Thema

Europa– eine Herausforderung

Die anhaltende Große Krise verlangt mehr Solidarität

Am 25. Mai finden die Europawahlen statt. In Zeiten der Krise ist mehr Solidarität gefragt. Am 25. Mai finden die Europawahlen statt. In Zeiten der Krise ist mehr Solidarität gefragt.

Foto: www.elections2014.eu

63 Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 als einer bewussten (wirtschafts)politischen Reaktion auf die Gräuel der NS-Diktatur und den durch Nazi-Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieg sowie 25 Jahre nach dem Zerfall des Warschauer Paktes 1989 und einer darauf folgenden allmählichen Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft Richtung Osten und Südosten scheint EU-Europa mit seinen nun 28 Mitgliedstaaten vor nicht zu unterschätzenden Herausforderungen, womöglich schon in einem neuen Transformationsprozess mit ungewisser Perspektive. Die 2007mit dem Platzen der US-Immobilienkrise ausgelöste Finanzkrise, die in der Abkoppelung einer Finanzwirtschaft von realwirtschaftlichen Aktivitäten seit den 1970er Jahren und einem zunehmenden Gewinnstreben durch Finanzspekulationen wurzelt und sich zu einer internationalen und bis heute andauernden Wirtschaftskrise ausweitete, führt zu sich vergrößernden ökonomischen Differenzen zwischen den EU-Staaten und vor allem zwischen den sozialen Schichten.
Ohne Erwerbsarbeit und ohne Einkommen
26,6 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter – die Bewohner von London, Berlin, Paris, Madrid, Rom, Wien, Budapest, Warschau und München zusammengezählt – sind ohne Erwerbsarbeit und damit ohne Einkommen. Jeder vierte junge Mensch unter 25 Jahren findet keinen Job und die unvorstellbaren Arbeitslosenquoten bei Jugendlichenin Süd(ost)europa, in Griechenland (59,2 Prozent), in dem bis vor kurzem prosperierenden Spanien (54,3), in der Tourismusdestination Kroatien (49,2) oder in einer großen Industrienation wie Italien (42,2) zeugen von einem Nord-Süd-Gefälle, einer neuen geopolitischen Kluft. Doch alle präzisen Statistiken von Eurostat, die die dramatischen Veränderungen seit Beginn der Großen Krise vor sieben Jahren dokumentieren, können nicht annähernd die Lebenslage Betroffener, die reale Armut und Perspektivenlosigkeit, ausdrücken. Zumal es auch einem nach Berlin ausgewanderten jungen Florentiner, einer 52-jährigen vom Betrieb entlassenen Wienerin oder einem prekär beschäftigten 45-Jährigen in Südtirol wenig nützt, wenn sie oder er in Landstrichen leben, die statistisch zu den nur leicht bewölkten in der Joblandschaft gehören, sie selbst aber im Regen stehen.
Genauer hinschauen um Armut zu sehen
An zwei Beispielen, der politischen Führungsmacht und stärksten Volkswirtschaft in Europa, Deutschland, und am weitgehend noch funktionierenden Sozialstaat Österreich, lässt sich zeigen, wie nötig es ist, genauer hinzusehen. Denn die für Deutschland wiederkehrenden Etiketten „Wirtschaftslokomotive“ oder „Exportweltmeister“verdecken zu rasch den Blick auf den Alltag von Millionen Menschen. So ist das Risiko für Arbeitslose in Deutschland in die Armut abzurutschen erheblich höher als in anderen EU-Staaten und als im EU-Schnitt, vor allem weil das Arbeitslosengeld weniger lang bezahlt wird als anderswo. Zudem sind nicht mehr nur atypisch Beschäftigte armutsgefährdet, sondern mittlerweile jede/r zehnte HauptverdienerIn (Working Poor). Kritische Ökonomen führen auch einen Teil des deutschen Exporterfolgs auf die vergleichsweisebilligen Arbeitskräfte zurück, auf eine Niedriglohnpolitik seit Ende der 1990er Jahre, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu stärken. Die nun in Berlin beschlossene Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns ist auch eine Reaktion auf diese Entwicklung. Auch in Österreich, dem Land mit derniedrigsten Arbeitslosenquote (4,4) und dem durchschnittlich höchsten Pro-Kopf-Einkommen in der EU, wächst das Phänomen der Working Poor, vor allem bei alleinerziehenden Frauen.
Trotz Einsparungen hat sich soziale Lage verschlechtert
Es ist offenkundig, dass die bisherigen Maßnahmen gegen die Große Krise, die teils drastischen öffentlichen „Einsparungen“, nicht zu deren Bewältigung geführt und zudem eine Verschlechterung der sozialen Lage zahlreicher EuropäerInnen nicht verhindern konnten. Der bereits vor Jahren von Ökonomen, die an John Maynard Keynes geschult sind, vorgeschlagene ‚gegenteilige’ Weg, für verstärkte öffentliche Investitionen, einem „New Deal“, wie ihn der frühere US-Präsident Roosevelt 1933–1938 erfolgreich als Reaktion auf die Weltwirtschafskrise in den USA umsetzte und damit eine Verelendung abwenden konnte, wurde in Europa bisher unverständlicherweise nicht eingeschlagen. Freilich wären dafür neue Einnahmen für die Staatshaushalte nötig. Doch die vereinzelt in diese Richtung weisenden Vorschläge von politisch Verantwortlichen wie etwa eine zielgerichtete Besteuerung von Vermögen oder die von globalisierungskritischen NGOs seit Langem eingemahnte Finanztransaktionssteuer reichen über Absichtserklärungen, etwa des österreichischen Kanzlers Faymann, nicht hinaus.
Fruchtbarer Boden für radikalisierte politische Rechte
Angesichts der wachsenden sozialen Verunsicherung und wenig erfolgreichen politischen Interventionen fallen sozial ausgrenzende, nationalistische und zunehmend rassistische Slogans einer radikalisierten politischen Rechten auf fruchtbaren Boden, dies vor allem bei Bevölkerungsgruppen, die der Konkurrenz am Arbeitsmarkt verstärkt ausgesetzt sind. Zwar hat just eine von deren europäischen Galionsfiguren, der frühere Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider, als Verantwortlicher für die landeseigene Hypo-Alpe-Adria-Bank vorexerziert, wie wenig deren Umgang mit öffentlichem Gut ethische Standards kennt. Nun zeigen sich die verheerenden Folgen der spekulativen Expansion der Landesbank für Österreichs Staatsbudget und damit für die von den Einsparungen vor allem betroffenen ärmeren Schichten. Aber die dumpfen sozialen Ausgrenzungsstrategien von Haiders ideellen Nachfolgern, vor allem gegenüber MigrantInnen, finden dennoch ein Echo. Und das Beispiel der Regierung Orbán in Ungarn zeigt, dass auch eine konservativ-christliche Kraft sich nicht scheut, mit Neo-Nationalismus, Antisemitismus und Ausgrenzung ethnischer Minderheiten Stimmung zu machen, Medienfreiheit einzuschränken und das Wahlrecht zurechtzubiegen.
Quellen: Europäische Kommission und EurostatQuellen: Europäische Kommission und Eurostat
Foto: www.elections2014.eu

