Thema

Südtirol wird bunter

Text: Werner Steiner
KVW Jahresthema fürs Arbeitsjahr 2016/2017
Mit dem neuen Jahresthema möchte der KVW auf die anstehenden Veränderungen in der Gesellschaft hinweisen. Als KVW sind wir ein Zusammenschluss von Menschen, die sich in unserem Land für die Solidarität unter den Mitmenschen in christlicher Überzeugung einsetzen.



Wir bemühen wir uns in unserer Arbeit im KVW um die Verwirklichung der christlichen Soziallehre. Wir kennen die Begriffe, wir wissen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, dass unser Leben auf Gemeinschaft ausgelegt ist. Die Praxis zeigt aber, dass wir nicht immer gewillt sind, diese Gemeinschaft auch zu leben, das Prinzip des Gemeinwohles über den eigenen Individualismus zu stellen. Ich bin überzeugt, dass es gerade deshalb einen Verband wie den KVW auch weiterhin braucht und dass eine Mitgliedschaft in unserem Verband und die Präsenz in den Ortsgruppen wichtiger denn je sein werden. Unser Einsatz auf Orts-, Bezirks- und Landesebene ist auf Ehrenamtlichkeit aufgebaut und auch das ergibt eine bunte Gemeinschaft. Viele verschiedene Menschen mit verschiedenen Ideen setzen sich für die Solidarität ein. In diesem kommenden Arbeitsjahr wollen wir dabei den Schwerpunkt auf die Migration setzen und zusammen Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. Die Würde jedes Menschen ist jedoch unantastbar – das muss uns allen klar sein.


Flüchtlingsstrom nach Italien


Während wir vor einigen Monaten noch täglich in den Nachrichten von überfüllten Booten mit neuen Flüchtlingen aus Afrika hörten, scheint es heute bereits zur Normalität zu gehören. Täglich kommen wieder Hunderte an den Küsten Süditaliens an und wir nehmen das nicht mehr besonders zur Kenntnis. Eher möchte man meinen, der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer sei schon beendet. Dem ist aber nicht so, die Medien berichten nur nicht mehr so ausführlich darüber und schon sind wir wieder im Alltag unseres Landes angelangt. Als KVW ist es unsere Aufgabe, uns zu informieren und im Rahmen unserer Möglichkeiten Hilfen anzubieten. In erster Linie sind wir gefordert unsere Werte zu leben.


Das Leben ist nie einfach


Wer bereit ist, genauer hinzuschauen wird feststellen, dass wir in Südtirol immer stärker mit dem Thema der Migration konfrontiert werden. Menschen aus anderen Ländern kommen zu uns und wollen ihr Glück versuchen. Sie stellen dabei keine großen Ansprüche und auch ihre Erwartungen stimmen nachdenklich. Ein Flüchtling im Haus Lea in Wiesen/Sterzing meinte, das Leben ist niemals einfach. Man muss schauen wie es Tag für Tag weitergeht, denn auch er hätte sich als Kind niemals träumen können, einmal in einem völlig unbekannten Land allein dazustehen und nichts zu besitzen als sein Leben. Dieses am Leben sein ist sein größter Schatz, denn das war in seinem Heimatland nicht mehr sicher. In den letzten Jahren haben wir zudem feststellen können, dass wir es zunächst mit einer von uns gewollten Migration zu tun hatten. In verschiedenen Bereichen gab es zunehmenden Arbeitskräftemangel und wir waren froh, dass es Menschen gab, die diese Arbeiten bereitwillig übernahmen. Wir haben dies mehr oder weniger zur Kenntnis genommen. Noch heute gibt es sehr viele Pflegekräfte aus den Ostländern, denen wir die Pflege unserer älteren Mitmenschen bereitwillig anvertrauen. Viele dieser Migranten sind auch als willkommene Arbeitskräfte in anderen Sparten oft auch nur saisonsweise bei uns geblieben und stellten somit keine weiteren Ansprüche an uns.


