Trauer

Trauer erLeben

Neue Perspektiven finden nach einem Verlust
Trauern ist manchmal wie ein Schneckendasein: man will sich verkriechen, bei kleinsten Hindernissen sofort den Rückzug suchen und es manchmal dennoch wagen aus seinem Schneckenhaus herauszukommen.
Unser Leben ist voll von Verlusten, von Anfang an. Unser natürlicher Instinkt ist es, uns und unsere Lieben vor dem damit einhergehenden Schmerz zu beschützen. Fehlen die kleinen Verlusterfahrungen im Alltag, verlernen wir den Umgang mit Trauer und Gefühlen.
„Trauer ist ein Flüstern in der Welt, und ein Lärmen im Inneren“. (Anna Quindlen)
Trauer bleibt so oft unausgesprochen, sie ist ein gesellschaftliches Tabu. Das macht es so schwer, Trauer zu begreifen und ihr den Raum zu geben, den sie für eine heilsame Entwicklung braucht. Wenn wir dem Thema mehr Platz geben und uns der Endlichkeit öffnen, wird es einfacher, trauernden Mitmenschen zu begegnen und ein Freund zu sein. Damit wäre schon sehr viel geholfen.
Trauer ist ein Gefühl! Trauer ist weder eine Störung noch eine Krankheit, sondern eine natürliche Reaktion auf einen endgültigen Verlust. Dieser Verlust muss nicht nur der Tod eines lieben Menschen sein. Trauerreaktionen treten auch auf, wenn ein geliebtes Haustier stirbt, wenn eine Freundschaft/Ehe zerbricht, wir die Arbeit verlieren oder weit weg ziehen muss, wenn wir in Rente gehen oder die Kinder das Haus verlassen. Einschneidende Ereignisse wie z.B. auch die Covid-Krise haben oft eine so starke Wirkung auf die Psyche, dass wir auf unsere herkömmlichen Abwehrmechanismen nicht mehr zurückgreifen können.
Wir brauchen die Trauer und die einzige Heilung von Trauer ist es zu trauern!
Sobald wir es schaffen, den Verlust zu akzeptieren und in unser Leben zu integrieren, können wir uns wieder neu orientieren. Das ist ein Prozess, der sehr intensiv und kräfteraubend ist. Und der weh tut. Aber nur der Weg durch diesen Schmerz wird ihn auch heilen. Der Schmerz muss gepflegt und gewürdigt werden. Das ist die Voraussetzung, dass er sich verändern kann.
Gefühle muss man fühlen, nicht unterdrücken. Sonst wären es ja „Gedrückte“.
Es gibt in all der Ohnmacht, Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit, dem Chaos kein Richtig und kein Falsch und jeder trauert auf seine Weise. Es braucht Zeit und vor allem den Mut, die Gefühle zuzulassen. Weinen ist ausdrücklich erlaubt! Tränen sind kein Zeichen der Schwäche. Der, der weint ist stark, auch wenn er sich in diesem Moment schwach fühlt. Jedes Gefühl hat seine Richtigkeit und soll uns helfen. Angst z.B. warnt vor Gefahr, Zorn hingegen ist eine natürliche Reaktion auf eine Ungerechtigkeit. Er soll Kraft geben, uns der Wirklichkeit zu stellen. Wenn wir Gefühle zulassen, können sie ihren Zweck erfüllen und uns helfen. Wenn wir sie hingegen unterdrücken, entsteht „Druck“ und dieser kann entweder explodieren oder sich nach innen wenden und sich krankhaft auswirken. Es ist eine absolute Notwendigkeit, auch Freude in der Trauer zuzulassen. Es geht anfangs um die kleinen „guten“ Minuten, in denen sich die Psyche erholen kann. Freude in der Trauer zu empfinden heißt nicht, die Realität zu leugnen oder gar die Verbindung zum Verstorbenen zu brechen. Es ist ein Grundbedürfnis und auch eine Wertschätzung an die gemeinsame Zeit davor.
