Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser


Ingeburg GurndinIngeburg Gurndin

Der Tag der Solidarität wird heuer am Sonntag, 23. März begangen.
Er steht unter dem Thema „Solidarität und Gerechtigkeit“. Bischof Ivo Muser schreibt in seinem Bischofsbrief zum heurigen Tag der Solidarität „Ohne Solidarität gewinnen Individualismus, Gleichgültigkeit, Ungleichheit, sozialer Ausschluss, Armut, Streit die Oberhand.“ Dass wir das nicht wollen - als Christen nicht und als Menschen nicht - liegt auf der Hand.
An diesem Tag steht die Arbeit des Patronats KVW-ACLI im Mittelpunkt. Es bietet professionelle Beratung und Betreuung für alle Menschen im Land. Dies ist eine Form der Solidarität: die MitarbeiterInnen des Patronats helfen den Menschen, sie helfen, einen Rechtsanspruch auf eine Leistung einzufordern. Aufgrund der vielen und komplizierten Regelungen ist es einer normalen Bürgerin/einem normalen Bürger oft gar nicht möglich, einen Rentengesuch einzureichen oder um Arbeitslosengeld anzusuchen. Hier hilft das Patronat, das ist eine Form der Solidarität, die am 23. März in den Gottesdiensten in unserer Diözese im Mittelpunkt stehen wird.

Um Solidarität und Gerechtigkeit geht es auch im Vortrag von Erzbischof Giancarlo Maria Bregantini in Bozen. Auf Einladung des Patronats KVW-ACLI und der Diözese wird er in Bozen einen Vortrag halten (siehe Seite 7).

Ingeburg Gurndin

KVW Soziales

Was ist heute sozial?

Solidarität ist immer auch politisch zu organisieren
Soziale Unsicherheit scheint zu einem Merkmal der heutigen Gesellschaft geworden zu sein. Sozialer Abstieg und Verarmung werden von den Menschen, den Medien und der Politik vermehrt thematisiert.

Bischof Ivo MuserBischof Ivo Muser

Die soziale Frage ist in die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt. Alle Indikatoren weisen in dieselbe Richtung: Der Abstand zwischen oben und unten wird größer, der Armutssockel breiter, auch in Südtirol. Dies hat mit dazu beigetragen, dass Berichte über Verarmung, über Einkommen aus Arbeit, die zum Leben nicht reichen, über sozialen Abstieg - sowohl in den Medien als auch in Kreisen der Politik - vermehrt registriert werden. Überhaupt scheint soziale Unsicherheit ein Merkmal heutiger gesellschaftlicher Entwicklung zu sein.
Sozialer Kompromiss
In der langen Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in Europa ein sozialer Kompromiss durchgesetzt, der einen gewissen Ausgleich zwischen den Erwartungen der Unternehmen und der sozialen Absicherung gegenüber den großen Lebensrisiken für alle Bürger vorsah. Neue Entwicklungen wie Globalisierung, Arbeitsplatzverknappung, Migration, Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung, Überschuldung der öffentlichen Haushalte etc. bringen das, was traditionell mit dem Sammelbegriff Sozialstaatbezeichnet wird, in Bedrängnis. Das Tempo der Krise ist durch die Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten stark beschleunigt worden. Dies alles zusammengenommen bewirkt, dass Menschen in wachsender Zahl einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Die Angst vor sozialem Abstieg geht um; ein Unbehagen, das bis in die Mittelschicht hineinreicht. Hinzu kommt noch, dass die Handlungsspielräume der Politik enger werden. Insgesamt also ein Gemisch, bei dem aus ethischer, aber auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht, die Substanz des Sozialen auf dem Spiel steht.
Schutz der Schwachen
Der Sozialstaat in seiner klassischen Ausformung bietet Schutz bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit, Einkommensverlust im Alter, etc. Nur wenige können die großen Lebensrisiken aus eigener Kraft meistern. Risikovorsorge durch den Staat, Auffangnetze für Menschen in Notlagen und Eigenverantwortung gehören zum Einmaleins sozialer Intervention, auch und gerade in Zeiten sich ändernder Rahmenbedingungen.
„Technische“ Lösungen zur Bewältigung von wirtschaftlichen und sozialen Problemlagen, wie immer sie im Einzelnen aussehen mögen, sind stets dahingehend zu überprüfen, inwieweit sie einer humanen Wirtschafts- und Sozialordnung entsprechen. Mit anderen Worten: Immer ist zu achten auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen Markt und Moral, zwischen Gruppeninteressen und Gemeinwohl, zwischen Eigenverantwortung und Hilfen durch die Solidargemeinschaft. Wirtschaft und Ethik sind aufeinander bezogen. Beide Bereiche sind nicht identisch, aber auch nicht voneinander zu trennen. Ein besonderes Anliegen von Sozialpolitik ist der Schutz der Schwachen. Dieser Schutz ist heute insofern gefährdet, als sich ein Umgang mit den schwachen Gliedern der Gesellschaft breit macht, für den es bis vor kurzem noch moralische Hemmungen gab.
Solidarität ist politisch zu organisieren
Für die Kirche ist gelebte Solidarität zentral für das Gelingen menschlichen Zusammenlebens. Bei ihrer Parteinahme für das „Soziale“ knüpft die Kirche an das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter an. Sie sieht die Aufgabe der Gesellschaft nicht allein darin, den unter die Räuber Gefallenen zu pflegen. Es müssen auch die Straßen so gesichert werden, dass immer weniger Menschen unter die Räuber fallen.
Anders gesagt: Solidarität ist nicht nur eine persönliche Verpflichtung, Solidarität ist immer auch politisch zu organisieren. Leistungsfähige Wirtschaft und sozialer Ausgleich gehören zusammen. Wer diesen Zusammenhang preisgibt, der fügt dem Gemeinwesen Schaden zu.

Text: Bischof Ivo Muser