Thema

Südtirols soziale Zukunft

Wohin wollen wir gehen?
Hermann Atz hat auf der KVW Landesversammlung 2015 ein Referat zu den Befindlichkeiten in der Südtiroler Gesellschaft gehalten und Perspektiven aufgezeigt. Ausgehend von einer Einschätzung der gesellschaftlichen Situation in Südtirol hat Atz einige grundsätzliche Überlegungen zu den sozialen Herausforderungen der kommenden Jahre und der Rolle des KVW angestellt.

Die sogenannte Bevölkerungsyramide hat in den modernen, europäischen Ländern die Form einer Urne angenommen. Die stärkste Bevölkerungsgruppe sind nun die Menschen im mittleren Alter.Die sogenannte Bevölkerungsyramide hat in den modernen, europäischen Ländern die Form einer Urne angenommen. Die stärkste Bevölkerungsgruppe sind nun die Menschen im mittleren Alter.

Über das Soziale wird heute als ein bedrohter Bereich geredet. Das war nicht immer so. Erst gab es eine Phase des erfolgreichen Aufbaus und der Professionalisierung. Später drängten sich die Wirtschaft und der Fortschritt in den Mittelpunkt, es kam zu einer Marginalisierung des Sozialen.
Heute ist der Sozialstaat in Krise, es kommt zu einem Abbau der Dienste. Was folgt dann?
Der KVW verpflichtet sich in seinem Leitbild der christlichen Soziallehre. Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit, Verständigung und Gemeinschaft werde durch Verbandsarbeit und Dienstleistungen gelebt.
Deshalb erlebt der KVW viel Gegenwind: die Menschen wenden sich von Kirche und institutioneller christlicher Religion ab. Gleichzeitig hat die Arbeiterbewegung viel an Kraft verloren und das Ehrenamt geht zurück. Die sozialen Aufgaben werden jedoch mehr, und dies trotz abnehmender finanzieller Mittel.
Der KVW läuft Gefahr, nur mehr Rückzugsgefechte zu liefern.
Fünf Thesen zu Südtirols Gesellschaft
Es geht uns (sehr) gut
Südtirol geht es immer noch gut oder auch sehr gut. Das hängt ein bisschen von der Stellung und vom Blickpunkt ab. Es gibt öffentlichen und privaten Wohlstand, eine stabile Wirtschaft sowie auf einem hohen Niveau stagnierende öffentliche Haushalte. Die Grundbedürfnisse (Wohnen, Bildung, Gesundheitswesen) sind gedeckt, das Gesellschaftswesen funktioniert. Trotz einiger anderslautender Meldungen gibt es einen hohen Grad an Sicherheit.
Es ist das Gefühl der Bedrohung, das uns den Wohlstand nicht genießen lässt.
Jahre des steten Wachstums sind vorbei
Der Sozialstaat ist auf stetiges Wachstum gebaut. Es wurde Raubbau an der Natur betrieben, Verschuldung und Ressourcenverbrauch gingen zu Lasten der kommenden Generationen. Man könnte sagen: „Die Jahre der zunehmenden Verfettung sind nun vorbei“, Das nachlassende Wachstum bringt den Sozialstaat in Krise.
Die Südtiroler Bevölkerung hat sich an Beiträge nach dem Gießkannenprinzip und öffentlichen Prunk gewöhnt.
Vertrauenskrise in Politik
Das Gefühl „bei uns ist alles perfekt“ ist ins Wanken gekommen. Die Autoritätsgläubigkeit hat sich überlebt, Mitbestimmung muss jedoch erst erlernt werden. Die sogenannten Wutbürger sind ein Ausdruck dafür. Die Politik wird für die persönliche Verunsicherung und für die Angst vor Deklassierung verantwortlich gemacht. Da reichten nicht ein Generationenwechsel bei den Politikern und auch nicht ein neuer Polit-Stil.
Europäische Normalität
Südtirol ist nicht mehr die Insel der Seligen, das bei den Rankings immer an erster Stelle steht. Südtirol war lange nur mit sich selbst beschäftigt, hat wenig von den nationalen, europäischen und globalen Veränderungen mitbekommen. Der Verlust der Sonderstellung wird als eine Kränkung empfunden.
Südtirol ist Zuwanderungsland
Südtirol hat noch nicht richtig erkannt, dass es ein Zuwanderungsland ist. Migration ist eine Realität, zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und fast 20 Prozent der Jugendlichen haben Migrationshintergrund. Zuwanderung wird als unvermeidlich wahrgenommen, jedoch nicht als Chance gesehen. Diese „vierte Sprachgruppe“ (die hundert verschiedene Sprachen spricht) stört das empfindliche, ethnische Gleichgewicht.
Moderne Gesellschaften
Objektiver und struktureller Wandel
Die Globalisierung bringt weltweite Konkurrenz, Arbeit wird in Billiglohnländer ausgelagert. Typisch für moderne Gesellschaften sind der demografische Wandel mit einer Alterung der (einheimischen) Gesellschaft, die Gleichstellung der Frauen, kleine Haushalte und räumlich zerstreut lebende Familien. Traditionelle örtliche Gemeinschaften zerfallen, es gibt nicht mehr das sogenannte „Dorf- und Vereinsleben“, Orte werden zu reinen Schlafstädten. Der Wohlfahrtsstaat wird rückgebaut, es kommt zu einer Renaissance des Neoliberalismus. Deshalb nimmt die soziale Ungleichheit zu und die Verteilungskämpfe werden härter.
In modernen Gesellschaften lässt sich ein Strukturwandel in der Arbeitswelt beobachten: Berufe verschwinden, eine hohe berufliche Mobilität wird erwartet, der Arbeitsrhythmus ist sehr hoch, Stress und Qualifizierungsdruck kommen dazu. Lebenslanges Lernen wird zu einem Muss. Das Renteneintrittsalter wird immer höher, die Lebensarbeitszeit länger. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es relativ sichere qualifizierte Arbeitsplätze und dem stehen prekäre Arbeitsverhältnisse gegenüber. Unter den Jugendlichen gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit, ebenso sind Arbeitslose 50+ schwer zu vermitteln.
Subjektiver und individueller Wandel
Spaß, individueller Nutzen und Selbstverwirklichung stehen in der Werteskala vieler Menschen ganz oben. Ebenso die Arbeit: Beruf und Karriere sind zentraler Lebensbereich, es geht um die Work-Live-Balance (Gleichgewicht zwischen Leben und Arbeit).
Allgemein kann man sagen, dass der Individualismus steigt, es findet eine Entsolidarisierung, eine Zersplitterung in kleine, soziale Gruppen statt. Eine Scheu vor langfristigen Bindungen lässt sich beobachten.
Öffentlicher und medialer Wandel
Internet und soziale Medien ergänzen und verdrängen Printmedien und Fernsehen/Radio. Bei der Mediennutzung tut sich eine deutliche Generationenkluft auf. Populismus und Empörungsdemokratie sind im Aufwind.
Zukunft des Sozialen

