Thema

Konstruktiv, kritisch gestalten

Wir im KVW und in der Gesellschaft
„Wir im KVW“ – „als Verband sind wir eine Bewegung von werktätigen Menschen, die sich um Verwirklichung der christlichen Soziallehre in Kirche und Gesellschaft, in Arbeit und Kapital bemüht“. So lautet der erste Satz unseres Leitbildes und wohl auch Grundmotivation unseres Einsatzes für den Verband.

Das Jahresthema animiert zu einer konstruktiven Mitarbeit an der Gesellschaft. Foto: Tobias Sellmaie / pixelio.de Das Jahresthema animiert zu einer konstruktiven Mitarbeit an der Gesellschaft. Foto: Tobias Sellmaie / pixelio.de

In der Arbeit in den verschiedensten Verbandsgremien müssen wir uns immer öfter die Frage stellen: „Wie kann unsere ehrenamtliche Arbeit in der Gesellschaft von heute gestaltet werden?“ Die Praxis zeigt eine Individualisierung auf allen Ebenen. Das hat zur Folge, dass der ehrenamtliche Einsatz im Abklingen ist und jeder für sich allein ein möglichst erfülltes Leben führen möchte. So erscheint es auf den ersten Blick nur logisch jenes Abklingen mit materiellem Ausgleich beantworten zu wollen. Wie könnte es sonst sein, dass bei der Mitgliedersammlung die Frage nach den materiellen Vorteilen einer Mitgliedschaft im Vordergrund steht. Allerdings ist es viel wichtiger nach innen zu schauen und nach dem inneren Wert des Ehrenamtes zu fragen. Sind wir bereit darüber nachzudenken wann unser Leben erfüllt ist, werden wir feststellen, dass die Antwort ganz ganz woanders zu finden ist. Dabei steht wohl die Beziehung zu mir selbst im Mittelpunkt. Bin ich mit mir selber zufrieden, bin ich auch mit meinem Leben zufrieden. Dann sind mir die Beziehungen zu anderen Menschen wichtig, der Umgang mit der Natur und oft wohl auch unsere Beziehungen schlechthin. Wenn wir über gesellschaftliche wichtige Themen sprechen so ist es wohl unerlässlich die Beziehung zu unserem Nächsten zu pflegen, aus einer inneren sozialen Haltung heraus; aus der Haltung der Nächstenliebe. Hier werden wir vermehrt ansetzen müssen, wenn wir den KVW in den Ortsgruppen weiter erhalten wollen. Der Einsatz im zwischenmenschlichen Bereich muss wieder „salonfähig“ werden.
Das Zwischenmenschliche leben

Wir alle kennen den beinahe als Entschuldigung vorgebrachten Satz bei den Gebietstagungen: „Wir haben als Ortsgruppe nicht viel gemacht, wir haben nur unsere älteren oder kranken Mitglieder besucht.“ Das zählt auch zu unseren sozialen Aufgaben und soll uns mit Stolz erfüllen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Zeit für den Mitmenschen aufgebracht wird, ohne dass eine konkrete Entlohnung dafür ansteht.
Wenn ich an die ersten Jahre unseres Verbandes denke, so haben die Gründer sich von einem sozialen Gedanken zum Wohl für die Mitmenschen leiten lassen und waren selbstlos bereit sich dafür einzusetzen. Die Mitglieder waren überzeugt, dass dieser Einsatz für den sozial Schwächeren notwendig ist und haben dem Verband durch ihre Mitgliedschaft die Treue gehalten. Das Resultat dieser Menschlichkeit kann man heute noch ablesen und zwar an den vielen Mitgliedern, die ein sichtbares Zeichen nach außen setzen. Das Menschliche, das Soziale ist uns ein Anliegen und kann sich heute noch sehen lassen. Tragen wir den Einsatz weiter und machen ihn mehr und mehr publik, können wir dem Sozialen noch mehr Kraft geben.
Ein großer Sozialverband