Die EU-Grundrechtecharta von 2009, eine der großen Errungenschaften der Union, untersagt Diskriminierungen dieser Art. Allerdings fehlen Sanktionsmöglichkeiten, Instrumente, die Grundrechte zu garantieren.
Auch demokratiepolitisch hat EU-Europa Handlungsbedarf. Nach wie vor bestimmen dienationalen Regierungen im Europäischen Rat die europäische Politik – die ökonomisch Potenten mehr als andere. Die EU-Kommission bleibt trotz aller Entwicklungsschritte vielfach angewiesen auf deren Vorgaben. Die Zuständigkeiten des EU-Parlaments gilt es zu erweitern.
Konflikte politisch austragen und nicht mit Waffen
Die wichtigste Errungenschaft des Einigungsprozesses ist gewiss, dass die Konflikte in vielen europäischen Landstrichen politisch und nicht mehr mit Waffen ausgetragen wurden, auch wenn das Versagen der Mächte am Balkan nicht vergessen werden darf und uns der Konflikt in der Ukraine, vor der Tür, zeigt, wie prekär die Lage ist.
Vor allem aber steht EU-Europa vor dringenden sozialpolitischen Herausforderungen. Eine Sozialunion, mit arbeitsrechtlichen und lohnrechtlichen Standards, ist nicht entwickelt. Die Krise erfordert mehr effektive Solidarität: zwischen den Staaten der EU und mehr noch mit den betroffenen Bevölkerungsgruppen.

