Thema

Die große Wanderung

Text: Josef Stricker
KVW will sich mit Migration auseinandersetzen
„Immer war ein erheblicher Teil der Menschheit in Bewegung, auf der Wanderung oder auf der Flucht, aus den verschiedensten Gründen, auf gewaltförmige oder friedliche Weise – eine Zirkulation, die zu fortwährenden Turbulenzen führen muss“. (Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller)


I. Fremde auf der Suche nach besserem Leben


Auf der Internetseite der Abteilung Soziales bei der Südtiroler Landesregierung kann man lesen: „Südtirol wird vielfältiger. Zum 31. Dezember 2014 leben rund 46.000 Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Südtirol. Dies entspricht in etwa 8,7 Prozent der Wohnbevölkerung, wobei in etwa jeweils ein Drittel der ausländischen Mitbürger Staatsbürger eines anderen EU-Staates sind, ein Drittel Staatsbürger eines europäischen Staates, der nicht zur EU gehört, und ein weiteres Drittel die Staatsbürgerschaft eines außereuropäischen Staates besitzt. Personen aus 138 Ländern sind in den Meldeämtern der Südtiroler Gemeinden eingetragen.“


Arbeitskräfte waren Jahre lang Mangelware


Das waren noch Zeiten, als in Südtirol die Wirtschaft boomte, der Arbeitsmarkt leer gefegt war, der Ruf nach ausländischen Arbeitern immer lauter wurde. Es waren die goldenen 1980er und 1990er Jahre. Damals ist der weitaus größte Teil der ausländischen Mitbürger, die heute im Land leben, von hiesigen Gewerbetreibenden angeworben worden. Der Rest hat sich aus eigenem Antrieb auf Arbeitssuche gemacht und ist im Lande fündig geworden. Beide Gruppen von Ausländern waren im Südtirol jener Jahre infolge der rasanten Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft hochwillkommen. Der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft, im Gewerbe, im Tourismus konnte letztlich nur durch Einwanderung weitgehend behoben werden. Jobs, die von der einheimischen Bevölkerung niemand mehr übernehmen wollte, konnten besetzt werden. Gesundheitsdienste, Pflegeeinrichtungen, vereinzelt private Haushalte waren auf ausländische Ärzte, Krankenschwestern, Pflegepersonal, Reinigungskräfte usw. angewiesen.
Zuwanderung als gesellschaftliche Herausforderung


Im Wachstumsrausch jener Jahre ist ein Umstand übersehen worden, der uns Südtirolern heute schwer zu schaffen macht nämlich die Auswirkung von Zuwanderung auf die Gesellschaft. Politik und Wirtschaft haben Folgen für die hiesige Gesellschaft nicht gesehen oder, milder ausgedrückt, unterschätzt. Es ist genau das eingetreten, worauf der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schon in den 1950er Jahren bezogen auf die Zuwanderung in seinem Land hingewiesen hatte. Damals ließ der renommierte Schriftsteller mit dem Motto aufhorchen: „Arbeitskräfte haben wir gerufen, Menschen sind gekommen.“ Mit dem griffigen Satz hat Max Frisch auf die menschlichen, kulturellen, politischen Probleme von Einwanderung hingewiesen. Wie in einem Brennglas sah er die tiefe Zerrissenheit innerhalb der lokalen Bevölkerung auf die Schweiz zukommen. Ausgelöst durch die Tatsache, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, Sprache, Kultur Bedürfnisse haben, die weit über den engen Bereich der Arbeitswelt hinausgreifen. Sie brauchen Wohnraum, Bildung, sanitären Beistand, ganz wichtig die Pflege von Kontakten untereinander, mit der einheimischen Bevölkerung. Der Umgang mit Unterschieden muss austariert und geklärt werden. Eine Schlüsselaufgabe unserer Zeit.


Rettung von Flüchtlingen bei der Einwanderung über das Mittelmeer in die EU.Rettung von Flüchtlingen bei der Einwanderung über das Mittelmeer in die EU.