Schauen wir uns außerdem unseren Verband mit den Augen eines Außenstehenden an: er sieht einen großen Sozialverband mit vielen älteren Mitgliedern, die mehr oder weniger aktiv am Vereinsleben teilnehmen und einen großen Dienstleistungsbetrieb, der mit viel Sachkompetenz seine Aufgaben erfüllt. In den 260 Ortsgruppen werden die verschiedensten Aktivitäten angeboten, die Zielgruppe sind oft unsere Seniorinnen und Senioren. Im Bereich der Dienstleistungen sind wir sehr gut aufgestellt, dort arbeiten wir auf hohem Niveau und mit der Sachkompetenz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können auch entsprechende Gewinne erwirtschaftet werden. Nach einem Jahr der Konsolidierung sind wir nun im Bereich der Hauptamtlichkeit wieder gut aufgestellt und können zuversichtlich in die Zukunft blicken. Nun ist es aber auch an der Zeit im Bereich der Ehrenamtlichen nachzubessern.
Die sozialen Fragen vor Ort

Wir sind in den Ortsgruppen dazu aufgefordert, uns mit den sozialen Fragen vor Ort zu beschäftigen. Es geht um die Anliegen der Werktätigen und deren Familien. Der Schutz der Interessen unserer Mitglieder ist unsere Aufgabe. Die Einsatzgebiete dabei sind vielfältig: soziale, berufliche und allgemeine Bildung, die wir in enger Zusammenarbeit mit der KVW Bildung organisieren können, Fürsorgemaßnahmen, Einsatz um das Gemeinwohl und nicht zuletzt auch eine sinnvolle Freizeitgestaltung können unser Arbeitsjahr bestimmen. Vergessen wir nicht die Jahresversammlungen: auch sie bieten eine gute Möglichkeit, um die Mitglieder mit den Aufgaben und der Tätigkeit der Ortsgruppe vertraut zu machen.
Immer wieder stelle ich mir die Frage, die wir uns alle stellen müssen. Wie können wir uns verbessern? Was ist das Soziale, das Menschliche in uns? Möchten wir auch heute noch der Kitt der Gesellschaft sein, der alles zusammen hält? Dort wo sich Löcher auftun im Sozialen, wo können wir eingreifen, was können wir tun um Gesellschaft menschlicher zu machen? Das Jahresthema kann uns dazu Hinweise bieten und uns in unserer ehrenamtlichen Arbeit Weichen stellen. In der interessierten Mitgestaltung von Gesellschaft und der Umsetzung der sozialen Themen finden wir Sinn, Freude und Bereicherung. Es ist zunächst unser aller Aufgabe, durch unsere Initiativen gesellschaftspolitisch präsent zu sein. Die sich auftuenden sozialen Defizite in unseren Dörfern zu benennen und Initiativen hierzu zu formulieren. Diese Initiativen sind so zu setzen, dass junge und alte Menschen davon profitieren können und sich angesprochen fühlen. Da diese Initiativen auf verschiedensten Ebenen angesiedelt sind, nehmen wir Einfluss auf die öffentliche Meinung und zeigen unsere christlichen Handlungsprinzipien nach außen. Eine zentrale Frage, der wir uns immer wieder stellen müssen lautet: Wo stehen wir bei den großen Themen der Zeit? Haben wir den sozialen Themen in unserem Umfeld etwas hinzuzufügen? Unsere Aufgabe ist es, die gesellschaftspolitisch wirksamen Themen der Zeit dahingehend zu überprüfen, welche Bevölkerungsschichten dadurch Vorteile oder Nachteile haben. Die sozialen Auswirkungen müssen deutlich aufgezeigt werden, Ungerechtigkeiten sind zurückzuweisen und ausgleichende Maßnahmen sind vorzuschlagen. Orientierung dazu finden wir in der christlichen Soziallehre, besonders in der Solidarität und im Gemeinwohl. Ein sehr aktuelles Thema sind dabei die Flüchtlinge. Als Christen gäbe es gar keinen Zweifel daran, dass wir Menschen in Not aufnehmen müssen. Leider schaut es in der Praxis ganz anders aus. Es gibt viele nachvollziehbare Gründe: allerdings dürfen wir uns nicht dahinter verstecken.
Im Flüchtling den Mensch sehen

