Thema

Stark im Miteinander - für ein soziales Südtirol

KVW Jahresthema 2014-2015
Altbewährtes greift nicht mehr und wir merken es immer deutlicher, es liegt Veränderung in der Luft. Es hat ein wenig gedauert, aber dieser neue Wind ist auch in Südtirol angekommen. Es gibt weniger Arbeitsplätze und Arbeitnehmer, die Arbeit haben, spüren den brüchiger werdenden Arbeitsmarkt.

Der KVW kann auf die konstruktive Zusammenarbeit zählenDer KVW kann auf die konstruktive Zusammenarbeit zählen

Auch im KVW spüren wir den neuen Wind: Fördermittel werden knapper und Bereiche, die sich darauf stützen, werden sich in Zukunft nicht mehr tragen können. Bereits im laufenden Jahr mussten drastische Einsparungen vorgenommen werden, um einer finanziellen Schieflage des Verbandes entgegenzuwirken. Als Mitglieder im Verband sind wir gefordert, diese Veränderungen mitzutragen und als dringend notwendige Maßnahmen anzusehen. Gewisse Sozial- und auch Gesundheitsdienste werden nicht mehr weitergeführt werden. Hier sind wir als Sozialverband gefordert: nur im Miteinander können wir uns für die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung stark machen.
„Die fetten Jahre sind vorbei“, so würde es der Regisseur Hans Weingartner ausdrücken.
Wir müssen uns entscheiden, und wir werden uns über kurz oder lang aus der Komfortzone heraus bewegen müssen. Ja, wir haben es uns bequem gemacht in den vergangenen Jahren. Südtirol ist seit den 60er Jahren zu einem wohlhabenden Land herangewachsen. Auch wenn wir Südtiroler nicht zu den reichsten Menschen der Welt zählen, so können wir uns im Verhältnis zu Menschen anderer Länder sehr viel leisten: eine Eigentumswohnung oder gar ein Eigenheim, ein Auto, Hobbies, gesundes Essen, usw. sind für uns selbstverständlich. Zudem haben wir ein breites Netz an Sozialleistungen, das die meisten Menschen unserer Gesellschaft auffängt, wenn sie in Schwierigkeiten geraten. Vergleichen wir Südtirol etwa mit den USA, sind die Staaten für viele das Traumland mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Beim Gesundheitssystem aber gibt es eine deutliche Zweiklassengesellschaft: ein Arbeitsplatz mit Krankenversicherung gilt als etwas Besonderes. Wenn die finanziellen Voraussetzungen nicht stimmen, werden keinerlei Gesundheitsleistungen geboten.
Dabei ist nichts von alldem selbstverständlich. Wir können nicht davon ausgehen, dass es normal ist, in einem Land zu leben, wo das Soziale Bedeutung hat. Dass heute soziale Politik gemacht wird, das verdanken wir Menschen, die sich dafür in den vergangenen 70 Jahren stark gemacht haben. Heute sind wir an dem Punkt, wo das Soziale im Zuge von Sparmaßnahmen wieder in Frage gestellt wird. Laut Theologin Margot Käßmann „braucht der Sozialstaat mehr Unterstützung aus der Zivilgesellschaft“. Und genau deshalb ist jeder einzelne von uns gefordert seinen Beitrag zur Verwirklichung eines sozialen Südtirols zu leisten. Wir müssen uns durch unser Verhalten im Umgang mit Familie, Arbeitskollegen, Chefs, Nachbarn, unseren ausländischen Mitbürgern etc. als soziale Wesen zeigen. Es wird wohl kaum jemanden geben, der das Soziale gänzlich ablehnt. Die Praxis zeigt, dass die dahinterstehenden Wertvorstellungen weit abweichen können. Oft scheint der eigene Vorteil weit über dem Gemeinwohl zu stehen.
Die Weichen für morgen stellen
Wenn wir nach vorne ausgerichtet sein wollen, müssen wir bereit sein als Verband in Bewegung zu bleiben. Oft laufen wir Gefahr, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen. Wir blicken zurück auf hohe Mitgliederzahlen, auf aktiveren Einsatz in den Ortsgruppen und auf Zeiten, in denen anscheinend alles leichter und besser war. Das Zurückschauen kann aber leicht zu einem Stillstand führen. Bereits in der biblischen Erzählung von Lots Frau erfahren wir: Lots Frau dreht sich um und blickt zurück auf die dem Untergang geweihte Stadt, aus der sie geflohen ist. In diesem Augenblick erstarrt sie zur Salzsäule (Gen 19,26). So könnte es auch uns ergehen, wenn wir von dem, was hinter uns liegt, nicht loskommen.
Die Chancen der Gegenwart erkennen wir nur in der Bereitschaft zur Veränderung. Zudem können wir uns als Christen an zwei besonders kennzeichnenden Vorbildern orientieren: Jesus und Papst Franziskus.
