem und die Pensionskasse ein. Wir profitieren aber auch davon, zum Beispiel durch Vater- und Mutterschaft, bei Arbeitslosigkeit, bei einem Arbeitsunfall mit Invalidität oder ähnlichem. Nach der Erwerbsarbeit sind wir durch die Rente abgesichert. Wobei diese ein Leben in Würde ermöglichen sollte, was leider nicht mehr immer der Fall ist.
Der Sozialstaat leistet also im Leben eines jeden Menschen sehr viel. Es ist schwer vorstellbar, wie das Leben ohne die Sozialleistungen und die staatlichen Infrastrukturen aussehen würde.
Kompass: Was sind die Vorteile eines gut funktionierenden Sozialstaates, wie Sie ihn geschildert haben?
Steiner: Die Vorteile liegen darin, dass Menschen, die durch geänderte äußere Umstände oder durch Unfall in Notlagen geraten, aufgefangen werden. Die Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise vor über zehn Jahren haben gezeigt, dass Länder mit einer starken sozialstaatlichen Absicherung deutlich besser durch die Krise gekommen sind als andere. Der Vorteil eines gut ausgebauten Sozialstaats mit entsprechenden Leistungen liegt darin, dass Menschen in schwierigen Lebenslagen unterstützt werden. Sie haben Vertrauen in den Staat, Krisen machen weniger Angst, Nachwirkungen und Folgen von schwierigen Situationen werden abgemildert. Und ganz wichtig: dies trägt gleichzeitig zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stabilität bei.
Kompass: Sozialstaatliche Leistungen wurden eingeführt, hat damit die Politik ihre Aufgabe erledigt? Ist damit auch für die nachfolgenden Generationen gesorgt?
Steiner: Leider ist es nicht so einfach. So wie sich die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Arbeitssituationen dauernd ändern, braucht es auch bei den Sozialleistungen immer wieder Nachbesserungen und Anpassungen. Es ist eine wichtige Aufgabe des KVW, hier immer genau hinzuschauen, auf veränderte Situationen aufmerksam zu machen. Es fällt auf, dass sich Änderungen immer schneller vollziehen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel erfolgt rasch, neue Problemlagen und Bedürfnisse entstehen, auf sie gilt es schnell zu reagieren. Es braucht also eine anhaltende Weiterentwicklung des Sozialstaates.
Ich möchte hier nur ein Beispiel nennen, das uns in jüngster Zeit untergekommen ist. Wer jetzt um Sozialleistungen ansucht, da er durch Corona in Not geraten ist, muss das Einkommen von 2019 angeben. Der Einkommensausfall ist aber im Jahr 2020 eingetreten, Ansuchen die jetzt gestellt werden, machen die eingetretene Not also noch nicht ersichtlich und somit besteht auch kein Anspruch. Dies zeigt uns, dass Anpassungen der Sozialleistungen schnell gehen müssen.
Kompass: Oft hört man, „wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut“. Stimmen Sie dem zu?
Steiner: Es mag Betriebe geben, für die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Umwelt wichtig sind und die auch viel dafür tun. Andererseits muss uns aber bewusst sein, dass es Ziel eines jeden Unternehmens ist, Gewinne zu erwirtschaften. Deshalb müssen die Spesen und Ausgaben möglichst gering sein, niedere Löhne, niedere Steuern und keine Ausgaben für Umwelt sind also ganz im Sinne eines solchen Wirtschaftens. Deshalb stimmt der Satz „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut“ so nicht. Der Streben nach Gewinn widerspricht dem.
Kompass: Die Menschen brauchen den Sozialstaat, auch wenn es der Wirtschaft gut geht?
Steiner: Wer aus irgendeinem Grund aus dem funktionierenden Rad der Wirtschaft rausfällt, der braucht den Sozialstaat dringend.
Es muss immer zuerst um den Menschen und sein Wohlergehen gehen. Das muss auch bei den aktuellen Diskussionen um Hilfen und Ausgleichszahlungen wegen der Pandemie mitgedacht werden. Viele Arbeitnehmer*innen, vor allem viele Frauen, haben im vergangenen Jahr massive Einbußen hinnehmen müssen. Es mehrt sich die Zahl jener, die nicht mehr aus eigener Kraft über die Runden kommen, die keine Arbeit mehr haben. Diese Personen brauchen als erstes Hilfe, hier geht es um elementare Dinge wie Essen, Schulbesuch der Kinder, Miete usw. Dies muss Vorrang haben, dafür muss als erstes und vor allem genügend Geld zur Verfügung gestellt werden. Alles andere kann danach kommen.