Es ist schon sehr deutlich, wenn Papst Franziskus sagt, dass ein nicht Helfen einer Straftat gleichkommt. Gerade für uns als KVW gäbe es in diesem Bereich viel zu tun. Flüchtlinge können nicht einfach in einem Gebäude untergebracht werden, sie müssen in unsere Gemeinschaft aufgenommen werden. Es geht dabei nicht um das Knüpfen von engen Freundschaften, nein, es reicht ihnen als Menschen zu begegnen. Es ist nicht leicht zuzusehen, dass Südtirol, aber auch das restliche Europa von regelrechten Völkerwanderungen überrannt wird. Allerdings sind die Schrecken in Afrika eine Tatsache die nicht weniger, ja mehr wird. Wir müssen uns damit der Tatsache stellen, dass unsere Gesellschaft in Zukunft noch bunter sein wird und Menschen anderer Hautfarbe in das normale Straßenbild gehören werden. Es wird nur dann einfacher, wenn wir den ersten Schritt auf die für uns noch Fremden zugehen, eine Bereitschaft entwickeln sie kennenzulernen. Diese Menschen haben den Tod und unendliche Strapazen in Kauf genommen, um hier ein Leben ohne Angst, Gewalt und Schrecken erfahren zu können. Vielleicht können wir uns Fragen beantworten, wie: Wie würde es uns gehen, wenn wir in einem Land mit täglicher Gewalt und Schrecken leben würden, bis wir es nicht mehr aushalten und wir alles auf eine Karte setzen, mit dem Risiko, dass wir dabei auch sterben, damit wir bzw. vielleicht unsere Kinder ein Leben in Würde leben können. Wären wir Flüchtlinge in einem fremden Land, was wäre die Hilfe, die wir uns erwarten würden? Was könnte der Staat tun, die Gesellschaft vor Ort und was könnte ein einzelner Mensch tun, das uns bereits enorm weiterhelfen könnte?
Verantwortung übers Gesamte

Papst Franziskus schreibt in seiner Sozialenzyklika, dass wir eine Verantwortung für unsere Umwelt haben. Dabei geht es nicht nur um die Flora und Fauna, es ist auch unser gesamtes soziales Umfeld zu betrachten. Wir selbst sind Teil des Gesamten und immer mitverantwortlich für unser Umfeld. Leben wir in der Bewusstheit, dass jede unsrer Handlungen diese Gesellschaft mitgestaltet, so erkennen wir auch, dass es wichtig ist, soziale Probleme zu sehen, aufgrund von Nächstenliebe zu urteilen und dann aktiv das Soziale mitzugestalten, damit wir auch morgen in einer gesunden Gesellschaft leben.

Werner SteinerWerner Steiner


Kommentar

Chancengleichheit 2.0

Plädoyer für ein nachhaltiges Miteinander
Integration hat für mich viel mit Geborgenheit zu tun. Der Einzelne sehnt sich nach Geborgenheit, während die Gesellschaft auf Integration und Zusammenhalt bedacht ist. Aber es gibt einen Unterschied.

Philipp FrenerPhilipp Frener

Geborgenheit ist nicht selbstverständlich; es basiert auf Gegenseitigkeit und deshalb wissen wir es zu schätzen. Mit Integration ist es dasselbe. Nur schätzen tun wir Integration oft nur halbherzig.
Vielleicht liegt es am Begriff selbst. Integration hängt zwangsläufig mit Ausgrenzung zusammen. Wo nicht ausgegrenzt wird, braucht es auch keine Integration. Uns fällt es oft schwer, einzugestehen, dass unsere Gesellschaft einige ihrer Mitglieder ausgrenzt und wir anderen manchmal jene Integration in die Gesellschaft verweigern, die wir für uns selbst beanspruchen.
Einheimische und Zweiheimische