Achten Sie auf ein gutes Stützgerüst! Was hilft mir, Angst-Zorn-Trauer-Freude zu zeigen? Was brauche ich, um mich sicher zu fühlen? Was hilft mir, meine Traurigkeit zuzulassen? Denn wenn ich mich nicht sicher und gestützt fühle, kann und soll ich mich nicht den Gefühlen stellen. In so einem Fall ist es vorerst und nur für eine bestimmte Zeit besser, sich abzulenken.
Sie sind der wichtigste Mensch in Ihrem Leben!
Sorgen Sie gut für sich! Sie leisten gerade einen enormen Kraftakt. Zeigen Sie sich selber dafür Anerkennung und Mitgefühl.
Essen (auch ohne Appetit), trinken, schlafen sind Grundbedürfnisse und wesentliche Erholungsfaktoren für den Körper.
Stärken Sie Ihren Selbstwert. Sich zu loben und dankbar zu sein tut gut. Schreiben Sie täglich drei Dinge auf, was Ihnen heute gut gelungen ist, worauf Sie stolz sind oder wofür Sie dankbar sind.
Wer oder was kann Sie unterstützen, gibt Halt und Struktur?
Holen Sie sich die Unterstützung, die Sie brauchen. Das ist wesentlich, um heftige Zeiten auch auszuhalten und zu ertragen.
Delegieren Sie, was Sie nicht alleine schaffen.
Nicht zu weit voraus schauen. Die Zukunft ist dunkel, kann Angst machen. Machen Sie einen Schritt nach dem anderen, schauen Sie von Tag zu Tag. Alles andere kann überfordern.
Treffen Sie keine überstürzten Entscheidungen mit einer größeren, auch existentiellen Tragweite (Arbeitsplatz wechseln, Wohnung verkaufen)
Was ist Ihr Anker? Woran können Sie sich halten? An was glauben Sie?
Wer oder was tut Ihnen gut? Welche Orte tun Ihnen gut?
Die Trauer gehört dem Trauernden. Tipps und Empfehlungen sind herzlich willkommen, aber letztendlich können nur Sie selbst entscheiden, was Sie im Moment brauchen.
Sagen Sie dem Umfeld, was hilft und was nicht.
Gefühle erkennen, annehmen, zulassen
Was brauchen Sie, wenn die Trauerwelle heftig über Sie einbricht? Was macht es leichter, dass die Tränen fließen können? Eine Telefonnummer, die Sie anrufen können? Viele Kuscheldecken und ein bestimmtes Lied dazu? Ein Spaziergang im Wald? Sich damit eine Notfallbox zulegen kann gut helfen.
Erzählen Sie Ihre Geschichte. Suchen Sie sich Menschen, die Ihren Schmerz aushalten, die zuhören können und für Sie immer wieder da sind.
Suchen Sie sich kreative Ausdrucksmöglichkeiten! Durch Malen, Schreiben, Tanzen, Singen entsteht ein Fluss. Kreativität hilft dem Verstand, den Verlust zu begreifen, bringt etwas zum Ausdruck, was mit Worten nicht gelingt.
Füllen Sie den Energietank
Trauern kostet viel Kraft. Wo können Sie immer wieder auftanken, sich erholen? Ist es die Natur, ein Buch, ein Bad, ein Gespräch, Yoga, eine Massage?
Bewusst atmen, immer wieder innehalten und den Atem spüren hilft, in das Hier und Jetzt zu kommen, sich zu beruhigen.
Trauer braucht Bewegung. Ein Spaziergang in der Natur, besonders im Wald, kann eine wertvolle Ressource sein.
Experimentieren Sie! Entdecken Sie was Neues, probieren Sie aus. Immer wieder neu.
Erinnerungen pflegen und sammeln heißt, mit dem Verstorbenen in Verbindung zu treten.
An Orte zu gehen, wo der Verstorbene gerne war oder Plätze aufzusuchen, wo man gemeinsam schöne Stunden verbracht hat, schafft Nähe und Verbundenheit. Erst wenn Sie dem Verlust innerlich einen guten Platz gegeben haben, können Sie sich vom Äußerlichen lösen. Dabei kann z.B. auch ein Erinnerungsbuch oder eine Erinnerungskiste helfen.