Deshalb mein eindringlicher Appell an die Politik: nicht wer am lautesten schreit, braucht Hilfe, sondern der, dem es schlecht geht.
Kompass: Die Wirtschaft plädiert für eine Senkung der Steuern. Was bringt das? Käme die öffentliche Hand mit weniger Geld aus?
Steiner: Es braucht endlich einen positiven Zugang. Steuern sind nicht schlecht, sondern sie sind enorm wichtig. Was die öffentliche Hand damit schafft, kommt allen zugute, das könnte der einzelne nie selber schaffen.
Alles zu privatisieren geht in die falsche Richtung. Zum Beispiel hat uns die Krise und Pandemie gelehrt, dass wir gut ausgestattete öffentliche Krankenhäuser und gut ausgebildetes und bezahltes Personal brauchen. Privatisiert wurden leider oft medizinische Dienste, die gute Gewinne bringen: ein Beispiel, Operationen an ansonsten gesunden Personen werden privat angeboten, diese können rasch durchgeführt werden, der Patient braucht keine weitere Betreuung, Aufenthalt in Klinik ist kurz, falls überhaupt notwendig.
Umgekehrt landen komplizierte, komplexe und langwierige Fälle in den öffentlichen Strukturen.
Die Realität ist leider so, dass das, womit schnell und leicht Geld verdient werden kann, privatisiert wurde, der Rest bleibt steuerfinanziert in den öffentlichen Strukturen.
Kompass: Die Gesellschaft ist sehr heterogen, Einkommen, Vermögen und Chancen sind ungleich verteilt.
Steiner: Deshalb ist es eine große und wichtige Aufgabe des Sozialstaates, die Lasten fair zu verteilen. Dadurch wird die Ungleichheit in der Gesellschaft ausgeglichen. Soziale Gerechtigkeit ist die Basis und Grundvoraussetzung für ein friedliches und gutes Zusammenleben. Sie schafft gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Stabilität. Davon profitieren wir alle, unabhängig ob wir den Sozialstaat brauchen oder in der glücklichen Lage sind, alleine zurecht zu kommen. Dies sollte von allen Bürgerinnen und Bürgern als großer Wert erkannt und geschätzt werden!
Kompass: Die FF-Chefredakteurin schrieb kürzlich in einem Leitartikel: „Hoteliers, Händler, Handwerker, Unternehmer verfügen über Organisationen, die die Politik permanent unter Druck setzen und öffentlich laut Forderungen platzieren. Die Arbeiter und Arbeiterinnen haben niemanden, der sie wirklich vertritt.“ Wer vertreter die Interessen der Arbeitnehmer? Wer setzt sich für sozial Schwache ein?
Steiner: Es sollte selbstverständlich sein, dass die Interessen der Arbeitnehmer*innen gehört werden. Warum sollten sie laut schreien müssen? Es gibt den KVW, der immer wieder auf Missstände hinweist, es gibt Gewerkschaften, die ihre Stimme erheben, es gibt das Afi, das durch seine Forschungen aufzeigt, wo etwas nicht richtig läuft, es gibt caritative Vereine, es gibt eine Arbeitnehmervertretung in der SVP, es gibt Oppositionsparteien, … das Problem sehe ich eher darin, dass all diese mahnenden und warnenden Stimmen nicht gehört werden und auch nicht ernst genommen werden.
Hier braucht es eine Veränderung, es braucht den Blick aufs Gesamte. Wir alle müssen verstehen, dass keine und keiner von uns allein ist. Es hängt alles zusammen, unsere Leben hier auf der Erde hängen alles zusammen.
Es stimmt, dass die Verbandsvertreter der Hoteliers, des Handels und anderer Selbständiger in den vergangenen Monaten laut geschrien haben und teilweise utopische Forderungen gestellt haben. Dabei hatten sie leider nicht immer das Ganze im Blick, sondern einen sehr engen Bereich, nämlich den eigenen. Die Politik hat die Aufgabe, alle Stimmen zu hören und den Ausgleich zu schaffen. Es sollte nicht in einen Wettbewerb ausarten, wer es schafft am lautesten zu schreien.

Kommentar

Präsidentin des Afi für 30 Monate

Blick auf die Tätigkeit des Arbeitsförderungsinstituts
Christine Pichler von der Gewerkschaft AGB-CGIL war vom Oktober 2016 bis Mai 2019 Präsidentin des Arbeitsförderungsinstituts Afi. Hier blickt sie auf die Geschichte des Afi, erklärt seine Tätigkeit und unterstreicht die Bedeutung dieser Forschungs- und Weiterbildungsorganisation für die Arbeitnehmer*innen und das soziale Leben in Südtirol.
