KVW Soziales

Ein Aufstand des Gewissens

In der Demokratie gibt es keine Ausrede nichts zu tun:
Jean Ziegler, der bekannte Globalisierungskritiker und UN-Sonderbeobachter, kritisiert die neoliberale Theorie, die den Menschen entmündigt und als ohnmächtig hinstellt. Mit Hoffnung blickt Ziegler auf die Zivilgesellschaft; wenn diese erwacht und darum kämpft, die Welt zu verändern, wird eine bessere und gerechtere Gesellschaft entstehen. Er prangert die Ungleichheit auf der Welt an, die Kinder verhungern lässt, während die Reichen immer reicher werden.
Kompass: Veränderungen gehen in einem rasanten Tempo vor sich. Der Mensch kann kaum Schritt halten, abschalten lassen sich Veränderungen nicht.
Wie sehen Sie das? Ist der Mensch überfordert?
Jean Ziegler: Die Weltordnung, in der wir leben, ist absurd und mörderisch, das sagt Papst Franziskus. Er ist ein Geschenk der Vorsehung, da muss der Heilige Geist irgendwie tätig gewesen sein, dass so ein großartiger Mensch Papst wird, in einem so korrupten Vatikan. In seinem letzten Buch „Der Name des Gottes ist Barmherzigkeit“ antwortet er auf diese Frage. Die Weltordnung ist gezeichnet von totaler Ungleichheit, die sich immer verschärft, und von steigender Verelendung.
Zur Ungleichheit: ein Prozent der Weltbevölkerung hat so viele Vermögenswerte wie 99 Prozent der Weltbevölkerung. So steht es im Oxford-Bericht vom vergangenen Dezember. Die 85 reichsten Multimilliardäre haben Vermögenswerte äquivalent von 3,5 Milliarden Menschen auf dieser Welt, d.h. die Hälfte der Menschheit verfügt über so viel Güter wie die 85 Reichsten der Welt. Diese radikale Ungleichheit verschärft sich jeden Tag. In den letzten fünf Jahren haben die Ultrareichen (so eine Weltbank-Statistik), also die 1826 Milliardäre die es gibt, 44 Prozent mehr an Vermögen angehäuft. Das Einkommen der 3,5 Milliarden ärmsten Menschen auf der Welt ist um 41 Prozent zurückgegangen. Die Ungleichheit ist nicht nur immer steigend, sie ist negativ dynamisch.
Diese ganz schmale Oligarchie des globalisierten Finanzkapitals hat heute eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, nie ein König, nie ein Papst gehabt hat. Diese Macht ist total unkontrolliert, kein Staat kann sie kontrollieren, keine UNO, keine Gewerkschaft. Und sie funktioniert nach einem einzigen Prinzip: nicht nach ethischen Grundsätzen, sondern die Profitmaximierung. Die Folge davon ist die Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals und, wie der Papst sagt, unglaubliches Elend. Es gibt diese Aussage des Papstes, der da sagt, wir haben eine Kultur des Abfalls entwickelt. Es gibt jetzt hunderte Millionen von Menschen, die nicht ausgebeutet oder dominiert oder unterdrückt werden, sondern die sind Abfall, die sind ausgestoßen aus der Gesellschaft. Die gibt es nicht mehr als historische Subjekte. Das Wort Abfall, Abfallkultur, Menschen, die zu Abfall geworden sind, das sagt der Papst. Das ist eine ganz neue Situation: die Ungleichheit hat es immer gegeben, aber nicht in dieser unglaublichen Form.
Die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne (alle Sektoren zusammen) haben letztes Jahr 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert, also mehr als die Hälfte der auf der Welt produzierten Reichtümer. Das ist die Ungleichheit, und die Folge davon ist die unglaubliche Verelendung, die den Papst so beschäftigt.
Und alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, auf einem Planeten, von dem die UNO sagt, die Weltlandwirtschaft könne problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren. Wir sind jetzt 7,3 Milliarden, also fast das Doppelte könnte ernährt werden. Trotzdem verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Das Problem ist der Zugang zu Nahrung: wer kein Geld hat, keinen Zugang hat, der hungert und stirbt. Wer Geld hat, der kann gut leben, sich Boden kaufen ... Das ist die Situation heute.


Sie erklären, wie durch die Globalisierung unser Konsum in den westlichen Ländern mit der Armut in anderen Ländern und dem Flüchtlingsdrama zusammenhängt. Ihre Analysen zeigen die Zusammenhänge auf. Warum fällt es so schwer, die politischen Weichenstellungen und unser Konsumverhalten zu verändern?