Jesus ist immer auf Menschen zugegangen und hat sich für die Schwachen eingesetzt. Dabei hat er sich nicht immer beliebt gemacht. Jesus zeigt uns, dass Sünder, oder die, die als Sünder gelten, ausgeschlossen werden. Dabei sind gerade sie es, die mehr Gespür für Gott und die Nächstenliebe haben als mancher Priester oder Pharisäer. Ich denke an den Samariter oder den Zöllner Zachäus. Zachäus wird von den Frommen abgelehnt, hat aber einen guten Kern. Dieser kommt zum Vorschein als Jesus ihn vom Baum herunterkommen macht. Er nimmt ihn so wie er ist, bedingungslos. Die Frommen stehen beschämt da, sie sind zu dieser Liebe nicht fähig.
Wir aber brauchen Liebe, die Grenzen überwindet, die nicht ausschließt, sondern vereint.
Papst Franziskus ist ebenfalls ein Beispiel für eine mutige Veränderung. Sein Verhalten gefällt den Menschen und für viele ist er eine Vorbildfigur. Er fordert heraus und nennt Probleme beim Namen. Er versteckt sich nicht. Er spricht die Menschen in einer für alle verständlichen Sprache an. Er ermuntert zum echten Dialog. Ähnlich wie Jesus nimmt er jeden Menschen mit Stärken und Schwächen an. Dieses Gefühl des Annehmens ist für uns Menschen wichtig. Wenn wir uns von Gott angenommen wissen, finden wir uns auch in der menschlichen Gemeinschaft zurecht. Papst Franziskus führt sein Amt in persönlicher Freiheit und geht dabei sehr offen auf die Menschen zu.
Wir brauchen Offenheit, die den Dialog sucht und weiß, dass unbequeme Aussagen ein wichtiger Teil von Veränderungsprozessen sind.
Entwicklungen im Auge behalten
Als Sozialverband haben wir die Aufgabe Entwicklungen im Auge zu behalten. Dabei stoßen wir auf die Frage der Verteilungsgerechtigkeit und den gleichzeitig geforderten Spar­zwang. Wir setzen uns für alle Menschen ein, besonders aber für jene, die sich selber nicht helfen können. Nun ist es aber so, dass diese keine starke Lobby hinter sich haben und deswegen leicht als Sozialschmarotzer dargestellt werden. Wenn wir uns im KVW nicht für eine generelle Erhöhung der Mindestrenten ausgesprochen haben, so hängt das damit zusammen, dass wir realistische Forderungen stellen. Einem Menschen, der nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren muss geholfen werden. In einer christlich orientierten Welt muss allerdings gleichzeitig klar sein, dass das Prinzip der Subsidiarität genauso zur Anwendung kommen muss. Vieles fällt derzeit unter dem Deckmantel des Sparens aus. Nur wenn wir gemeinsam uns auf grundlegende Notwendigkeiten festlegen, werden wir eine Chance haben. Wir müssen lernen, dass nicht mehr alles so leicht sein wird wie in den vergangenen Jahren und dass es deshalb noch wichtiger sein wird, mit einer gemeinsamen Stimme durch das Sprachrohr KVW zu sprechen. Als KVW haben wir die Verpflichtung, uns für ein armutsfestes Instrument einzusetzen, durch das die Risiken der Krankheit, der Behinderung, der Armut oder der Arbeitslosigkeit abgefangen werden. Die zunehmende Alterung der Bevölkerung, die steigenden Fälle von Pflegebedürftigkeit werden uns noch einige Lösungen abverlangen. Wenn dabei auch der freiwillige oder ehrenamtliche Einsatz eine Rolle spielen soll, müssen auch entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass dies überhaupt möglich wird. Wir sind bereit anzupacken und Verantwortung zu übernehmen; die vielen Freiwilligen und ehrenamtlich engagierten Menschen in unserem Land sind der Beweis dafür.
Der KVW setzt sich für alle Menschen ein, besonders für jene, die sich nicht selbst helfen könnenDer KVW setzt sich für alle Menschen ein, besonders für jene, die sich nicht selbst helfen können
Denken wir auch an unsere Familien. In welchen Bereichen sind Abstriche annehmbar und was wollen wir als unverzichtbar erhalten? Nur wenn wir einen Ausgleich zwischen Arbeit und Familienleben schaffen, wird es Frauen möglich sein freie Entscheidungen für die Familie zu treffen. Wenn aus finanziellen Gründen Entscheidungen gegen die Familie und gegen Kinder getroffen werden, gehen wir den falschen Weg. Die Familie muss leistbar bleiben. Eine Gesellschaft, die nicht in ihre Kinder investiert, ist wohl kaum zukunftsfähig. So wollen wir im kommenden Arbeitsjahr uns als Sozialverband zeigen und gemeinsam Veränderungen mittragen – für ein soziales Südtirol.