Unsere Hilfe wird gebraucht


Nun gibt es aber eine völlig neue Form der Migration. Tausende von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten der Erde und Flüchtlinge aus Afrika kommen zu uns und vertrauen auf unsere Hilfe. Die neuen Medien sorgen dafür, dass Informationen leicht weitergegeben werden können und die Menschen in armen Gebieten von unserem Wohlstand Kenntnis haben. Auch die Klimaerwärmung trägt dazu bei, dass es große Hungersnöte gibt und Flucht die einzige Überlebenschance ist. Dieses Problem stellt uns vor völlig neue Herausforderungen. Diese Menschen kommen zu uns und haben keine Arbeit, dürfen gar nicht arbeiten, weil ihr politischer Status nicht geklärt ist und müssen versorgt werden. Die demografische Entwicklung Europas zeigt, dass wir auf Fachkräfte aus Drittstaaten angewiesen sein werden um überhaupt unseren Wohlstand halten zu können.


Mitverantwortung


Was bewegt aber so viele Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Bei Kriegsflüchtlingen ist es nicht schwer sich die Gründe vorzustellen. Bei anderen tun wir uns da schon schwerer. Dabei ist es hilfreich, sich die Situation in Afrika näher anzuschauen. Auch dort sind es grausame Bürgerkriege, Verfolgungen und Umweltkatastrophen, die die Menschen zur Flucht zwingen. Nicht selten sind sogar wir es, die diesen riesigen Notstand mitverschulden. Er ist eine Folge der ungerechten und repressiven Beziehungen zwischen Nord und Süd. Wir leben in einer vom Profit gesteuerten Wirtschaft und vermitteln das Bild einer reichen Gesellschaft. Es ist also nicht zu wundern, dass die Armen das Heil in einer Flucht in den Norden suchen. Hier gilt es in erster Linie anzusetzen: wir müssen bereit sein, unser Finanzsystem zu überdenken und eine Form finden in der das reicher Werden der Reichen und die zunehmende Verarmung der Armen nicht mehr akzeptiert wird. Es wird nicht genügen, dass einige wenige sich um die Integration von Flüchtlingen bemühen, es wird unser aller Aufgabe werden, unserer Aufgabe als Christen nachzukommen und uns aktiv für eine gerechte und lebenswerte Welt einzusetzen. Deutschland hat sehr viel Mut bewiesen und sich zunächst für die Eingliederung der vielen Flüchtlinge und Migranten eingesetzt. Europa als Ganzes aber nimmt für mich eine beschämende Haltung ein: 700 Millionen Europäer geraten wegen zwei bis drei Millionen Flüchtlingen in eine Krise. Zur angeblichen Sicherheit weiß man keine bessere Lösung als Zäune aufzustellen. Dabei wäre es sicher zielführender, die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern und den Menschen dort Perspektiven aufzuzeigen.


Zusammenleben unterstützen


Im Kontakt mit den Flüchtlingen und Migranten stelle ich fest, dass wir uns in einer Helferrolle befinden. Konkret denke ich an eine prägende Situation: ein Migrant bettelt mich um eine kleine Spende, die ich ihm auch gegeben habe. Wenige Meter weiter versucht es ein anderer genauso. Ich verweise, dass ich soeben schon etwas gegeben habe und nicht jedem etwas geben kann. Daraufhin seine Antwort: „Ich habe aber auch Hunger.“ Diese Antwort hat mich sehr betroffen gemacht, denn sie ist zweifellos richtig und berechtigt. Aus diesem Erlebnis schließe ich, dass wir uns um die Eingliederung dieser Menschen bemühen müssen. Wir müssen mit ihnen an einer gemeinsamen Zukunft arbeiten. Beide Seiten haben noch viel zu lernen: gegenseitiger Respekt, Kenntnis der Kultur des anderen, Bereitschaft, sich im neuen Kulturkreis einzugliedern, Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit über den Gesetzen der Familie oder der Scharia. Als KVW wollen wir diesen Weg des Zusammenlebens unterstützen und mit unseren Ortsgruppen Zeichen der Solidarität setzen.