Text: Benedikt Sauer
Zur Person
Benedikt Sauer, ist freischaffender Journalist und Publizist, arbeitet für die RAI Südtirol und als Kolumnist der Tiroler Tageszeitung.
Benedikt SauerBenedikt Sauer

Kommentar

Reformen, Reformen, ...

Über Matteo Renzis Pläne Italien aus der Krise zu führen

Katharina TasserKatharina Tasser

Was Italien bitternötig hat, so hört man dieser Tage überall in Rom, sind Reformen, Reformen und nochmals Reformen. Wahrlich stimmt das. Nur welche Reformen soll man zuerst angehen, damit sie der Bürger dann auch in der Tat spürt und Italien auf Augenhöhe mit den anderen europäischen Staaten hievt?
Die Reform des Senats, die Neufassung des Abschnittes V der Verfassung, die Wahlreform, die Verwaltungsreform, die Arbeitsreform, die Justizreform? Reformen, auf die die Bevölkerung seit Jahrzehnten wartet.
Einen Teil umsetzen
Renzi hat eine ganze Menge versprochen - und auch, alles in kürzester Zeit zu verwirklichen. Wir wünschen uns alle, dass zumindest ein kleiner Teil davon auch tatsächlich umgesetzt wird. Ob die Wahlreform, die als erste auf der Liste Renzis steht, auch grundlegende Änderungen für die Allgemeinheit mit sich bringt, bleibt dahingestellt.
Meiner Meinung nach sind die Reform der öffentlichen Verwaltung und die Justizreform die einzigen, die für Italien unabdingbar und so schnell wie nur möglich umzusetzen sind, damit sich auch effektiv etwas ändert und neue Investitionen möglich gemacht werden.
Ohne diese Reformen wird Italien niemals wettbewerbsfähig sein. Um neue Arbeitsplätze zu schaffen, braucht es Unternehmer die investieren. Investieren tun sie aber nur dort, wo es auch eine Planungssicherheit gibt. Die Verwaltungsabläufe und –zeiten müssen festgelegt und aucheingehalten werden. Warum sollte ein Unternehmer in Italien investieren, wenn er Jahre auf eine Genehmigung warten muss, und von einem Amt zum anderen geschickt wird?
Dasselbe gilt für die Justiz. Die „biblischen“ Zeiten der italienischen Justiz, mit drei Instanzen, die nicht selten immer wieder von vorne beginnen, kennt ein jeder, der einmal ein Verfahren angestrebt hat. Die italienischen Justizzeiten sind ja als die längsten Europas bekannt.
Qualitativ gute Arbeitsplätze
Arbeit muss geschaffen werden. Sie fällt nicht vom Himmel und auch der Staat kann nur bis zu einem bestimmten Punkt mit öffentlichen Geldern Arbeitsplätze schaffen. Die Zeiten, in denen der Staat immer alles aufgefangen hat, sind, so glaube ich, endgültig vorbei. Das merkt man auch an der Arbeitslosenquote, die konstant steigt - mittlerweile auch bei uns in Südtirol.
Wird Renzi es schaffen, die dürren Äste des Baumes Italien zu schneiden, damit wieder qualitativ gute Arbeitsplätze geschaffen werden können, ohne die Absicherung der Sozialleistungen einbüßen zu müssen? Denn nurqualitativ wertvolle Arbeitsplätze sind auch mit guten Absicherungen für die Arbeitnehmerschaft verbunden.
Wir wollen alle hoffen. Etwas anderes bleibt uns ja nicht übrig.

Text: Katharina Tasser