TEXT: Werner Steiner, Dagmar Trafoier
Werner SteinerWerner Steiner

Kommentar

Mindeslohn - eine Perspektive für Südtirol

Warum die Diskussion über einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn auch in Südtirol sinnvoll ist.

Werner Pramstrahler, Mitarbeiter des AFI (Arbeitsförderungsinstituts) Dieser Kommentar gibt die persönliche Meinung des Autors wiederWerner Pramstrahler, Mitarbeiter des AFI (Arbeitsförderungsinstituts) Dieser Kommentar gibt die persönliche Meinung des Autors wieder

Südtirols Sozialpolitik ist mit einem vergleichsweise neuen Phänomen konfrontiert: Immer mehr Menschen nehmen finanzielle Unterstützungsleistungen wie das soziale Mindesteinkommen in Anspruch, obwohl sie erwerbstätig sind. Anlass für das AFI, im Rahmen einer international besetzten Tagung, ein Instrument zur Diskussion zu stellen, das nunmehr auch in Deutschland eingeführt wird: branchenübergreifende gesetzliche Mindestlöhne.
Diese Art der Festlegung von Lohnuntergrenzen wird in Südtirol wie in ganz Italien zwar erst ansatzweise diskutiert. Allerdings schiebt die Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohnes in Deutschland ab Jänner 2015 die Diskussion auch hier zu Lande an. Italien ist nunmehr das einzige der großen EU-Länder, in denen kein solcher Mechanismus vorgesehen ist. Allerdings bestehen auf Seiten der italienischen und lokalen Kollektivvertragsparteien Vorbehalte gegen eine gesetzliche Festlegung des Mindestlohnes: Befürchtet wird unter anderem eine Aushöhlung der kollektivvertraglichen Autonomie, die Entlohnungshöhe festzulegen und eine Stärkung des politischen Einflusses auf die Lohnpolitik.
Kollektivverträge allein erfüllen ihre Aufgabe immer weniger
Tatsache ist allerdings, dass die kollektivvertragliche Festlegung von Entlohnungen in den vergangenen Jahrzehnten empfindlich geschwächt worden ist: Durch die Atypisierung des Arbeitsmarktes verringert sich der Geltungsbereich von Kollektivverträgen. Kollektivvertragsabschlüsse sind – in Italien wie in fast ganz Europa – meist defensiv: Zunächst unter dem Schlagwort der Wettbewerbsfähigkeit, dann unter dem Damoklesschwert der Krise wurden und werden den abhängig Beschäftigten immer neue Konzessionen abgerungen; die Lohnsteigerungen waren in den vergangenen Jahren kaum wahrnehmbar und blieben unter dem Verteilungsspielraum (Produktivitätszuwachs und Inflation). Hinzu kommt die Auslagerung und Ausschreibung bestimmter öffentlicher Dienstleistungen (Reinigungsdienste, Transport, Pflege): Dies ist sehr häufig mit einem starken Kostendruck und einer damit einhergehenden Verringerung der Löhne verbunden. Auch die lokale und die betriebliche Verhandlungsebene sind von diesen Entwicklungen betroffen; zu einer durchgreifenden und anhaltenden Verbesserung der Situation haben sie nur ansatzweise etwas beitragen können. Ein ungenutztes Potenzial in den Händen der Kollektivvertragsparteien.