Mit allen Sinnen trauern
Trauernde verlieren oft den Kontakt zu sich selber. Nutzen Sie alle Sinne, um wieder zu spüren. Unterschiedliche Musik hören, bei Sturm und Regen aus dem Haus gehen, barfuß über Wiesen laufen, an Blumen riechen, Moos-Rinden-Tannenzapfen und Federn angreifen, stark und scharf gewürzte Speisen essen, kann dabei helfen.
Diese Anregungen werden das Leid lindern, sie machen aber die Trauer nicht weg. Sie sind ein Weg, die Trauer besser zu ertragen und den Weg zu gehen.
Zur Person
Gabriela Mair am Tinkhof, Begleitung von Familien und Kindern in Trauer, Sterben und Krise, Ausbilderin für Kindertrauerbegleitung, Fachreferentin für Kindertrauer, Trauer, Tod und Vergänglichkeit. www.farfallina.info
TEXT:Gabriela Mair am Tinkhof

Thema

Revolution der zärtlichen Liebe

Der Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben und einem guten Miteinander
Zärtlichkeit lässt die Verletzlichkeit aller Dinge wahrnehmen.
Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privatuniverstität in Linz. Sie hat das Buch „Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht“ geschrieben. Der Begriff Zärtlichkeit wird seit dem Pontifikat von Papst Franziskus öfter verwendetet. Es steht für ein menschliches und christliches Ideal, das für Barmherzigkeit, Nähe, Zuhören und Öffnung steht. Gleichzeitig bedeutet es Widerstand gegen alles, was eine Mauer aufbaut, was keine Veränderung zulässt.
Sie haben das Buch „Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht“ geschrieben. Warum glauben Sie, dass unsere Gesellschaft Zärtlichkeit braucht?
Isabella Guanzini: Wir befinden uns – zumindest in der westlichen Welt – in einem sozialen, kulturellen und technologischen Zusammenhang, in dem es an Spuren eines umfassenden Geisteslebens mangelt. Die monetäre Orientierung unserer Zeit erzeugt eine Resonanzunfähigkeit und eine qualitative Gleichgültigkeit gegenüber der Singularität der Dinge, da alles schätzbar sein muss. Von daher gibt es wenig Raum für Momente des Mangels, der Ruhe, der Leere, des Verarbeitens und Erzählens.
Dieser Seelenzustand des hochentwickelten Westens bringt also ein Subjekt hervor, das nach Leistung strebt, nicht nach Berufung: Gewinnertypen, Erfolgsmenschen, Karrierefrauen müssen sich sorgfältig vor der Zärtlichkeit hüten, da sie als eine unverzeihliche Schwäche betrachtet wird. Und diese gefühllose, zielorientierte und immunisierte Haltung transformiert Tag für Tag die symbolische und menschliche Landschaft und erzeugt eine unempfindsame Atmos­phäre, ohne Resonanz und Empathie, die die Welt zunehmend einfriert und versteinert. Ich denke, dass die Zärtlichkeit ein Gegenmittel gegen die Ausbreitung dieses erschöpften und gefühllosen Geistes in unseren Gesellschaften sein kann.
Warum sollte Zärtlichkeit eine öffentliche Ressource sein? Gehört Zärtlichkeit nicht in den privaten, zwischenmenschlichen Bereich?
