Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser


Ingeburg GurndinIngeburg Gurndin

Für den KVW ist der Beginn des Sommers zugleich der Abschluss des Arbeitsjahres. Im Herbst startet der Verband mit einem neuen Jahresthema ins neue Arbeitsjahr. Die Vorbereitungen laufen bereits, die Auseinandersetzung mit dem Thema ist voll im Gange.
Auch 2014/2015 wird es um ein soziales Südtirol gehen. Rektor Walter Lorenz von der Universität Bozen hat für diese Ausgabe des Kompass einen Artikel zum Thema „Was ist sozial?“ geschrieben. Mir hat sein Satz „Die Ausgaben für die soziale Integration waren immer eine ökonomisch weise Investition“ besonders gefallen. Dies sollten wir uns - in Zeiten wo fast nur mehr vom Sparen geredet wird - immer wieder vor Augen führen. Investitionen im sozialen Bereich verhindern, dass später andere „Baustellen“ teuer werden. Dies gilt für das Soziale ebenso wie für Bildung und Gesundheit. Von der Politik wünschen wir uns, dass sie dies beachtet. Trotz Spardruck muss das Hauptaugenmerk auf der politischen Gestaltung liegen.

Die Titelgeschichte dieser Ausgabe greift das Thema der Landesversammlung auf: Sozialverbände im 21. Jahrhundert - Sozialromantik oder Zukunftshoffnung? Andreas Gjecaj beantwortet diese Frage eindeutig, klar und gut untermauert: der KVW stellt für die Menschen in Südtirol Zukunftshoffnung dar. Er steht auf einem soliden Wertefundament, engagiert sich vielfältig und der Zeit angepasst. Der KVW gehört zu denen, die bei den Menschen und ihren Nöten genau hinschauen und hinhören, die mit einfühlsamen Herzen und reflektierendem Verstand über das nachdenken, was sie wahrnehmen. Und daraus werden Programme und Forderungen an die Politik und die Gesellschaft formuliert.

Ingeburg Gurndin

KVW Soziales

Die soziale Frage neu stellen

Sozial bedeutet einen Ausgleich zu schaffen zwischen individueller Selbstverantwortung und gemeinschaftlicher Absicherung für Eventualiäten, die nie von Einzelnen allein bewältigt werden können. Die Finanzkrise macht deutlich, welchen Schaden die Ausklammerung des Sozialen auch in wirtschaftlicher Hinsicht verursacht: die Kosten für soziale Integration waren immer eine ökonomisch weise Investition.
Der Begriff„sozial“ ist ein typisches Produkt der Moderne. Paradoxerweise ist er genau zu der Zeit entstanden, als der soziale Zusammenhalt von Menschen nicht mehr ausschließlich durch Familienbande, durch stabile Dorfgemeinschaften, Standeszugehörigkeit oder Loyalität zu einem Fürsten oder Herrscher garantiert war, sondern diese Bande sich durch industrielle und politische Revolutionen auflösten. Das Soziale musste also mühsam neu gefunden und gesichert werden. Das Soziale betrifft uns Moderne immer in der Form der ‚sozialen Frage’. Im Laufe der Entwicklung der europäischen Nationalstaaten traten drei Antworten auf diese Frage in Erscheinung, wie und durch wen die Gesellschaft vor der Zersplitterung bewahrt werden könnte, die für alle Teile katastrophal wäre.
Drei Antworten auf die soziale Frage
Der Staat bot sich als Garant an, also der Sozialstaat, der vor allem in Skandinavien die Rolle der sozialen, universalen Grundsicherung übernahm.
Deutschland unter Bismarck, imitiert von anderen Staaten, setzte hauptsächlich auf die Leistungen der Zivilgesellschaft wie Kirchen, Vereine, Versicherungen; der Staat zug sich auf die zweite Verteidigungslinie zurück.
Liberale Staaten wie Großbritannien vertrauen meist auf das Individuum, das für sich selbst sorgt und nur in Notfällen auf den Staat zurückgreifen muss.
Dieses letzte Modell betont die Freiheit des Individuums, daserste das Prinzip der Gleichheit und Gerechtigkeit, und während der Zeit des Wiederaufbaus Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zielten praktisch alle westlichen Staaten auf eine Mischung dieser Prinzipien ab und verfolgten ihre jeweilige Version des Sozialsystems.
Als großer Konkurrent galt dabei der Kommunismus, der das Soziale in der Form des Sozialismus auf die Fahne geschrieben und meist auf Kosten der individuellen Freiheit durchsetzen wollte. So erhielt auch im Westen der Begriff „sozial“ immer den Beigeschmack des Sozialismus, zumindest argumentierten die politischen Gegner der Sozialdemokratie mit dieser Verunglimpfung, was dazu beitrug, dass nach 1989 die Freiheit des Individuums in politischen (undökonomischen) Debatten in den Vordergrund gespielt wurde als scheinbares Zeichen des Siegs über den Kommunismus.
Die Frage nach dem Wesen des Sozialen verlor an Aktualität, Sozialprogramme wurden im Zeichen des Neoliberalismus zurückgefahren, Menschen aufgefordert, in Notlagen sich selbst zuhelfen und Vorsorge für ihre soziale Sicherheit zu treffen. Vor allem das Projekt der Europäischen Integration vernachlässigte die soziale Frage und konzentrierte sich auf die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen – mit dem Resultat, dass das europäische Projekt nun in einer tiefen Krise steckt. Aber gerade die Finanzkrise macht deutlich, welchen Schaden die Ausklammerung des Sozialen auch in wirtschaftlicher Hinsicht verursacht. Die Kosten für die soziale Integration waren immer eine ökonomisch weise Investition statt einer Geldvergeudung, das lässt sich sowohl aus der GeschichteEuropas wie aus der der USA ableiten.
Sozial bedeutet also heute die Aufgabe, einen Ausgleich zu schaffen zwischen individueller Selbstverantwortung und gemeinschaftlicher Absicherung für Eventualitäten, die nie nur von Einzelnen bewältigt werden können. Die Schutzimpfung ist eine selbstverständliche soziale Maßnahme geworden, an der man sich immer noch ein Beispiel nehmen muss. Wichtig ist, die soziale Frage überhaupt neu zu stellen und öffentlich zu diskutieren, wenn ihre Bearbeitung auch immer zu unterschiedlichen Antworten führt.
Zur Person
Prof. Walter LorenzProf. Walter Lorenz
Prof. Walter Lorenz hat seit 2001 eine Professur für angewandte Sozialwissenschaften an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen inne. Seine Forschungsinteressen gelten der Entwicklung der europäischen Sozialpolitik, der Jugendarbeit als Delinquenzprävention, antirassistischen und interkulturellen Methodenansätzenin der europäischen sozialen Arbeit sowie der vergleichenden Geschichte der sozialen Arbeit in Europa.

TEXT: Walter Lorenz