Integration beginnt im Kopf


Versuche, um zu einem Ausgleich der Gegensätze zu kommen, werden europaweit unter dem Begriff Integration zusammengefasst. Eigentlich müsste man von Inklusion sprechen. Worum geht es in der Sache? Die Ereignisse in mehreren Staaten der EU machen deutlich, dass es bei der Integration nicht nur um den Erwerb der Sprache geht. Zumindest eine der Sprachen des Landes zu lernen, in dem man lebt, ist zwingende Voraussetzung für die Gestaltung des Alltags und die Pflege von Kontakten. Integriert sein heißt aber auch, die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Bereiche und die damit verbundenen Regeln zu kennen und anzuerkennen. Damit Integration gelingen kann, braucht es jedoch mehr als nur gute Worte. Die Forderung nach gegenseitiger Toleranz und Wertschätzung ist wichtig, aber nicht ausreichend. Für ein echtes Miteinander sind politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen erforderlich, die das Zusammenleben fördern und unterstützen. Entscheidend ist letztlich auch die Bereitschaft der Migranten die politischen und rechtlichen Bedingungen im Lande anzuerkennen und mitzugestalten. So verstanden ist Integration die Schlüsselaufgabe unserer Zeit.


II. Fremde auf der Flucht vor Verfolgung


„Wo ist Gott? Wo ist Hoffnung? Wenn eine solche Frage in einem libanesischen Flüchtlingslager von einer alten Frau an den deutschen Außenminister gestellt wird, dann klingt darin mit: Hat uns die Welt vergessen? Was tut ihr, um uns zu helfen?“ (aus der Rede von Frank Walter Steinmeier auf dem evangelischen Kirchentag im Juni 2015)

Europa durchlebt eine Zeit der Umbrüche und Veränderungen, wie wir sie seit dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks 1989 nicht mehr gesehen haben. Bürgerkriege in Syrien, im Irak, in Libyen, in Eritrea, in Teilen von Nigeria treiben immer mehr Menschen zur Flucht. Die Hauptlast des Flüchtlingselends tragen die unmittelbaren Nachbarländer Jordanien, Türkei, Libanon, Äthiopien. Andere machen sich auf den nicht ungefährlichen Weg nach Europa. Die EU weiß nicht, wie sie mit Massenflucht umgehen soll. Das Recht auf Asyl ist in der Genfer Flüchtlingskonvention grundgelegt – unabhängig davon, wie viele Menschen schutzbedürftig sind.
Angst: ein schlechter Ratgeber


Wir Einheimische dürfen nicht zu Getriebenen unserer Ängste werden. Gewiss, Ängste müssen ernst genommen werden. Aber was heißt das? Angst kann nicht dadurch bekämpft werden, dass man Verständnis für Ansichten und Positionen äußert, für die es kein Verständnis geben kann. Hinter der Angst verbergen sich nicht selten rassistische Denkmuster, Feindbilder die tief verwurzelt sind. Häufig wird Religion instrumentalisiert, um Konflikte anzuheizen. Hier kann es keine Entschuldigung, kein Entgegenkommen geben.


Unsere Verantwortung als Christen


In einem gemeinsamen Wort für die 42. Interkulturelle Woche 2016 in Berlin schreiben die ranghöchsten Vertreter der katholischen, der evangelischen und der orthodoxen Kirche Deutschlands: „Das Christentum ist eine Religion, die ganz wesentlich aus den Flüchtlingserfahrungen des Alten Testamentes gewachsen ist. ‚Mein Vater war ein heimatloser Aramäer‘ - steht in Buch Deuteronomium (26,5). Im Buch Levitikus (19,33ff) steht: ‚Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid Fremde gewesen in Ägypten. Ich bin der Herr euer Gott‘. In der Sprache des Neuen Testaments gesprochen: Das Gebot, den Fremden zu lieben, ist für Christen die Erfüllung der Gottes- und Nächstenliebe“. Der Flüchtling ist unser Nächster, das mag in manchen Ohren lieb und fromm klingen. Ist es auch, allerdings mit dem feinen aber bedeutsamen Unterschied: Gottes- und Nächstenliebe sind ohne Konsequenzen nicht zu haben. Eine davon lautet: Fremdenhass ist mit der christlichen Botschaft unvereinbar.



