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Mythos Flexibilität

Warum der italienische Arbeitsmarkt mehr Stabilität braucht um gut zu funktionieren
In den vergangenen Jahren hat fast jede Regierung Italiens Hand an die Arbeitsmarktregeln gelegt: Gegenwärtig diskutiert das italienische Parlament unter zum Teil dramatischen Begleitumständen den zweiten Teil des sogenannten „Jobs Act“. Auch diese Reform beruht zum größten Teil auf dem Credo, dass „Strukturreformen des Arbeitsmarktes“ notwendig sind, um diesen flexibel zu gestalten und die Wirtschaftsentwicklung zu stimulieren.

Ob die Reformen des Arbeitsmarktes den Nagel auf den Kopf treffen, wird sich zeigen. - Foto: Rainer Sturm/pixelio.deOb die Reformen des Arbeitsmarktes den Nagel auf den Kopf treffen, wird sich zeigen. - Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

Es geht um viel mehr als um den medial hervorragend inszenierbaren und mit starker politischer Symbolik versehenen Streit um den Kündigungsschutz. Die Regierung beabsichtigt, eine Reihe von Maßnahmen zu setzen: Vom Einstiegsvertrag mit steigenden Rechten über die Neuordnung der sozialen Abfederungsmaßnahmen und der Arbeitslosenversicherung bis hin zur Verringerung der Arbeitsvertragsformen und der Einführung einer unter autonomiepolitischen Gesichtspunkten aufmerksam zu beobachtenden nationalen Beschäftigungsagentur.
1. Wie flexibel ist der italienische Arbeitsmarkt?
Flexibilität ist ein sehr vielschichtiger Begriff: Es ist nicht leicht das Ausmaß an Flexibilität zu bestimmen und zu bewerten – schon gar nicht über Ländergrenzen hinweg. Bezogen auf die Vielfalt der Formen, mit denen Menschen beschäftigt werden können, gilt der italienische Arbeitsmarkt als außerordentlich flexibel: Zum einen bedingt durch den hohen Anteil an Selbstständigen (21 Prozent im Vergleich zu den 12,5 Prozent der EU); zum zweiten durch die hohe Anzahl an Arbeitsvertragsformen: Je nach zugrundeliegendem Kriterium existieren 19 (Studienzentrum des gesamtstaatlichen Unternehmerverbandes Confindustria), 26 (Verband der italie­nischen Arbeitsrechtsberater) oder gar 46 unterschiedliche Arbeitsvertragsformen (Abteilung Arbeitsmarktpolitik der CGIL).
Die OECD, die weltumspannende Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, misst den Schutz der Beschäftigungsverhältnisse (Kündigungsschutz) mit einem eigens konzipierten Index, dem „Employment Protection Legislation“-Index. Auf einer Skala von 0 (niedrigster Schutz) bis 6 (höchster Schutz) befinden sich die OECD-Länder 2013 bei einem Durchschnittswert von 2,29 (für unbefristete Verträge). Der entsprechende Wert für Österreich liegt bei 2,44; der Wert für Italien beträgt - nach der Reform des Artikels 18 im Jahr 2012 – 2,79. Höhere Werte, also einen stärkeren Kündigungsschutz als Italien weisen Frankreich, die Niederlande, Belgien auf. Und vor allem Deutschland, mit dem zweithöchsten Wert Europas, nämlich 2,98. Deutlich wird, dass die Arbeitsmarktdynamik keineswegs primär von den Kündigungsschutzregelungen, sondern von einer Reihe anderer Faktoren wie der Innovationsfähigkeit und dem Vertrauen in den Standort abhängt.
2. Die Ergebnisse der ver­gan­genen Arbeitsmarktreformen
Trotz (oder wegen?) der vergangenen Reformen ist der italienische Arbeitsmarkt keineswegs dynamischer geworden. Dies macht sich in zweifacher Hinsicht bemerkbar: Der Labour-Turnover (also das Nebeneinander von Einstellungen und Abgängen) ist in Italien mit fünf Prozent der Beschäftigten gering: nur Bulgarien, Griechenland, Kroatien und die Slowakei weisen im Zeitraum 2007 – 2013 eine geringere „job-to-job“-Transition auf. Zum zweiten fehlt die Dynamik im Bereich der Arbeitsorganisation. In diesen Bereich „investieren“ italienische Firmen zu wenig finanzielle Ressourcen und verfügen somit über zu wenig Know-how: In einer umfangreichen, 2011 publizierten gesamteuropäischen Studie der EU-„Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“ rangiert Italien an 25. Stelle von 30 untersuchten Ländern in Hinblick auf moderne Formen der Arbeitsorganisation. Die Verbreitung moderner Praktiken und Formen der Arbeitsorganisation wie flexible Arbeitszeitarrangements, finanzielle Leistungsanreize, systematische Weiterbildungsmaßnahmen, teilautonome Arbeitsgruppen und Mitsprache der abhängig Beschäftigten liegen weit unter dem europäischen Schnitt. Eine Folge: Italiens Produktivitätswachstum stagniert, siehe Grafik rechts.
Der Zusammenhang liegt nahe: Da italienische Firmen auf eine Vielzahl von Beschäftigungsformen zurückgreifen können, gibt es zu wenig Anreize, in die Modernisierung der Arbeitsorganisation (und somit in Formen der sogenannten internen „funktionalen Flexibilität“) zu investieren. Hinzu kommt, dass die Einführung moderner Formen der Arbeitsorganisation auf einer Kultur des Vertrauens innerhalb der Betriebe beruht.
3. „San Precario“ – Italien als Beispiel für FlexiUNsicherheit
Der Weg der externen Flexibilität durch die massive Deregulierung der Arbeitsvertragsformen hat sich als kontraproduktiv erwiesen: Anders als propagiert haben sich die atypischen und zum großen Teil prekären, weil nicht sachgerecht eingesetzten Arbeitsvertragsformen nicht als Sprungbrett in „stabile und sozial abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse“ herausgestellt, sondern vielmehr als Weg in die Prekaritätsfalle.