Guanzini: Das Wort „Zärtlichkeit“ klingt sofort sentimental und rhetorisch, absolut unpolitisch, da man es automatisch mit Verweichlichung der Seele assoziiert. Zärtlichkeit ist zu einem Nahrungsergänzungsmittel des Privatlebens geworden, zu einem Wohlfühlbad in der Freizeit. Auch wenn sie noch immer mit humanen Gefühlen assoziiert wird, so scheint die Zärtlichkeit in unserer Zeit keinerlei Strahlkraft oder Stärke zu besitzen. Die Zärtlichkeit stellt jedoch meines Erachtens keine sentimentale Schwäche dar: Sie ist vielmehr ein durchdringender Affekt, eine Art des Wahrnehmens und des Erkennens. Sie entspricht der elementaren Wahrnehmung der Fragilität, nämlich der Verletzlichkeit aller Dinge. Deswegen ist sie heute, in unserer „Gesellschaft des Grolls“ und der Verdrängung unserer geteilten Sterblichkeit, hochproblematisch und unaussprechbar geworden. Dagegen stellt die Zärtlichkeit die grundlegende menschliche Fähigkeit dar, Beziehungen zu knüpfen, die die Welt zusammenhalten. Da die Gefühle wie Abdrücke, Prägungen sind, die Menschen einander hinterlassen, ist jeder Abdruck wesentlich, und kann sogar revolutionär sein, um ein neues, humaneres Miteinander aufzubauen. In diesem Sinne möchte ich das öffentliche und politische Potential der Zärtlichkeit zum Ausdruck bringen. Es geht um einen Prozess, der sich Tag für Tag, Gestus für Gestus, Wort für Wort verwirklicht. Das gegenseitige Weichwerden, das Empfinden von Zärtlichkeit, ist eine gegenseitige Sinngebung, bei der jeder seine Spur auf dem Körper und der Seele des Anderen hinterlässt.
Wie stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, die zärtlich ist?
Guanzini: Die alltäglichsten Lebenssituationen, wie Verkehrsstau, überfüllte U-Bahnen und Supermärkte, lange Schlangen an den Kassen könnten Gelegenheiten zum Nachdenken sein. Sie können entweder Orte der Irritation, der Ungeduld und sogar der Gewalt sein, oder Orte des Mitgefühls, des Nachdenkens und der Empathie werden. Die Langsamkeit der alten Person vor mir, die meinen Weg einbremst, aber mich zugleich an meine alte Mutter erinnert, die hyperaktiven Kinder zwischen erleuchteten Supermarktregalen und die Frau an der Kasse, die den Blick des Todes hat, und Menschen, die am Handy extrem laut sprechen – all das macht die Gegenwart der Anderen zu einem störenden Hindernis.
Jede Person hat in jeder Situation die Macht und die Möglichkeit, Kontakt für Kontakt, die soziale Konstellation menschlicher oder unmenschlicher zu machen. Wir befinden uns immer vor einer Wahl: das Gewissen zu „kauterisieren“, d. h. die Präsenz des Anderen zu verdrängen oder sogar als unerträgliche Last zu betrachten, oder physische Kontakte und Begegnungen zu spüren und gut aufzunehmen, sodass das menschliche Miteinander für alle humaner, wärmer, zärtlicher wird.
Gibt es eine Angst vor Zärtlichkeit? Welche Mächte und Systeme sehen sich bedroht?
Guanzini: Einerseits gibt es einen kollektiven Druck, stark sein zu müssen und nie um etwas zu bitten, der ins Innerste dringt. Andererseits brauchen Machthaber nicht-empathische Menschen um sich, um sie besser zu steuern. Stagnation und emotionale Abschottung sind Schlüsselelemente von Machtdispositiven und autoritären Regimes. Solche Formen der Macht verachten jegliche Form der Zärtlichkeit und setzen Kontrollmechanismen ein, die die Trennung der Subjekte und die Hemmung des freien und kritischen Austauschs der Gefühle anstreben. Echte demokratische Kämpfe sind daher Kräfte, die das Soziale aufbauen, unablässig Zusammenhänge weben, die Stagnation in Fluss bringen und sich neue Möglichkeiten von Annäherungen, Zuneigungen und kollektiven Bahnen entdecken. Nur so können die Körper wieder neue Fähigkeiten der Wahrnehmung und neue Lebenskräfte entwickeln, um eine wahre politische Gemeinschaft aus aktiven und freudvollen Kreisläufen des Teilens und Anteilnehmens aufzubauen.
Kann man Zärtlichkeit lernen oder gar unterrichten? Kann es zu einem Schulfach werden, um den jungen Leuten etwas an die Hand zu geben, um soziales Empfinden zu lernen und eine neue, gemeinsame Welt zu schaffen?