KVW Aktuell

Der Konzertpianist

Aus der Sicht eines Flüchtlingskindes
Mit dem heurigen „Professor Claus Gatterer-Preis“ wird der 27 Jahre alte NEWS-Redakteur Yilmaz Gülüm, ausgezeichnet. Seine Rede in Bruneck anlässlich der Überreichung des Preises passt gut zum KVW Jahresthema „Südtirol wird bunter“. Yilmaz Gülüm hat trotz seiner Jugend eine besonders einfühlsame Sprache bei der Behandlung sensibler journalistischer Themen entwickelt, begründete die Jury ihre Entscheidung.

Yilmaz Gülüm wurde 1989 in Wien geboren. Nach der Matura studierte er an der Universität Wien Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Internationale Entwicklung und Politikwissenschaft. Gülüm ist seit 2009 journalistisch tätig, unter anderem für die Wiener Zeitung, Falter, APA, Puls4 und im Politikressort von NEWS.Yilmaz Gülüm wurde 1989 in Wien geboren. Nach der Matura studierte er an der Universität Wien Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Internationale Entwicklung und Politikwissenschaft. Gülüm ist seit 2009 journalistisch tätig, unter anderem für die Wiener Zeitung, Falter, APA, Puls4 und im Politikressort von NEWS.

Es gibt viele Menschen, bei denen ich mich heute bedanken möchte. Aber zu allererst, möchte ich mich bei meiner Familie bedanken. Denn wissen Sie, dass ich heute ausgezeichnet werde für sozial engagierten Journalismus, insbesondere auch für Artikel über Flüchtlinge, das ist schon etwas Besonderes. Denn ich bin selbst auch ein Flüchtlingskind.

Meine Eltern kamen nach ihrem Studium aber vor meiner Geburt als politische Flüchtlinge nach Österreich. Mein Bruder war damals noch ein Baby, wenige Monate alt. Schon in den ersten Tagen nach der Ankunft bekam er eine Lungenentzündung. Das muss man sich so vorstellen: Meine Eltern hatten praktisch kein Geld, kannten das Land nicht, die Sprache nicht, wussten nicht, wo das nächste Krankenhaus ist und selbst wenn: Woher hätten Sie wissen sollen, wie hier irgendetwas funktioniert? Sie hatten lediglich ein Baby im Arm, mit Fieber, das nicht aufgehört hat zu weinen. So war ihre Ankunft.
Ein Jahr später bin dann ich auf die Welt gekommen. Und fast 27 Jahre später sind meine Eltern heute hier. Und ich auch. Und dafür sage ich danke.
Als Journalist mit so einem komischen Namen wie meinem leidet man manchmal ein wenig darunter, dass man automatisch in das Integrations/Migrationseck gestellt wird und dadurch in den Hintergrund gerät, dass man auch andere Kompetenzen hat.
Aber natürlich hat mich unsere Familiengeschichte geprägt, auch beruflich. Wir reden heute bei Themen wie Armut oder Flucht sehr oft über Zahlen. Zahlen sind wichtig, keine Frage, aber hinter diesen Zahlen stehen Menschen und stehen Schicksale, und ich denke, das sollten wir uns immer vor Augen führen.

Fast 90.000 Aslywerber hat Österreich vergangenes Jahr aufgenommen, und die Wahrheit ist: Über die meisten von ihnen werden wir nie ein Wort erfahren. Wir erfahren in Medien zwar sehr oft etwas über Flüchtlinge, aber wir erfahren meistens nur Extremfälle. Das hat jetzt gar nicht so sehr etwas mit Flüchtlingen speziell zu tun, sondern viel mehr mit Medienlogik.
Denken Sie zum Beispiel an Berichte über Flugzeuge. Wenn wir alles, was wir über Flugzeuge wissen, ausschließlich aus den Medien wüssten, dann müssten wir davon ausgehen, dass praktisch jedes Flugzeug abstürzt, verschwindet oder abgeschossen wird. Weil Flugzeuge, die pünktlich abheben und sicher landen, über die berichtet man halt nicht.