Der italienische Arbeitsmarkt braucht nicht mehr Flexibiltät sondern mehr Stabilität. - Foto: Joujou/pixelio.deDer italienische Arbeitsmarkt braucht nicht mehr Flexibiltät sondern mehr Stabilität. - Foto: Joujou/pixelio.de
Ideologische Voreingenommenheit? Eben nicht: Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie der „Università degli Studi Roma Tre“, die im Auftrag des italienischen Ministeriums für Wirtschaft und Finanzen sämtliche Arbeitsmarktreformen seit 1997 auf ihre Effekte hin untersucht hat. Ernüchterndes Fazit: Die Reformen der letzten 15 Jahre sind Flickwerk, die zur Folge gehabt haben, dass der italienische Arbeitsmarkt nach wie vor segmentiert ist und der Zugang zu stabilen Arbeitsvertragsformen sich nicht verbessert hat. Ganz im Gegenteil: Italien gilt als Beispiel dafür, wie Arbeitsmarktreformen zur Abnahme der Qualität der Arbeit, zu Einbußen von „guter Flexibilität“ und somit zu höherer Prekarität geführt haben.
Keine wirklich überraschende Entwicklung angesichts des „Supermarktes“ an Arbeitsvertragsformen. Fast 15 Prozent der Beschäftigten können als prekär eingestuft werden: Deren Einkommen ist nicht existenzsichernd, die Beschäftigungsstabilität und die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung unzureichend, die Integration in das System sozialer Sicherheit ist absolut defizitär. Mittelfristig besonders dramatisch: Gerade in den personenbezogenen Dienstleistungen Bildung und Gesundheit – also im high touch-Bereich - arbeiten rund 20 Prozent der Beschäftigten unter Bedingungen, die zu einer Prekarisierung führen: FreiberuflerInnen mit nur einem Auftraggeber; abhängig Beschäftigte, die unfreiwillig befristet oder in Teilzeit arbeiten. Die entsprechenden italienischen Werte gehören zu den dramatischsten Europas. Dies gilt ebenso für die „Entmutigten“, die zwar erwerbstätig sein möchten, aber gar nicht mehr systematisch nach Arbeit suchen. In Italien sind die Mittelschichten ausgezehrt: Nicht nur der Konsum von Lebensmitteln sinkt; die italienische Geburtenrate gehört zu den niedrigsten in Europa. Kein Zeichen für das Vertrauen der Bevölkerung in die Zukunft.
4. Einziger Ausweg: Nachfrage nach Arbeit schaffen
Dass Italien strukturelle Reformen notwendig hat, steht außer Diskussion. Die Frage ist nur, welche Bereiche diese betreffen sollen, denn
beim Index für soziale Gerechtigkeit der (liberalen!) Bertelsmann-Stiftung nimmt das Land den Rang 23 aller 28 EU-Länder ein,
beim „Doing business“-Ranking der Weltbank, das den Aufwand für Betriebsgründungen und wirtschaftliche Aktivitäten bewertet, liegt Italien auf Platz 56, zwischen der Türkei und Weißrussland;
beim Index der empfundenen Korruption der öffentlichen Verwaltung gar auf Rang 69, nach Montenegro und vor Kuwa it.
Angesichts der vergangenen Erfahrungen wird deutlich, dass sich in Italien die Qualität des Regierungshandelns verbessern muss. Insgesamt muss das Land mehrere Herausforderungen gleichzeitig bewältigen: Neben den strukturellen Reformen im Bereich Bildung, Sozialstaat und Effizienz der Verwaltung muss die Nachfrage nach Arbeitskräften gesteigert werden. Eine Anregung: Die in Italien dramatisch vernachlässigte Pflege der Landschaft und Sicherung des Territoriums durch ökologisch sinnvolle Infrastrukturen wäre angesichts der bereits spürbaren klimatischen Veränderungen und der dramatischen Ereignisse sowohl unter sozialen, ökologischen wie auch wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll. Denn während einer Depression ist es kaum sinnvoll, die Regeln des Arbeitsmarktes zu ändern, da dies nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führt, sondern eher zum Austausch stabiler Vertragsformen mit anderen, prekäreren Formen der Beschäftigung.
Insgesamt lautet die entscheidende Frage: An welchen europäischen Ländern soll sich die italienische Reformpolitik orientieren? Am europaskeptischen Großbritannien, in dem die Rolle des Marktes ganz stark ist? Oder an den nordischen Staaten, denen es am besten gelungen ist, soziale Gerechtigkeit mit wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Kohäsion zu verbinden? Der Blick auf Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zeigt, dass ein dynamischer und weniger prekärer Arbeitsmarkt möglich ist. Ein solcher Weg beruht auf vielen Voraussetzungen, einige betreffen auch die Einstellungen und Werthaltungen der Bürger und die politische Sphäre. Allerdings gelten nicht nur die uns ferner liegenden nordeuropäischen Staaten als beispielhaft; gerade im Bereich der Arbeits(markt)politik und der sozialen Absicherung können Anregungen aus Österreich durchaus sinnvoll sein. Soziale Sicherheit, moderne Institutionen der Arbeitsmarktpolitik, eine auf Vertrauen und mit hohem Know-how versehene Sozialpartnerschaft sind Grundvoraussetzungen für einen dynamischen und flexiblen Arbeitsmarkt.
Die in hohem Ausmaß ideologisch und entgegen jeglicher sachlicher Grundlage geführten Diskussionen um die vermeintlichen „Rigidiäten“ auf dem italienischen Arbeitsmarkt (und den Art. 18 als sein Totem) verstellen den Blick auf die wahren Herausforderungen. Es ist an der Zeit, über eine so weit wie möglich eigenständige Südtiroler Politik der guten Arbeit nachzudenken.