Ein stabiles und funktion­ier­endes Kollektivvertragssystem als wichtiger Standortfaktor
Wenn die gesetzlichen Regelungen sachgerecht eingeführt werden, kann das Kollektivvertragssystem stabilisiert werden. Eine gesetzlich eingeführte Lohnuntergrenze verringert die Möglichkeiten unfairen Wettbewerbs über niedrige Entlohnungen und sich daraus ergebende schlechte Arbeitsbedingungen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wären entlastet und könnten sich auf andere Themen konzentrieren: organisatorische und technologische Innovationsprozesse, Weiterbildung, Arbeitszeitregelungen und Arbeitsorganisation, die Mitsprache der Beschäftigten und die Verteilung der Gewinne. Gesetzlich fixierte Lohnuntergrenzen würden dazu beitragen, dass die eigentliche Lohnpolitik, nämlich günstige Rahmenbedingungen für die Arbeit und Entwicklung der Produktivität zu schaffen, weiterhin die gewerkschaftliche Kernaufgabe bleiben kann.
Viel Know-how notwendig
Es stimmt: Ein Allheilmittel sind gesetzlich festgelegte Mindestlöhne keineswegs. Wie aber Reinhard Bispinck, Experte des gewerkschaftsnahen WSI (Wirtschafts und Sozialwissenschaftliches Institut Düsseldorf), anlässlich der Tagung erläutert hat: Allgemein verbindliche gesetzliche Mindestlöhne sind geeignete Instrumente, den Niedriglohnsektor einzugrenzen, die Binnennachfrage zu stützen und das Kollektivvertragssystem zu stabilisieren. Auf diese Weise tragen sie zu einer Entlastung der öffentlichen Sozialbudgets bei. Entscheidend sind die Art und Weise, wie die gesetzliche Untergrenze eingeführt wird. Prinzipiell sind auch territoriale Differenzierungen möglich.
Die Diskussion über die Mindestlöhne wie über die Modelle der finanziellen Mindestsicherung hat es deutlich gezeigt: Auf die Verbände der ArbeitnehmerInnen wie der ArbeitgeberInnen kommen neue Herausforderungen zu. Weder Lohn- noch Sozialpolitik sind ohne eine ständige Überprüfung der Auswirkungen machbar. Die gegenwärtige Krise ist auch eine Chance für die Interessensverbände, in zukunftsfähiges Know-how zu investieren. Denn eine zeitgemäße und demokratische Lohn- und Sozialpolitik muss verstärkt über Diskussions- und Evaluierungsprozesse gesteuert werden. Dies entspräche für Südtirol einem grundlegenden Paradigmenwechsel.
Infos unter: www.afi-ipl.org

TEXT: Werner Pramstrahler