Der soziale Ausgleich soll als positiver Standortfaktor gesehen werden: es gibt weniger Konflikte, mehr Sicherheit, weniger Kosten für Kriminalitätsbekämpfung, höhere Lebensqualität und eine geringere Belastung des sozialen Netzes.
Es wäre eine Chance für das Soziale, wenn soziale Gerechtigkeit von wirtschaftlichem Wachstum entkoppelt wird. Bisher hat der Sozialstaat leider auf stetes Wachstum gesetzt. Es bringt auch nichts, Arbeitsplätze zu schaffen. Empirie spricht dagegen, dass immer mehr möglich ist.
Glücklich ist, wem es ein bisschen besser geht als der Vergleichsgruppe neben ihm.
Arm fühlt sich, wer sich nicht das leisten kann was Leute um ihn herum sich leisten können. Glück und Armut werden also relativ erlebt, sie lassen sich nur im Vergleich mit anderen definieren.
Statt dem Streben nach immer mehr, braucht es eine bessere Verteilung; zum Beispiel eine gerechtere Verteilung der Arbeit zwischen den Generationen, eine Angleichung von Erwerbsarbeit und Freiwilligentätigkeit, ein Grundeinkommen, ein Recht auf Wohnen (statt auf Wohneigentum).
Entbürokratisierung
Ein gutes Beispiel für eine Entbürokratisierung des Sozialen ist die Pflegesicherung. Hier muss nicht um jede Leistung einzeln angesucht werden.
Es braucht eine Rückbesinnung auf Subsidiarität und Eigeninitiative sowie eine Öffnung der Gesellschaft über soziale Initiativen. Es darf keine Diskriminierung der neuen Mitbürger geben.
Soziale Innovation
Soziale Innovation ist das Gebot der Stunde, wird notwendig. Pflegende Angehörige werden weniger, es braucht kostengünstigere Modelle zu Betreuungseinrichtungen. Beispiele könnte sein: Wohngemeinschaften, Alte betreuen Alte, Mehrgenerationen-Häuser.
Demografischer Wandel
Die Babyboomer-Generation ist heute um die 50 Jahre alt, in 20 Jahren sind sie im Rentenalter, in 30 bis 40 Jahren sind sie hochbetagt. Die Probleme, die sich dann ergeben, sind vorhersehbar, die Ressourcen für eine Lösung nicht. Es droht eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen und es ist sich die Frage zu stellen, wie viele Jahre in Rente finanzierbar sind.


Text: Zusammenfassung des Referats von Hermann Atz
Hermann Atz ist wissenschaftlicher Leiter und geschäftsführender Gesellschafter des Instituts „apollis – Sozialforschung und Demoskopie“ in Bozen.

Kommentar

Synode im Endspurt

Aufbruch oder Flop?
Die katholische Kirche in unserem Land ist wie auch anderswo seit längerem in Schwierigkeiten. Zwar gibt es viele Pfarrgemeinden, in denen der Glaube lebendig gehalten wird und in denen sich viele für ein lebendiges Gemeindeleben engagieren. Die Gotteshäuser werden aber fast überall zunehmend leerer, die Zahl der aktiven Priester nimmt rapide ab.

