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Fragen zur Armut

Was ist Armut?
Armut bedeutet immer ein Mangel an Möglichkeiten. Wer von Armut betroffen ist, hat ein geringes Einkommen, schlechte Bildungschancen, ist häufiger krank und kann am gesellschaftlichen Leben nur eingeschränkt teilnehmen.
Gibt es in Südtirol überhaupt Armut?
Ja. Von Armut betroffen ist nicht nur, wer auf der Straße oder in Pappschachteln schläft. In den reichen Ländern Europas ist Armut oft erst auf den zweiten Blick sichtbar.
Gemeinsam ist allen Armutsbetroffenen weltweit der Mangel an Lebenschancen und Ressourcen. Dazu gehören Ernährung und Wohnraum genauso wie Bildung, Gesundheit, Freundschaften, Anerkennung und die Möglichkeit, den eigenen Lebensraum mitzugestalten.
Wer ist von Armut betroffen?
Armut kann jede und jeden treffen.
Wer erwerbslos, alleinerziehend oder zugewandert ist, oder einen schlecht bezahlten und unsicheren Job hat, ist besonders armutsgefährdet.
Warum sind Frauen - und vor allem Alleinerzieherinnen - stärker armutsgefährdet?
Der Sozialstaat ist stark mit dem Erwerbsarbeitsmarkt verbunden und er geht noch immer von einem Ernährermodell aus, in dem Männer für das Einkommen des Haushalts sorgen und Frauen „dazu verdienen“.
Gleichzeitig ist es nach wie vor so, dass Frauen wegen Sorgetätigkeiten sich nicht oder nur eingeschränkt am Erwerbsarbeitsmarkt beteiligen können.
Sind Armutsbetroffene nicht oft selber schuld an ihrer Situation? Und nutzen viele nicht einfach das Sozialsystem aus?
Sowohl Studien als auch Erfahrungen in der sozialen Arbeit belegen, dass es vor allem ungerechte Strukturen wie schlechte Arbeitsbedingungen und unvorhersehbare Wechselfälle des Lebens wie Krankheit, Jobverlust oder Scheidung sind, die zu Armut führen. Kaum jemand lebt freiwillig von Sozialleistungen.
QUELLE: armut.at

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Ausgrenzung und Einsamkeit

An Gemeinschaften arbeiten, die niemand zurücklassen
Jemand ist arm, wenn er nicht genug Mittel hat, um menschenwürdig leben zu können. Dieses „leben“ umfasst viele Aspekte des menschlichen Daseins: die materiellen Dinge, das physische und psychische Wohlbefinden, die Beziehungen, die Spiritualität und alles das, was einer vollen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit dient.
PAOLO VALENTE
Direktor der Caritas der Diözese Bozen-Brixen
Armut bekämpft man nicht, indem man einfach nur die Brieftasche öffnet. Wichtig ist es auch, die Ohren zum Zuhören aufzumachen, die Augen zur Beobachtung, das eigene Herz, um Menschen begleiten zu können. Jemandem etwas zu essen zu geben, bedeutet nicht einfach nur, Essen zu verteilen. Es hat vielmehr mit „teilen“ zu tun.
Viele Formen der Armut haben ihren Ursprung in etwas, das im Bereich der Beziehungen kaputt gegangen ist. Das beginnt schon in unseren Familien. Wenn dort etwas schiefläuft, hat das zur Folge, dass Mütter alleine sind, ebenso wie Väter und Kinder. Fehlt das familiäre Netz, kann das auch zu materieller Armut führen: finanzielle Knappheit solange die Kinder nicht für sich selbst sorgen können, Probleme mit der Wohnung, aber auch Bildungsarmut, die nicht nur Auswirkungen auf die Betroffenen hat, sondern auf die ganze Gesellschaft.
Heuer ist die materielle Armut aufgrund der schwierigen Monate, die hinter uns liegen, überall in Südtirol angestiegen. Die Caritas hat dies in ihren verschiedenen Diensten, besonders in den Beratungsstellen, beobachtet. Seit März etwa wurden mehr finanzielle Beihilfen an Hilfesuchende als sonst gewährt. Immer, wenn es zu einer Krise kommt, in diesem Fall noch dazu so unvorhergesehen, sind es die ohnehin schon Schwächeren, für welche die Situation noch auswegloser wird. Die häufigsten Gründe für eine zusätzliche Verschuldung waren schon im Jahr 2019 Arbeitslosigkeit, zu geringe Löhne, aber auch Krankheiten, Abhängigkeiten und der Bruch von familiären Beziehungen.
Und noch einmal ist es der Mangel an einem ausreichenden sozialen Netz, der Armut hervorruft. Schulden kann man zwar auch im Nachhinein begleichen, besser ist es aber, ihnen schon präventiv zuvorzukommen. Das bedeutet nicht nur die Menschen dahingehend zu erziehen, dass sie ihre eigenen Finanzen oder den eigenen Konsum besser verwalten, sondern die Beziehungen zwischen den Personen zu stärken und innerhalb der Gemeinschaften einen Sinn für Mitverantwortlichkeit zu entwickeln.
Ein Zeichen für eine nicht richtig funktionierende Gemeinschaft ist häufig die Tatsache, dass die Menschen keine Wohnung haben und sich schwertun, eine solche zu finden bzw. die Miete nicht bezahlen können, weil sie schlichtweg zu hoch ist. Dabei hat jeder das Recht auf ein Zuhause. Dieses gilt inzwischen auch als eine wichtige Voraussetzung für die persönliche Entwicklung eines Menschen. Dabei beschränkt sich ein Zuhause nicht nur auf einen Vertrag zwischen Mieter und Vermieter. Es setzt eine aufmerksame und einladende Gemeinschaft voraus.
Das Wohnungsproblem wird häufig sektoral angegangen. Dabei bräuchte es eine umfassendere Sicht auf die Stadt, die Nachbarschaft, den Menschen und ihre Beziehungen.
Der ungezügelte Individualismus, der unsere Gesellschaften in diesen Jahrzehnten charakterisiert, führt zu Ausgrenzung und Einsamkeit. Ausgrenzung ist die Haltung, Menschen, die wir nicht sehen wollen, „an den Rand“ zu drängen. Dies ist, was wir oft tun, wenn wir soziale Dienste in die Peripherie verlegen, wo niemand sie sieht. Es ist das, was Papst Franziskus eine „Kultur des Wegwerfens“ nennt.
Die Wurzel der Einsamkeit ist die Überzeugung, dass jeder sich selbst genügt, dass jemand meint, ohne andere leben zu können. Es ist ein falscher Glaube, der jeden Tag durch die Tatsachen widerlegt wird.
Ein wirksamer Weg zur Bekämpfung von Armut ist genau der: an der Entwicklung von Gemeinschaften arbeiten, in denen niemand allein gelassen und niemand zurückgelassen wird.
TEXT: Paolo Valente