Thema

Die große Wanderung

Text: Josef Stricker
KVW will sich mit Migration auseinandersetzen
„Immer war ein erheblicher Teil der Menschheit in Bewegung, auf der Wanderung oder auf der Flucht, aus den verschiedensten Gründen, auf gewaltförmige oder friedliche Weise – eine Zirkulation, die zu fortwährenden Turbulenzen führen muss“. (Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller)


I. Fremde auf der Suche nach besserem Leben


Auf der Internetseite der Abteilung Soziales bei der Südtiroler Landesregierung kann man lesen: „Südtirol wird vielfältiger. Zum 31. Dezember 2014 leben rund 46.000 Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Südtirol. Dies entspricht in etwa 8,7 Prozent der Wohnbevölkerung, wobei in etwa jeweils ein Drittel der ausländischen Mitbürger Staatsbürger eines anderen EU-Staates sind, ein Drittel Staatsbürger eines europäischen Staates, der nicht zur EU gehört, und ein weiteres Drittel die Staatsbürgerschaft eines außereuropäischen Staates besitzt. Personen aus 138 Ländern sind in den Meldeämtern der Südtiroler Gemeinden eingetragen.“


Arbeitskräfte waren Jahre lang Mangelware


Das waren noch Zeiten, als in Südtirol die Wirtschaft boomte, der Arbeitsmarkt leer gefegt war, der Ruf nach ausländischen Arbeitern immer lauter wurde. Es waren die goldenen 1980er und 1990er Jahre. Damals ist der weitaus größte Teil der ausländischen Mitbürger, die heute im Land leben, von hiesigen Gewerbetreibenden angeworben worden. Der Rest hat sich aus eigenem Antrieb auf Arbeitssuche gemacht und ist im Lande fündig geworden. Beide Gruppen von Ausländern waren im Südtirol jener Jahre infolge der rasanten Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft hochwillkommen. Der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft, im Gewerbe, im Tourismus konnte letztlich nur durch Einwanderung weitgehend behoben werden. Jobs, die von der einheimischen Bevölkerung niemand mehr übernehmen wollte, konnten besetzt werden. Gesundheitsdienste, Pflegeeinrichtungen, vereinzelt private Haushalte waren auf ausländische Ärzte, Krankenschwestern, Pflegepersonal, Reinigungskräfte usw. angewiesen.
Zuwanderung als gesellschaftliche Herausforderung


Im Wachstumsrausch jener Jahre ist ein Umstand übersehen worden, der uns Südtirolern heute schwer zu schaffen macht nämlich die Auswirkung von Zuwanderung auf die Gesellschaft. Politik und Wirtschaft haben Folgen für die hiesige Gesellschaft nicht gesehen oder, milder ausgedrückt, unterschätzt. Es ist genau das eingetreten, worauf der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schon in den 1950er Jahren bezogen auf die Zuwanderung in seinem Land hingewiesen hatte. Damals ließ der renommierte Schriftsteller mit dem Motto aufhorchen: „Arbeitskräfte haben wir gerufen, Menschen sind gekommen.“ Mit dem griffigen Satz hat Max Frisch auf die menschlichen, kulturellen, politischen Probleme von Einwanderung hingewiesen. Wie in einem Brennglas sah er die tiefe Zerrissenheit innerhalb der lokalen Bevölkerung auf die Schweiz zukommen. Ausgelöst durch die Tatsache, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, Sprache, Kultur Bedürfnisse haben, die weit über den engen Bereich der Arbeitswelt hinausgreifen. Sie brauchen Wohnraum, Bildung, sanitären Beistand, ganz wichtig die Pflege von Kontakten untereinander, mit der einheimischen Bevölkerung. Der Umgang mit Unterschieden muss austariert und geklärt werden. Eine Schlüsselaufgabe unserer Zeit.


Rettung von Flüchtlingen bei der Einwanderung über das Mittelmeer in die EU.Rettung von Flüchtlingen bei der Einwanderung über das Mittelmeer in die EU.

