Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser

Ingeburg GurndinIngeburg Gurndin

Wie gewohnt steht in der September-Ausgabe des Kompass das neue Jahresthema im Mittelpunkt. So wie in den Schulen startet im KVW das neue Arbeitsjahr im September.
„Stark im Miteinander - für ein soziales Südtirol“ lautet das Thema für 2014/2015. Es wird sich zwar niemand „laut“ gegen ein soziales Südtirol äußern, aber die versteckten Angriffe dürfen nicht übersehen werden.
Die Wirtschaftskrise, die knapper werdenden Geldmittel und der Sparzwang bringen das Soziale in Bedrängnis. Alles, was Geld kostet, wird genauer unter die Lupe genommen und angeprangert. Dabei sind es gerade die Krise und die knapper werdenden Gelder, die die Armut verstärken und immer mehr Menschen in die - unglückliche - Situation bringen, auf Hilfe angewiesen zu sein. Gleichzeitig wird von manchen Seiten mit erhobenem Zeigefinger auf die Ausgaben im Bereich des Sozialen gezeigt. Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt. Das Soziale kostet Geld, und es braucht eine Sicherung der Menschen vor Armut. Dass die Summen dafür nicht geringer werden, liegt an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.
Es darf nicht sein, dass soziale Errungenschaften, die in Jahrzehnten in den westlichen Staaten aufgebaut wurden,
nun in Frage gestellt werden.

Ingeburg Gurndin

KVW Soziales

Was ist heute sozial?

Papst Franziskus hat die Welt bei seinem Amtsantritt überrascht – mit seiner selbstverständlichen Art, auf Menschen spontan zuzugehen, und mit seiner Forderung nach einer Kirche der Armen. Die Gesellschaft aus der Sicht der Armen zu sehen – das ist die soziale Innovation, die Papst Franziskus aus seinen Erfahrungen in Lateinamerika mitbringt, die aber dem Evangelium entspricht und seit jeher zu den Grundlagen christlichen Lebens gehört.
Kirche der Armen – das heißt nicht nur, sich für die Armen einzusetzen; es bedeutet, ihnen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, nicht nur zu geben, sondern auch zu bekommen, voneinander zu lernen. Dabei kann uns bewusst werden, dass nicht nur die materiell Armen unsere Hilfe brauchen, sondern dass wir alle als Menschen hilfsbedürftige Wesen sind.
Soziale Verantwortung
Sozial bedeutet zuerst und grundsätzlich, in eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft eingebunden zu sein. Vom ersten Tag unseres Lebens an sind wir darauf angewiesen, dass andere für uns sorgen. Die Abhängigkeit des Kindes bedingt auf der anderen Seite, dass Eltern, Erwachsene Verantwortung übernehmen, damit junge Menschen in Sicherheit und Geborgenheit aufwachsen können. Jede menschliche Gesellschaft ist auf gegenseitige Verantwortung aufgebaut.
Auf andere angewiesen zu sein, bestimmt auch maßgeblich das Leben in der modernen Industriegesellschaft. Wir leben nicht mehr von dem, was wir selbst erzeugen. Wir könnten nicht leben, ohne dass andere für uns arbeiten. Weltweit sind Menschen damit beschäftigt, uns mit dem zu versorgen, was wir brauchen, und auch unsere Arbeit trägt dazu bei, dass andere leben können. Wir sind eingebunden in ein weltweites Netz, und es kann uns nicht gleichgültig sein, ob das, was wir kaufen und verbrauchen unter gerechten Bedingungen entstanden ist, ob die Rechte der arbeitenden Menschen geachtet, Bedürfnisse und Grenzen natürlicher Umwelt berücksichtig wurden.
Institutionen und Gesetze
Als einzelne sind wir mit solcher Verantwortung rasch überfordert. Jede größere Gemeinschaft braucht gesellschaftliche Institutionen, Regeln und Gesetze, die für das Zusammenleben verbindlich sind. Dabei geht es nicht nur um die äußere und innere Ordnung, um Schutz und Rechtsordnung. Es braucht gesetzliche Rahmenbedingungen und staatliche Institutionen wie Sozialversicherungen, die Schutz bieten bei Krankheit, in Zeiten von Arbeitslosigkeit und im Alter. Eine funktionierende Versorgung mit grundlegenden Gütern wie Wasser und Energie, die Einrichtung öffentlicher Schulen, Gesundheitsversorgung und die Sorge für die Älteren und Bedürftigen sind Aufgaben, die in einem modernen Staat gesellschaftlich organisiert werden müssen.
In unseren europäischen Staaten wurden solidarische und soziale Einrichtungen in Jahrzehnten aufgebaut und tragen dazu bei, Armut in Grenzen zu halten. Doch sie werden auch immer wieder in Frage gestellt und es braucht das Engagement und den Einsatz vieler Bürgerinnen und Bürger, in unterschiedlicher Funktion, das Erreichte zu sichern und den neuen Herausforderungen entsprechend weiter zu entwickeln.
Soziale Verantwortung – weltweit
In einer globalen Welt kann die Verantwortung für Gerechtigkeit nicht an Staatsgrenzen Halt machen.
Je mehr wir heute wissen von der Welt, von Unfrieden und Armut, von Ungerechtigkeit und Ausbeutung von Mensch und Natur, umso mehr sind wir gefordert, das uns Mögliche zu tun für eine gerechtere Welt.
Nächstenliebe und der Einsatz für Gerechtigkeit gehören unmittelbar zusammen. Diese zutiefst christliche Haltung wird auch von Papst Franziskus bekräftigt. In seinem apostolischen Rundschreiben „Evangelii gaudium“ - „Die Freude des Evangeliums“, mahnt er: „Niemand (darf sich) von der Sorge um die Armen und um die soziale Gerechtigkeit freigestellt fühlen“ (201). Diese Sorge kann sich auch nicht auf Hilfsprojekte beschränken, sondern muss die Probleme von der Wurzel her lösen: „Die Notwendigkeit, die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben, kann nicht warten“ (202).
Sozial heute bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und Strukturen der Verantwortung zu schaffen. Damit alle Menschen ein gutes und gelingendes Leben „in Fülle“ führen können.
Zur Person
Magdalena M. Holztrattner,Magdalena M. Holztrattner,
Magdalena M. Holztrattner, Leiterin der Katholischen Sozialakademie Österreichs, hat diesen Artikel unter Mitarbeit von Lieselotte Wohlgenannt verfasst.
www.ksoe.at

TEXT: Magdalena M. Holztrattner