Thema

Neue Wege einschlagen

Herausforderungen und Perspektiven für den Sozialverband KVW
Der KVW spürt die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen. Er wird sich dem anpassen, sich ändern und neu ausrichten müssen. Der KVW muss neue Wege zur Stärkung der Solidarität und zu mehr sozialer Gerechtigkeit einschlagen.

Der KVW Vorstand wird in den nächsten Jahren neue Wege einschlagen müssen. Der KVW Vorstand wird in den nächsten Jahren neue Wege einschlagen müssen.

Als Sozialverband spürt der KVW die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen stark. Vieles, was bisher gegolten hat, hat an Bedeutung verloren.
Ziel des KVW muss es sein, nicht den Status quo zu verteidigen, sondern neue Wege zur Stärkung von Solidarität und zu mehr sozialer Gerechtigkeit einzuschlagen.
Der KVW braucht eine Schärfung des Profils, es muss noch klarer werden, wofür der Katholische Verband der Werktätigen steht. Die Grundwerte sollen stärker betont werden, der Kern der Tätigkeit klar herausstechen.
Engagement gegen Wachstumsgläubigkeit

Um das auch den Mitgliedern zu verdeutlichen hat der KVW Vorstand zur Landesversammlung vom 11. April 2015 den bekannten Südtiroler Sozialforscher Hermann Atz zu einem Referat eingeladen. Hermann Atz empfiehlt ein gesellschaftlich-politisches Engagement gegen die Wachstumsgläubigkeit. Das „immer mehr“ gibt es nicht mehr, stetes Wachstum geht auf Kosten der kommenden Generationen. Der Sozialstaat muss vom Wirtschaftswachstum entkoppelt werden.
In Südtirol hat das Vertrauen in die Politik stark abgenommen. Es braucht neue Formen der Beteiligung, diese sind zu vermitteln und zu erproben, um die Lust und Freude an der Politik wieder zu erwecken.
Die Gemeindewahlen der vergangenen Wochen haben gezeigt wie es um unser Politikbewusstsein steht. Durch den Kontakt mit den Kandidatinnen und Kandidaten in der Vorwahlzeit sind Versprechungen und Bindungen eingegangen worden. Jetzt liegt es an uns in den Ortsgruppen die weitere Entwicklung aufmerksam mitzuverfolgen und im Sinne unserer Grundeinstellung zusammenzuarbeiten. Die soziale Einstellung der Politik zeigt sich nicht in Sonntagsreden, sondern im täglichen Einsatz für das Gemeinwohl.
Schärfung des Profils und Betonung der Grundwerte

Eine wichtige Aufgabe, die uns als Verband bevorsteht, ist die Konzentration auf unser Leitbild. Wir sind gefordert unsere Tätigkeiten zu entrümpeln und uns wieder auf unsere zentrale Leit-Idee zu fokussieren. Unser Einsatz für gerechte Lebensbedingungen, für sozialen Frieden und die Bewahrung der Schöpfung muss konkreter werden. Unser geistlicher Assistent Josef Stricker hat schon mehrmals darauf hingewiesen, dass diese Aufgabe ansteht und dass der Weg dazu steinig wird. Interessant ist auch sein Hinweis, dass im Jahre 1999 der Sozialethiker Herwig Büchele auf einer Landesversammlung sagte: „Eine gerechtere, freiere und humanere Gesellschaft kann nicht durch Appelle allein durchgesetzt werden“. Büchele erklärte, dass der KVW den gewaltfreien Konflikt mit jenen Kräften zuspitzen müsse, die ihren Reichtum vergrößern wollen. Zum Mitbauen an einer solidarischeren Gesellschaft brauche es einen produktiven Prozess der Auseinandersetzung und der Konfrontation.
Weiters sind wir gefordert unseren Horizont zu erweitern und Solidarität auch im globalen Maßstab zu denken. Im Sinne der christlichen Soziallehre ist der Mensch ein auf Gemeinschaft angelegtes Wesen, wir sind also schon von Natur aus sozial ausgerichtet. Das bedeutet, dass wir zur Solidarität fähig sind aber auch für unsere eigene Verwirklichung Solidarität brauchen.
Solidarität im globalen Maßstab

Vor allem Migranten gegenüber sind wir hier stark gefordert. Wir bemühen uns, Wohnraum zur Verfügung zu stellen, Grundbedürfnisse abzudecken – vergessen wir dabei aber nicht die echte Solidarität, den zwischenmenschlichen Kontakt. Nur wenn wir es verstehen in gegenseitiger Verantwortung der Flüchtlingsproblematik zu begegnen kommen wir dem Kern des Solidaritätsgedankens näher. Oft bleiben wir in einer Solidarität mit Gleichgesinnten hängen. Biblisch und christlich ist aber die Solidarität Einsatz für die Schwächeren, die in Not sind und Hilfe brauchen. Ein völlig neues Betätigungsfeld für den KVW würde sich öffnen: Verstärkung der Angebote für neue Zielgruppen wie etwa: Arbeitslose, Menschen mit prekären Arbeitsverhältnissen, Migranten.