Menschen mit Migrationshintergrund sind davon besonders betroffen. In vielerlei Hinsicht haben Menschen mit Migrationshintergrund – in der oew nennen wir sie Zweiheimische – dieselben Sorgen und Hoffnungen, Probleme und Träume, Schwierigkeiten und Erfolge wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Insofern könnte man dem ehemaligen CDU-Oberbürgermeister von Stuttgart, Wolfgang Schuster, beipflichten, als er meinte: „Jeder, der in Stuttgart lebt, ist ein Stuttgarter“.
Aber im Gegensatz zu ihren Mitbürger*innen, werden Zweiheimische viel zu oft ausgegrenzt (auch verbal durch Ressentiments) und übersehen. Wird man ausgegrenzt und übersehen, ist man kein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft; die eigenen Anliegen werden ignoriert.
Das muss nicht sein. Die Politik hat durchaus Möglichkeiten, diese Blockaden auf dem Weg der Integration ganz offen anzusprechen und zu verringern. Joachim Wolbergs, SPD-Oberbürgermeister von Regensburg, hat es 2014 vorgemacht: „Wir machen ernst mit Integration. Menschen mit Migrationshintergrund sind uns herzlich willkommen.“
Integration beginnt vor Ort

In vielen Südtiroler Gemeinden wurde inzwischen das Thema Integration zur Kompetenz erhoben und ein Ausschussmitglied damit betraut. Das ist ein klares Zeichen, dass das Thema Integration ernst genommen wird. Gleichzeitig erhielten Zweiheimische damit jene politischen Ansprechpersonen, die ihnen durch Unter- oder Nichtvertretung in den Gemeinderäten fehlen.
„Integration beginnt vor Ort“, schrieb Landesrat Philipp Achammer in einen Brief an Südtirols Bürgermeister*innen Anfang Juni. Damit hat er Recht. Gemeinden können wichtige Anstöße geben, die Zweiheimischen das Gefühl geben, dass sie sich in der Öffentlichkeit zeigen dürfen wie sie sind, ohne sich dafür schämen zu müssen oder dafür schief angeschaut zu werden. Dabei geht es vor allem um drei Arten von Maßnahmen: Momente der Begegnung, kreative Entfaltungsräume und Chancengleichheit.
Maßnahmen besonders für Frauen

Diese Maßnahmen sind vor allem an zwei Bevölkerungsgruppen zu richten: Frauen und Jugendliche. Wenn wir uns eingestehen, dass Zweiheimische vor großen Herausforderungen stehen, dann trifft dies auf Frauen mit Migrationshintergrund ganz besonders zu. In diesem Sinne könnte der Kampf um Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen auf den Kampf für Chancengleichheit zwischen Ein-, Zwei- und Mehrheimischen ausgeweitet werden. Name des Projekts: Chancengleichheit 2.0.
Dann gibt es noch die jungen Zweiheimischen und die zweite Generation, also Jugendliche, deren Eltern eingewandert sind. Diese jungen Menschen kennen oft nichts anderes als ein Leben in Südtirol, und dennoch scheint es mir oft, als ob wir uns mit diesen jungen Südtiroler*innen sehr, sehr schwer tun, ihnen einen positiven Blick auf ihre Zukunft in Südtirol zu vermitteln. Diese Generation braucht Zuspruch, Mut, aber in erster Linie in allen Lebensbereichen dieselben Chancen wie ihre Altersge-noss*innen.
Politik soll Gemeinschaft stiften

Gemeinden sind sich dabei nicht selbst überlassen. „Vor Ort“ sind auch einschlägige Organisationen, Einrichtungen und Migrant*innenvereine, die mit ihrem Knowhow für Projekte, die Schritte in Richtung Integration setzen, zur Verfügung stehen.
Es gehört zu den zentralen Aufgaben der Politik, Gemeinschaft zu stiften. Dabei kann die Politik zwischen Veränderung und Starre, zwischen Integration und Ausgrenzung entscheiden. Eine Gesellschaft, in der Ausgrenzung und Ignoranz praktiziert oder toleriert werden, stellt sich auf ein prekäres Fundament, das ihre Zukunftsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Ein klares Bekenntnis zur Integration hingegen ist Ausdruck von Nächstenliebe und Zivilcourage und ein klares Bekenntnis zu einem nachhaltigen Miteinander in unserer Gesellschaft – damit sich jede*r Einzelne geborgen fühlt.

Text: Philipp Frener

Philipp Frener ist Vorsitzender der Organisation für Eine solidarische Welt oew und Mitherausgeber von Zebra, der Straßenzeitung für Südtirol. Er ist Autor von „Wegweiser für neue Südtirolerinnen und Südtiroler“.