Ziegler: Es geht um eine Strukturreform, die gemacht werden muss. Die mörderischen Strukturen müssen zerbrochen werden, bevor wir zum Ende des Konsums kommen. Menschen können nicht essen, weil die Nahrungsmittel zu teuer sind, zum Beispiel für die Frauen in den Favelas oder in den Slums. Die Mütter müssen die tägliche Nahrung für ihre Kinder kaufen, mit ganz wenig Geld, und der Reispreis explodiert. Dann können sie nicht genug kaufen und dann sterben die Kinder. Und die Preise auf die Grundnahrungsmittel – 85 Prozent des Weltkonsums werden durch Reis, Getreide und Mais abgedeckt – steigen ständig.
Einer der Hauptgründe ist die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Die ist total legal. Die großen Banken, die spekulieren auf Reis, machen astronomische Profite, der Reispreis steigt und die Kinder sterben.
Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie, Italien, Österreich, Deutschland, die Wirtschaftsmächte sind Demokratien. Zum Beispiel das Börsengesetz kann morgen geändert werden. Wenn die Menschen erwachen, nach der Verfassung, durch Wahlen, durch Streik, durch Demonstration usw. kann man unsere Parlamente zwingen, das Börsengesetz zu redigieren, die Spekulation auf Grundnahrungsmittel zu verbieten. Das können wir tun!



Warum passiert das nicht?


Ziegler: Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Bei Dostojewski sagt Iwan Karamasow „jeder ist verantwortlich für alles, vor allen“.
Wer also in einer Demokratie lebt, mit den verfassungsmäßigen Rechten, die wir haben, die ja unglaublich sind, hat keine Ausrede, nichts zu tun. Er kann alles tun, um die mörderischen Strukturen zu durchbrechen.


Den Katholischen Verband der Werktätigen (KVW) gibt es in Südtirol seit fast 70 Jahren. Unter anderem hat er sich um Ziel gesetzt, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Sie sagen, das Gefühl für soziale Gerechtigkeit ist verschüttet und verdeckt.


Ziegler: Wir haben ein entfremdetes Bewusstsein, das ist einer der großen Siege des Raubtierkapitalismus. Dass sie uns, von unserer eigenen Ohnmacht überzeugen. Sie sagen, die Geschichte wird bestimmt von Marktkräften, von Markt- und Sachzwängen. Der Mensch kann ja gar nichts tun. Das ist die neoliberale Theorie. Und das Kollektivbewusstsein ist entfremdet, ist selbst gelähmt. Es ist gelähmt von der selbst verschuldeten Unmündigkeit, weil es uns diesen Blödsinn der neoliberalen Wahnidee, von den degenerierten Kräften des Marktes glaubt, eintrichtert.
Wenn man genauer hinschaut ist jedes menschliche Bewusstsein ein Identitätsbewusstsein: wenn ein Hund einen geschlagenen Hund sieht, passiert nichts. Wenn ich ein Kind sehe, das verhungert, dann bin ich umgeworfen. Das Identitätsbewusstsein ist das eigentliche Bewusstsein konstitutiv für den Menschen. Immanuel Kant hat gesagt: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir“. Das ist die Grundstruktur. Deshalb ist es so wichtig, was Sie im Kompass machen, was wir tun können: Dieses entfremdete, überdeckte, zubetonierte Identitätsbewusstsein, freizuschaufeln.
Und wenn das einmal geschehen ist, dann stehen die Menschen auf und verändern die Welt. So ist das.



Der KVW wird sich im laufenden Jahr mit dem Thema „Südtirol wird bunter“ beschäftigen. Wir möchten die Bevölkerung hier sensibilisieren, denn wir sind mit einem völlig neuen Phänomen konfrontiert: es kommen Menschen zu uns, die wir nicht brauchen und die wir nicht gerufen haben.
Wo soll man ansetzen? Hier oder drüben? In der politischen Diskussion wird davon gesprochen, drüben zu helfen. Aber das „wie“ bleibt offen.


Ziegler: Also, Südtirol ist ja reich. Und bei Horkheimer steht, Reichtum ist unterlassene Hilfeleistung.
Ganz sicher muss etwas getan werden. Von den aktuell 7,3 Milliarden Menschen auf der Welt leben drei Milliarden nicht wie Menschen. Permanente Unterernährung, Armut, keine politische Freiheit, Korruption von dekadenten Staaten, die vom Elend aufgefressen werden, dort zu helfen, wie soll das funktionieren?
Mit konkreten Projekten für Frauen und Kindern, mit Waisenhäusern, usw. das ist gut, an sich, das ist gut.
Aber wenn Menschen hierher kommen, Flüchtlinge zum Beispiel, dann soll man die aufnehmen, natürlich. Und integrieren. Die gegenwärtige EU-Politik ist eine absolute Schande, ist ein Bruch des Völkerrechts. Italien ist gut, da ist der Menschenverstand noch in Aktion. Das Asylrecht, also das Recht, wenn man Kinder verliert im Bombenhagel, dort wo man wohnt, wegzugehen, über eine Grenze, um Schutz zu suchen, ist eine universelles Menschenrecht. Es gibt keine illegalen Migranten, Asylsuchende sind geplagte Menschen. Was uns von den Opfern trennt, das ist der Zufall der Geburt, und nichts anderes.