Text: Werner Steiner

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Südtirols soziale Zukunft

Wohin wollen wir gehen?
Hermann Atz hat auf der KVW Landesversammlung 2015 ein Referat zu den Befindlichkeiten in der Südtiroler Gesellschaft gehalten und Perspektiven aufgezeigt. Ausgehend von einer Einschätzung der gesellschaftlichen Situation in Südtirol hat Atz einige grundsätzliche Überlegungen zu den sozialen Herausforderungen der kommenden Jahre und der Rolle des KVW angestellt.

Die sogenannte Bevölkerungsyramide hat in den modernen, europäischen Ländern die Form einer Urne angenommen. Die stärkste Bevölkerungsgruppe sind nun die Menschen im mittleren Alter.Die sogenannte Bevölkerungsyramide hat in den modernen, europäischen Ländern die Form einer Urne angenommen. Die stärkste Bevölkerungsgruppe sind nun die Menschen im mittleren Alter.

Über das Soziale wird heute als ein bedrohter Bereich geredet. Das war nicht immer so. Erst gab es eine Phase des erfolgreichen Aufbaus und der Professionalisierung. Später drängten sich die Wirtschaft und der Fortschritt in den Mittelpunkt, es kam zu einer Marginalisierung des Sozialen.
Heute ist der Sozialstaat in Krise, es kommt zu einem Abbau der Dienste. Was folgt dann?
Der KVW verpflichtet sich in seinem Leitbild der christlichen Soziallehre. Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit, Verständigung und Gemeinschaft werde durch Verbandsarbeit und Dienstleistungen gelebt.
Deshalb erlebt der KVW viel Gegenwind: die Menschen wenden sich von Kirche und institutioneller christlicher Religion ab. Gleichzeitig hat die Arbeiterbewegung viel an Kraft verloren und das Ehrenamt geht zurück. Die sozialen Aufgaben werden jedoch mehr, und dies trotz abnehmender finanzieller Mittel.
Der KVW läuft Gefahr, nur mehr Rückzugsgefechte zu liefern.
Fünf Thesen zu Südtirols Gesellschaft
Es geht uns (sehr) gut
Südtirol geht es immer noch gut oder auch sehr gut. Das hängt ein bisschen von der Stellung und vom Blickpunkt ab. Es gibt öffentlichen und privaten Wohlstand, eine stabile Wirtschaft sowie auf einem hohen Niveau stagnierende öffentliche Haushalte. Die Grundbedürfnisse (Wohnen, Bildung, Gesundheitswesen) sind gedeckt, das Gesellschaftswesen funktioniert. Trotz einiger anderslautender Meldungen gibt es einen hohen Grad an Sicherheit.
Es ist das Gefühl der Bedrohung, das uns den Wohlstand nicht genießen lässt.
Jahre des steten Wachstums sind vorbei
Der Sozialstaat ist auf stetiges Wachstum gebaut. Es wurde Raubbau an der Natur betrieben, Verschuldung und Ressourcenverbrauch gingen zu Lasten der kommenden Generationen. Man könnte sagen: „Die Jahre der zunehmenden Verfettung sind nun vorbei“, Das nachlassende Wachstum bringt den Sozialstaat in Krise.
Die Südtiroler Bevölkerung hat sich an Beiträge nach dem Gießkannenprinzip und öffentlichen Prunk gewöhnt.
Vertrauenskrise in Politik
Das Gefühl „bei uns ist alles perfekt“ ist ins Wanken gekommen. Die Autoritätsgläubigkeit hat sich überlebt, Mitbestimmung muss jedoch erst erlernt werden. Die sogenannten Wutbürger sind ein Ausdruck dafür. Die Politik wird für die persönliche Verunsicherung und für die Angst vor Deklassierung verantwortlich gemacht. Da reichten nicht ein Generationenwechsel bei den Politikern und auch nicht ein neuer Polit-Stil.
Europäische Normalität
Südtirol ist nicht mehr die Insel der Seligen, das bei den Rankings immer an erster Stelle steht. Südtirol war lange nur mit sich selbst beschäftigt, hat wenig von den nationalen, europäischen und globalen Veränderungen mitbekommen. Der Verlust der Sonderstellung wird als eine Kränkung empfunden.
Südtirol ist Zuwanderungsland
Südtirol hat noch nicht richtig erkannt, dass es ein Zuwanderungsland ist. Migration ist eine Realität, zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und fast 20 Prozent der Jugendlichen haben Migrationshintergrund. Zuwanderung wird als unvermeidlich wahrgenommen, jedoch nicht als Chance gesehen. Diese „vierte Sprachgruppe“ (die hundert verschiedene Sprachen spricht) stört das empfindliche, ethnische Gleichgewicht.
Moderne Gesellschaften
Objektiver und struktureller Wandel
Die Globalisierung bringt weltweite Konkurrenz, Arbeit wird in Billiglohnländer ausgelagert. Typisch für moderne Gesellschaften sind der demografische Wandel mit einer Alterung der (einheimischen) Gesellschaft, die Gleichstellung der Frauen, kleine Haushalte und räumlich zerstreut lebende Familien. Traditionelle örtliche Gemeinschaften zerfallen, es gibt nicht mehr das sogenannte „Dorf- und Vereinsleben“, Orte werden zu reinen Schlafstädten. Der Wohlfahrtsstaat wird rückgebaut, es kommt zu einer Renaissance des Neoliberalismus. Deshalb nimmt die soziale Ungleichheit zu und die Verteilungskämpfe werden härter.
In modernen Gesellschaften lässt sich ein Strukturwandel in der Arbeitswelt beobachten: Berufe verschwinden, eine hohe berufliche Mobilität wird erwartet, der Arbeitsrhythmus ist sehr hoch, Stress und Qualifizierungsdruck kommen dazu. Lebenslanges Lernen wird zu einem Muss. Das Renteneintrittsalter wird immer höher, die Lebensarbeitszeit länger. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es relativ sichere qualifizierte Arbeitsplätze und dem stehen prekäre Arbeitsverhältnisse gegenüber. Unter den Jugendlichen gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit, ebenso sind Arbeitslose 50+ schwer zu vermitteln.
Subjektiver und individueller Wandel
Spaß, individueller Nutzen und Selbstverwirklichung stehen in der Werteskala vieler Menschen ganz oben. Ebenso die Arbeit: Beruf und Karriere sind zentraler Lebensbereich, es geht um die Work-Live-Balance (Gleichgewicht zwischen Leben und Arbeit).
Allgemein kann man sagen, dass der Individualismus steigt, es findet eine Entsolidarisierung, eine Zersplitterung in kleine, soziale Gruppen statt. Eine Scheu vor langfristigen Bindungen lässt sich beobachten.
Öffentlicher und medialer Wandel
Internet und soziale Medien ergänzen und verdrängen Printmedien und Fernsehen/Radio. Bei der Mediennutzung tut sich eine deutliche Generationenkluft auf. Populismus und Empörungsdemokratie sind im Aufwind.
Zukunft des Sozialen