Integration beginnt im Kopf


Versuche, um zu einem Ausgleich der Gegensätze zu kommen, werden europaweit unter dem Begriff Integration zusammengefasst. Eigentlich müsste man von Inklusion sprechen. Worum geht es in der Sache? Die Ereignisse in mehreren Staaten der EU machen deutlich, dass es bei der Integration nicht nur um den Erwerb der Sprache geht. Zumindest eine der Sprachen des Landes zu lernen, in dem man lebt, ist zwingende Voraussetzung für die Gestaltung des Alltags und die Pflege von Kontakten. Integriert sein heißt aber auch, die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Bereiche und die damit verbundenen Regeln zu kennen und anzuerkennen. Damit Integration gelingen kann, braucht es jedoch mehr als nur gute Worte. Die Forderung nach gegenseitiger Toleranz und Wertschätzung ist wichtig, aber nicht ausreichend. Für ein echtes Miteinander sind politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen erforderlich, die das Zusammenleben fördern und unterstützen. Entscheidend ist letztlich auch die Bereitschaft der Migranten die politischen und rechtlichen Bedingungen im Lande anzuerkennen und mitzugestalten. So verstanden ist Integration die Schlüsselaufgabe unserer Zeit.


II. Fremde auf der Flucht vor Verfolgung


„Wo ist Gott? Wo ist Hoffnung? Wenn eine solche Frage in einem libanesischen Flüchtlingslager von einer alten Frau an den deutschen Außenminister gestellt wird, dann klingt darin mit: Hat uns die Welt vergessen? Was tut ihr, um uns zu helfen?“ (aus der Rede von Frank Walter Steinmeier auf dem evangelischen Kirchentag im Juni 2015)

Europa durchlebt eine Zeit der Umbrüche und Veränderungen, wie wir sie seit dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks 1989 nicht mehr gesehen haben. Bürgerkriege in Syrien, im Irak, in Libyen, in Eritrea, in Teilen von Nigeria treiben immer mehr Menschen zur Flucht. Die Hauptlast des Flüchtlingselends tragen die unmittelbaren Nachbarländer Jordanien, Türkei, Libanon, Äthiopien. Andere machen sich auf den nicht ungefährlichen Weg nach Europa. Die EU weiß nicht, wie sie mit Massenflucht umgehen soll. Das Recht auf Asyl ist in der Genfer Flüchtlingskonvention grundgelegt – unabhängig davon, wie viele Menschen schutzbedürftig sind.
Angst: ein schlechter Ratgeber


Wir Einheimische dürfen nicht zu Getriebenen unserer Ängste werden. Gewiss, Ängste müssen ernst genommen werden. Aber was heißt das? Angst kann nicht dadurch bekämpft werden, dass man Verständnis für Ansichten und Positionen äußert, für die es kein Verständnis geben kann. Hinter der Angst verbergen sich nicht selten rassistische Denkmuster, Feindbilder die tief verwurzelt sind. Häufig wird Religion instrumentalisiert, um Konflikte anzuheizen. Hier kann es keine Entschuldigung, kein Entgegenkommen geben.


Unsere Verantwortung als Christen


In einem gemeinsamen Wort für die 42. Interkulturelle Woche 2016 in Berlin schreiben die ranghöchsten Vertreter der katholischen, der evangelischen und der orthodoxen Kirche Deutschlands: „Das Christentum ist eine Religion, die ganz wesentlich aus den Flüchtlingserfahrungen des Alten Testamentes gewachsen ist. ‚Mein Vater war ein heimatloser Aramäer‘ - steht in Buch Deuteronomium (26,5). Im Buch Levitikus (19,33ff) steht: ‚Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid Fremde gewesen in Ägypten. Ich bin der Herr euer Gott‘. In der Sprache des Neuen Testaments gesprochen: Das Gebot, den Fremden zu lieben, ist für Christen die Erfüllung der Gottes- und Nächstenliebe“. Der Flüchtling ist unser Nächster, das mag in manchen Ohren lieb und fromm klingen. Ist es auch, allerdings mit dem feinen aber bedeutsamen Unterschied: Gottes- und Nächstenliebe sind ohne Konsequenzen nicht zu haben. Eine davon lautet: Fremdenhass ist mit der christlichen Botschaft unvereinbar.