TEXT: Werner Pramstrahler
Zur Person
Werner Pramstrahler, Forschungsmitarbeiter im AFI - Arbeitsförderungsinstitut.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
Stand: 19.12.2014

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Reformwut hinterlässt Ratlosigkeit

Das Soziale ist nicht Kostenfaktor und Wachstumsbremse
„Das Reformspektakel – Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient“ so lauten Titel und Untertitel eines Buches des Frankfurter Jesuiten Friedhelm Hengsbach. Das Buch ist zwar mit Blick auf die Bundesrepublik geschrieben, gibt aber treffend das Unbehagen vieler Italiener mit der Reformpolitik ihrer Regierungen wieder.
Die Reformen, wie sie seit Jahren in Italien und in anderen Staaten der EU vorangetrieben werden, leiden nicht nur unter einem Defizit an Gerechtigkeit. Genauso schlimm ist ihre Unwirksamkeit. Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Gemeinschaft, wird seit Jahren auf neoliberale Weise reformiert. Ohne nachhaltigen Erfolg. Die wirtschaftliche Lage ist schlechter geworden, die Arbeitslosigkeit höher, die Realeinkommen der kleinen Leute schmaler.
„Reform“ bedeutet immer auch Veränderung. Aber sollten sich die Verhältnisse nur verändern und nicht auch verbessern? In früheren Zeiten waren Reformen in der Regel Veränderungen zugunsten breiter Kreise der Bevölkerung (z.B. Einführung der einheitlichen Mittelschule 1962, die staatliche Gesundheitsreform 1978 …). Heute gehen Reformen vor allem zu Lasten der mittleren und unteren Einkommen. Diese Art von Politik kommt nicht von ungefähr. Seit gut dreißig Jahren versuchen Ökonomen, ein Heer von Wirtschaftsjournalisten, von unternehmerischen Führungskräften die Bürger mit ihren wirtschaftsliberalen Bekenntnissen zu faszinieren. Wie die Entwicklung in Europa und jetzt auch in Italien zeigt, mit einem gewissen Erfolg. Von Berlusconi über Mario Monti bis hin zu Matteo Renzi haben die Regierungen neoliberale Spuren gezogen und ziehen sie weiter. Die Arbeitsmarktreform, neuerdings Job Act genannt, ist ein Beispiel von mehreren. Reformen dieser Art beruhen auf einer Fehldiagnose. Sie sehen „das Soziale“ nahezu ausschließlich als Kostenfaktor und Wachstumsbremse, nicht jedoch als wichtigen Produktionsfaktor, der zur Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beiträgt, die wirtschaftliche Stabilität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. Ein Wort zur aktuellen Debatte rund um den Arbeitsmarkt. Dieser braucht Flexibilität. Keine Frage. Aber Flexibilität ist etwas anderes als das Schaffen einer Unzahl von prekären Arbeitsverhältnissen.

TEXT: Josef Stricker