Christine Pichler
Das Arbeitsförderungsinstitut Afi ist italienweit eine einzigartige Einrichtung. Das Institut wurde 1992 unter Landesrat Otto Saurer zusammen mit den Südtiroler Gewerkschaftsbünden gegründet, 1995 wurde die Aktivität aufgenommen. Vorbild war die österreichische Arbeiterkammer. Das Arbeitsförderungsinstitut ist heute eine Körperschaft öffentlichen Rechts, die zum größten Teil vom Land Südtirol finanziert wird.
Im Gegensatz zur österreichischen Arbeiterkammer hat das Afi kein gesetzlich verankertes Mitspracherecht bei der Ausarbeitung von Bestimmungen und Gesetzen, welche die Belange der Arbeit­neh­mer*­innen betreffen. Seine Rolle ist die Untersuchung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen, die Beratung und Weiterbildung der Arbeitnehmervertretungen.
Vorbild war Arbeiterkammer
Eines der Schlaglichter in meiner Amtszeit als Präsidentin des Afi war die Durchführung der ersten repräsentativen Erhebung der Arbeitsbedingungen in Südtirol in Zusammenarbeit mit dem INAIL. Eine Neuauflage dieses Projekts, diesmal zusammen mit der Arbeiterkammer Tirol und der Agenzia del lavoro Trient, läuft im Mai an. Des Weiteren verlangt die hohe Zahl an gemeldeten Arbeitsunfällen in Südtirol nach Aufklärung und Thematisierung.
Die Bestandsaufnahme von gewerkschaftlichen Betriebsabkommen in den 100 größten Unternehmen im Land, die Erhebung der weiblichen Beschäftigungslage in Südtirols Großunternehmen im Auftrag der Gleichstellungsrätin des Landes waren weitere Highlight, die in meine Amtszeit fielen.
In Anschluss an die Fachtagung „Working Poor“ (arbeiten und trotzdem arm) hat mir ein Teilnehmer geschrieben: um zu wissen, dass eine schlecht ausgebildete Person eher armutsgefährdet ist, als eine gut ausgebildete, muss ich nicht zum Seminar. Doch gerade das fundierte und mit Daten aus vielzähligen Untersuchungen belegbare Wissen macht es der Gesellschaft möglich, das Problem zu belegen und darauf zu reagieren.
Fehlentwicklungen belegen
So zeigt uns das Afi Barometer, die vierteljährliche Befragung einer repräsentativen Gruppe von Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, dass ihnen das Thema Lohn und Lebenshaltungskosten unter den Nägeln brennt. Trotz wirtschaftlichem Aufschwung in den Jahren vor der Pandemie - Südtirol hatte ein Wirtschaftswachstum von real mehr als zwei Prozent jährlich, musste die Mehrheit der Lohnabhängigen feststellen, dass die Lebenshaltungskosten mehr anstiegen als die Löhne. Das spiegeln auch die Daten des Nationalen Instituts für soziale Fürsorge (INPS) wieder: Die Durchschnittslöhne liegen in Südtirol zwar sieben Prozent über dem gesamtstaatlichen Schnitt, die Lebenshaltungskosten aber 20 Prozent darüber.
Stimme der Lohnabhängigen
Die jeweiligen Landesräte für Arbeit haben die Tätigkeit des Institutes zwar immer unterstützt, doch immer wieder keimt im Landhaus die Diskussion auf, ob man das Afi anders „aufstellen“ sollte um ihm mehr Autonomie zu geben.
Gedacht wird an eine Stiftung privaten Rechts, mit Zuwendungen aus dem Landeshaushalt. Stiftungen, so befürchtet man im Afi Ausschuss, können sehr bald klein gespart werden. Heute ist das Personal im Landesdienst, in Krisenzeiten könnte eine eventuelle Unterfinanzierung zu Entlassungen führen, das Institut würde klein geschrumpft und unbedeutend.
Das Institut ist eine große Errungenschaft der Arbeitnehmer*innen in Südtirol und von großem Wert für der Wahrnehmung derer Interessen. Vor allem muss es nicht nur den Gewerkschaften und Sozialverbänden, sondern auch der Politik wert sein, den Lohnabhängigen in Südtirol eine sachkundige Stimme zu geben.
TEXT: Christine Pichler