Guanzini: Hier kommt die Frage ins Spiel, mit welchen Kriterien wir eine Epoche nicht nur hinsichtlich ihrer außerordentlichen Errungenschaften auf allen Gebieten bewerten können, sondern auch hinsichtlich ihrer Fähigkeit, eine echte menschliche Dimension des Zusammenlebens zu fördern und wertzuschätzen. Die jüngeren Generationen erleben hautnah die Kluft zwischen Zweckrationalität und symbolischer Verantwortung, die in dieser Rationalität so gut wie systematisch annulliert wird. Ich denke, dass es dringend eine „postromantische“ Erziehung der Sensibilität und der Gefühle braucht, um unsere jungen Generationen aus einer gewissen Versuchung von Resignation oder Zynismus herauszuholen. Das Vokabular des Gefühlsspektrums erwächst dank guter Gespräche, aber auch dank der Literatur, der Philosophie und der Filmsprache – d. h. der Bildung. Die Schule trägt natürlich eine enorme Verantwortung dafür. Sie müsste regelrechte Landkarten erstellen, mit deren Hilfe wir uns zumindest in der überbordenden und unbeherrschbaren Welt der möglichen Gefühle orientieren können. Neben dem Unterricht, der immer mehr auf kognitive Techniken wie Mind Maps setzt, muss eine Bildung gefördert werden, die Landkarten der Affekte entwirft, die der Gefühlswelt der aufwachsenden Generationen eine Orientierung geben und Triebe in Begehren verwandeln können.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Wenn uns die Zärtlichkeit streift, wird die Welt tatsächlich zu einem Ort, an dem wir leben können und sie wird endlich lesbar.“ Können Sie uns dazu konkrete Beispiele nennen?
Guanzini: In Momenten der Zärtlichkeit werden wir in unserer geteilten Fragilität wahrgenommen und ohne unsere alltäglichen Masken der Härte und der Kälte anerkannt. Wir können damit eine gegenseitige „Nacktheit der Seele“ und eine besondere abgerüstete Gelassenheit erleben, die eine „gute Müdigkeit“ – in der Sprache von Peter Handke – mit sich bringt. Zärtlich werden bedeutet, dass meine Ich-Ansprüche entkräftet werden und ich endlich in der Lage bin, die Präsenz des Anderen als Anderes einfach wahrzunehmen. Es klingt sehr elementar, und es ist auch so.
Aufgrund der aktuellen Ereignisse wird physische Distanz verordnet. Geht Zärtlichkeit dadurch verloren oder wird sie neu entdeckt?
Guanzini: Notwendigerweise verschärfen die Masken und jene automatischen kleinen Abweichungen, die uns fast unbewusst in unseren Spaziergängen von den Anderen entfernen, das Gefühl, dass unser Weltumgang anders geworden ist. Der Andere birgt die Gefahr einer potenziellen Ansteckung. Wenn aber das Profil unseres Gesichtes durch die Schutzmasken unscharf wird, intensiviert sich stattdessen die Sprachfähigkeit des Blickes. Wenn die Hände den Anderen nicht erreichen dürfen, können es allerdings die Augen, die zu einer Art „Knotenpunkt“ menschlicher Beziehungen geworden sind. Es ist vielleicht auch die Zeit gekommen, unsere „sozialen“ Masken wegzuwerfen und unsere geteilte Fragilität anzuerkennen.
Man könnte sich auch fragen, ob diese Zeit als eine besondere Gelegenheit genutzt werden kann, eine Nähe zu sich selbst und ein neues Selbstbewusstsein zu erleben, um die Wesentlichkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen wahrzunehmen. Hat nicht die auferlegte körperliche Distanz nicht zuletzt auch eine bisher unbekannte Sehnsucht nach den Anderen erweckt?
Zur Person
Isabella Guanzini, geboren 1973 in Cremona, ist Theologin und Hochschullehrerin für Fundamentaltheologie. Sie studierte Philosophie und Theologie in Mailand und promovierte in Fundamentaltheologie an der Universität Wien (2012) und in Philosophie (Humanistische Studien) in Mailand (2013). Seit September 2019 ist Isabella Guanzini Universitätsprofessorin für Fundamentaltheologie an der KU-Linz.