Aber niemand von uns glaubt wirklich, dass fast jedes Flugzeug abstürzt, verschwindet oder abgeschossen wird. Und der Grund dafür ist, dass wir eigene, persönliche Erfahrungen mit Flugzeugen haben und daher wissen, dass wir in den Medien nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit zu sehen bekommen.
Wie ist das aber, wenn wir keine eigenen, persönlichen Erfahrungen haben, wenn zum Beispiel Boulevardmedien unsere einzigen Quellen sind und wir in diesen Medien nur Extremfälle sehen? Chimamanda Adichie, eine Schriftstellerin aus Nigeria nennt das eine Single Story: Wir hören über Afrika ausschließlich im Kontext von Armut, wir hören über Flüchtlinge ausschließlich im Kontext von Kriminalität und Gefahr, und wir hören über die Mindestsicherung und Sozialhilfeempfängern im Kontext von Sozialschmaraotzern. Und Chimamanda Adichie sagt, das Problem an diesen Single Stories ist nicht, dass sie per se falsch sind. Das Problem ist, dass sie zur einzigen Story werden. Das verzerrt die Sicht auf die Wirklichkeit und ist gerade im Hinblick auf Minderheiten ein großes Problem.

Es überrascht daher nicht, wenn die Abneigung gegen Flüchtlinge dort am größten ist, wo die wenigsten Flüchtlinge leben. Dort also, wo die Menschen die wenigsten direkten Erfahrungen machen und von Flüchtlingen nur die Extremfälle aus den Medien kennen. Oder noch schlimmer: Gerüchte aus den sozialen Netzwerken.
Sozial verantwortungsvoller Journalismus kann vieles sein. Ich denke aber, gerade bei Minderheiten kann es manchmal schon reichen, weniger über Extremfälle und mehr über das ganze normale Leben zu berichten. Ich bin froh und dankbar bei einem Medium zu arbeiten, dass solche Berichte nicht nur akzeptiert, sondern immer wieder einfordert.

Nach meiner Erfahrung gibt es unter Flüchtlingen alles, was es auch im Rest der Gesellschaft gibt. Es gibt die Anständigen, und es gibt die Unanständigen. Es gibt die, die schnell ihren Platz finden, und es gibt die, die sich schwer tun. Es gibt die, die in kürzester Zeit Deutsch lernen, weil sie sprachbegabt sind. Und es gibt die, die auch nach 20 Jahren noch Schwierigkeiten mit der Sprache haben werden, weil sie sich mit Fremdsprachen eben schwer tun.
Es wird Probleme geben, keine Frage. Viele sogar. Manche zeichnen sich schon ab, andere werden uns überraschen. Wir werden viel damit zutun haben, diese Probleme so früh es geht in den Griff zu bekommen oder präventiv tätig zu sein. All das wird es geben. Aber es wird auch die Flüchtlinge geben, die uns beeindrucken, uns inspirieren. Es wird auch diejenigen geben, von denen wir viel mehr lernen können, als sie von uns. Die meisten werden allerdings einfach nur versuchen, hier ein normales, anständiges und gutes Leben zu führen.

Als ich letzten Sommer in Traiskirchen war, habe ich einen afghanischen Jugendlichen gefragt, was er einmal werden möchte. Er hat geantwortet: Konzertpianist, wie sein Vater. In seiner Heimat würden Islamisten Musik verbieten und Musiker verfolgen, daher sei er nach Österreich geflohen. Da habe ich mir gedacht: Was wenn? Was wenn in 10 oder 20 Jahren Österreichs erfolgreichster Konzertpianist ein Flüchtling aus Afghanistan ist? Oder was wenn in zehn Jahren der Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft ein Flüchtling ist? Aber gut. Vielleicht ist das übertrieben, es muss ja nicht gleich die oberste Stufe sein. Aber vielleicht steht ja in ein paar Jahren wieder einmal ein Flüchtling hier, das wäre doch auch schon was. Vielen Dank.