Der soziale Ausgleich soll als positiver Standortfaktor gesehen werden: es gibt weniger Konflikte, mehr Sicherheit, weniger Kosten für Kriminalitätsbekämpfung, höhere Lebensqualität und eine geringere Belastung des sozialen Netzes.
Es wäre eine Chance für das Soziale, wenn soziale Gerechtigkeit von wirtschaftlichem Wachstum entkoppelt wird. Bisher hat der Sozialstaat leider auf stetes Wachstum gesetzt. Es bringt auch nichts, Arbeitsplätze zu schaffen. Empirie spricht dagegen, dass immer mehr möglich ist.
Glücklich ist, wem es ein bisschen besser geht als der Vergleichsgruppe neben ihm.
Arm fühlt sich, wer sich nicht das leisten kann was Leute um ihn herum sich leisten können. Glück und Armut werden also relativ erlebt, sie lassen sich nur im Vergleich mit anderen definieren.
Statt dem Streben nach immer mehr, braucht es eine bessere Verteilung; zum Beispiel eine gerechtere Verteilung der Arbeit zwischen den Generationen, eine Angleichung von Erwerbsarbeit und Freiwilligentätigkeit, ein Grundeinkommen, ein Recht auf Wohnen (statt auf Wohneigentum).
Entbürokratisierung
Ein gutes Beispiel für eine Entbürokratisierung des Sozialen ist die Pflegesicherung. Hier muss nicht um jede Leistung einzeln angesucht werden.
Es braucht eine Rückbesinnung auf Subsidiarität und Eigeninitiative sowie eine Öffnung der Gesellschaft über soziale Initiativen. Es darf keine Diskriminierung der neuen Mitbürger geben.
Soziale Innovation
Soziale Innovation ist das Gebot der Stunde, wird notwendig. Pflegende Angehörige werden weniger, es braucht kostengünstigere Modelle zu Betreuungseinrichtungen. Beispiele könnte sein: Wohngemeinschaften, Alte betreuen Alte, Mehrgenerationen-Häuser.
Demografischer Wandel
Die Babyboomer-Generation ist heute um die 50 Jahre alt, in 20 Jahren sind sie im Rentenalter, in 30 bis 40 Jahren sind sie hochbetagt. Die Probleme, die sich dann ergeben, sind vorhersehbar, die Ressourcen für eine Lösung nicht. Es droht eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen und es ist sich die Frage zu stellen, wie viele Jahre in Rente finanzierbar sind.


Text: Zusammenfassung des Referats von Hermann Atz
Hermann Atz ist wissenschaftlicher Leiter und geschäftsführender Gesellschafter des Instituts „apollis – Sozialforschung und Demoskopie“ in Bozen.