Wie kann man die Welt verändern?


Ziegler: Man kann den Menschen verändern. Wir sind ja nicht zufällig auf der Welt.
Geschichte hat einen Sinn, der Kampf hat einen Sinn. Es gibt keine Fatalität. Auch der Massenmord durch Hunger ist keine Fatalität. Der Hunger, zum Beispiel, ist von Menschen gemacht und kann von Menschen gebrochen werden. Mit den demokratischen Maßnahmen, von denen wir vorher geredet haben.
Ich glaube an die sanfte Macht der Vernunft. Die Sklaverei ist ein uraltes Übel, aber sie wurde letztlich weitgehend abgeschafft. Neue zivilgesellschaftliche Bewegungen entstehen. Die Zivilgesellschaft und die Widerstandsfronten nehmen zu, Beispiele sind Attac, Greenpeace, via campesina. Und da ist die Hoffnung plötzlich da, da gibt es einen Aufstand des Gewissens, die Sehnsucht nach Besserem. Es gibt einen demokratischen Aufstand, und es gibt in den Demokratien die Mittel, alle mörderischen Kausalitäten zu durchbrechen.



Zur Person
Jean Ziegler, geboren 1934 in Thun in der Schweiz, Sohn eines deutschsprachigen protestantischen Amtsrichters.
Soziologe, Politiker und Sachbuch- und Romanautor. Er gilt als einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Von 1967 bis zu seiner Abwahl 1983 und erneut von 1987 bis 1999 war er Genfer Abgeordneter im Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei.
Bis zu seiner Emeritierung im Mai 2002 war Ziegler Professor für Soziologie an der Universität Genf sowie ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris.
Ziegler war befreundet mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Er trat vom Protestantismus zum Katholizismus über und verwendet an Stelle der deutschen die französische Sprache.



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Mit Blick auf die Gesamtsituation

Text: Josef Stricker
Italien stimmt über Verfassungsreform ab



Josef Stricker
Josef Stricker


Referenden mit der Verkürzung komplexer Fragen auf ein Ja oder ein Nein tragen eher zur Spaltung als zum Zusammenhalt in der Gesellschaft bei. Die Abstimmung vom 4. Dezember ist so eine. Die Reform von 47 Artikeln der Verfassung wäre, sollte das Ja gewinnen, der wichtigste Eingriff in das Grundgesetz seit 1948. In den 68 Jahren seither gab es in Italien 63 Regierungen. Keine von ihnen war stabil genug, um die komplette fünfjährige Amtszeit zu überstehen. Nicht gerade ein Musterbeispiel von Stabilität. Punktgenau an der Schwachstelle möchte Ministerpräsident Renzi ansetzen. Der Politikbetrieb soll schlanker, billiger, schneller werden. Klingt verheißungsvoll. Bei so viel Euphorie müssen Zweifel aufkommen. Der Senat in seiner bisherigen Form wird abgeschafft, die Beziehungen zwischen Rom und den Regionen sollen neu geregelt werden.
Keine Frage, der Wind weht in Richtung Zentralismus. Mildernd sei hinzugefügt, dass der Einheitsstaat Italien seit der Gründung im Jahr 1870 ein zentralistisch ausgerichtetes Gebilde ist. Ein Staat, der - von den Regionen mit Sonderstatut abgesehen - keine föderale Tradition kennt. Nicht nur in Südtirol auch im restlichen Italien ist irrigerweise die Auffassung verbreitet, fast alles, was aus Rom kommt, ist schlecht. Stimmt nicht. Eine Reihe von Reformgesetzen aus sechs Jahrzehnten kann sich im internationalen Vergleich sehr wohl sehen lassen.
Nun zu Südtirol. Hierzulande tobt der Streit um die Frage, genügt die Schutzklausel zur Abwehr zentralistischer Tendenzen oder genügt sie nicht. Nach offizieller Leseart bietet sie wirksamen Schutz. Ich füge hinzu mit Einschränkungen. Die Verfassung gilt nun einmal für das ganze Staatsgebiet. Nicht bei Südtirol stehen bleiben, mehr die italienische Gesamtsituation ins Blickfeld nehmen, diese Einstellung dürfte die Entscheidung am 4. Dezember erleichtern.