Heinz Zanon, SynodaleHeinz Zanon, Synodale

Angesichts der Brisanz hat Bischof Ivo Muser im Jahr 2013 eine Diöze­sansynode einberufen. Es war wohl sein Anliegen, damit möglichst viele Gläubige in die Suche nach Auswegen aus dem Abwärtstrend einzubinden und dadurch unserer Ortkirche neue Schubkraft zu verschaffen.
Darauf lässt nicht zuletzt schließen, dass Bischof Muser von Beginn an ausdrücklich erklärt hat, auch Diskussionen der Synode über heikle (weil nur auf gesamtkirchlicher Ebene zu entscheidende) Probleme zulassen zu wollen und zu erwarten.
Durch effiziente Medienarbeit und durch eine Vielzahl offener Veranstaltungen konnten schließlich landesweit Tausende Kirchenmitglieder in die Sichtung der zu bearbeitenden Themen und in die Überlegungen der Synode einbezogen werden.
Dies alles ließ eine durchaus erwünschte Erwartungshaltung entstehen.
Jetzt, nach bald eineinhalb Jahren, nähert sich die Diözesansynode ihrem Ende: sie soll am 8.12.2015 zum Abschluss kommen. Und verständlicherweise warten nunmehr viele auf die Ergebnisse der gemeinsamen Anstrengungen.
Wie werden diese beschaffen sein?
Die bisherige Ausbeute der Synode besteht in sogenannten „Visionspapieren“, in welchen die zwölf Unterkommissionen in einem ersten Arbeitsdurchgang unter Bezugnahme auf die verschiedensten Bereiche (beispielsweise in Fragen der Liturgie, der Katechese, der Spendung der Sakramente, der Organisation) Wünsche für zukünftige Entwicklungen in unserer Diözese zu formulieren hatten. Die meisten dieser „Visionspapiere“ wurden mittlerweile auch im Plenum diskutiert und verabschiedet.
Eine kritische Prüfung dieser Papiere ergibt allerdings, dass viele von ihnen sehr allgemein gehaltene oder wenig realistische Wunschvorstellungen enthalten oder den zu bearbeitenden Sachbereich nur lückenhaft abdecken.
In der jetzt angelaufenen Endphase der Synode soll es darum gehen, die zusammengetragenen Wünsche durch Vorschläge für konkret zu ergreifende Maßnahmen umzusetzen.
Die Herausforderung, der sich die Unterkommissionen in den nächsten Monaten zu stellen haben, wird es sein, auf der Grundlage der „Visionspapiere“ Vorschläge zu erarbeiten, welche in den kommenden Jahren dem Glaubensleben und der Seelsorge in unserer Diözese neue Kraft verschaffen können.
Neuausrichtung als Ziel
Bei der Bewältigung dieser Aufgabe sollte sich die Synode nicht verzetteln, sondern möglichst nur über die wesentlichen und für das zukünftige Gedeihen der Kirche in unserem Land vordinglichsten Anliegen einer Neuausrichtung eingehender beraten, beispielsweise über die Voraussetzungen für das zukünftige Funktionieren kleiner kirchlicher Gemeinschaften ohne häufige Präsenz eines Priesters, über den Inhalt und den Umfang des Dienstes, der von den wenigen noch tätigen Priestern erwartet werden kann und soll, über die zukünftige zentrale Bedeutung und Gestaltung von sonntäglichen Wort-Gottes-Feiern, über den Aufbau eines Netzes von hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeitern, über die Schaffung einer dazu nötigen Basis der Finanzierung, über Voraussetzungen und Formen einer Einflussnahme unserer Ortskirche auf Entscheidungen der Zivilgesellschaft in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten.
Sollte dies nicht gelingen, würde die Synode nutzlos Zeit und Papier verschwendet haben.
Als jedenfalls bereits weitgehend und ergebnisorientiert abgeschlossen dürfen allerdings die Beratungen über die durch Rom zu entscheidenden heiklen Themen angesehen werden (namentlich jene zu Fragen nach der Zulassung von Frauen und von Verheirateten zu den kirchlichen Weiheämtern, über die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten, über die Spendung des Sakramentes der Krankensalbung auch durch Laien). In allen bezeichneten Angelegenheiten hat die Synode nämlich bereits am 31.1.2015 nach eingehender Diskussion in der Form der Erhebung eines „Stimmungsbildes“ mit jeweils deutlichen Mehrheiten und mit Nachdruck den Wunsch nach einer Aufgabe der bisherigen traditionellen Lehre und restriktiven kirchlichen Praxis zum Ausdruck gebracht.
Zwar steht die Verabschiedung eines förmlichen Dokuments zu den bezeichneten Fragen (also des „Visionspapiers“ der Unterkommission 12) noch aus und ist derzeit unklar, ob und in welcher Form Bischof Muser eine Verabschiedung des Papiers zulassen können wird, doch wird an der Entschiedenheit und Unzweideutigkeit der in der Synode zustandegekommenen Willensäußerung wohl nicht mehr gerüttelt werden können.

Text: Heinz Zanon