Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser


Ingeburg GurndinIngeburg Gurndin

Mit dieser Ausgabe starten wir eine neue Serie im Kompass. In allen sechs Ausgaben des Jahres 2014 werden Persönlichkeiten und Fachleute zu Wort kommen, die sich mit der Frage „Was ist sozial?“ auseinandersetzen. Wie wir im Wahlkampf vor den Landtagswahlen beobachten konnten, ist sozial ein Wort, das jeder gerne in den Mund nimmt, um gut dazustehen. Egal ob Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervertreter, ob rechts oder links, jede und jeder ist sozial.
Dadurch wird das Wort inflationär, schwammig. Es gibt keinen Konsens, was darunter zu verstehen ist.
Deshalb möchte der KVW der Frage „Was ist sozial“ auf den Grund gehen und hat bei verschiedenen Menschen im In- und Ausland um eine Stellungnahme angefragt.
Den Beginn macht Thomas Wallimann-Sasaki aus der Schweiz.
Ein weiteres Thema in der heißen Phase des Wahlkampfes war die Armut und die Armutsbekämpfung. Dies ist ein Thema, das der KVW schon immer verfolgt und aufgegriffen hat. In diesem Kompass nimmt der geistliche Assistent Josef Stricker dazu Stellung. Er erklärt, warum die Aufstockung der Mindestrenten nicht das geeignete Mittel gegen Armut ist, und welche anderen Möglichkeiten es gäbe. Armut im Alter ist ein Aspekt, bei der Sicherung vor Armut braucht es jedoch ein Mittel, das alle Menschen - unabhängig vom Alter - auffängt, falls sie von Armut bedroht sind.

Ingeburg Gurndin

KVW Soziales
Sozial im Wandel der Zeit

Was ist heute sozial?

Die Suche nach gerechter gesellschaftlicher Ordnung

Alles! So ließe sich die Antwort auf diese Frage auf einen kurzen Nenner bringen. Denn „sozial“ kommt aus dem Lateinischen. „Socialis“ bedeutet soviel wie „gesellig, gesellschaftlich, die Gesellschaft betreffend“ und hat seit dem 19. Jahrhundert eine riesige Ausweitung in seiner Bedeutung erfahren.Hat doch heute jede Frage, die irgendwie die Menschen in unseren Breitengraden bewegt, eine gesellschaftliche und damit soziale Dimension.
Dies hängt mit dem seit der Aufklärung gewandelten Verständnis zusammen, dass das Zusammenleben der Menschen, ihre Rollen, Machtverhältnisse und Aufgaben nicht einfach gott-gegeben sind, sondern die Menschen herausgefordert sind, das Zusammenleben selber zu ordnen und auf diese Weise Sozialpolitik zubetreiben und miteinander nach der „gerechten“ gesellschaftlichen Ordnung zu suchen und diese auch zu realisieren. Dies führt uns direkt zu den unterschiedlichen Vorstellungen, was als „gerecht“ angeschaut wird, zu Vorstellungen von Liberalismus, Kommunismus, Sozialismus und anderer Gesellschaftsordnungen.
Sozial =„gut“
Doch „sozial“ hat für den einzelnen Menschen nicht nur die beschreibende Bedeutung im Sinne von „geselliges“, „gesellschaftliches“ Wesen. Wird heute jemand als „sozial“ bezeichnet, meint man in der Regel dessen Einstellung und beschreibt diese als „mitmenschlich“. Sozial wirddamit zu einem modernen Begriff für das, was wir früher mit fürsorgerlich, barmherzig oder auch mitfühlend meinten. Wenn diese Haltungen heute im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Herausforderungen als „Gutmenschentum“ karikiert und häufig auch belächelt werden, weisen sie darauf hin, dass eben heutige Herausforderungen des Zusammenlebens nicht mehr von einzelnen allein bewältigt werden können: Gut gemeint ist zwar Voraussetzung, aber eben nicht alles! Es braucht Strukturen und es braucht darum auch einen Diskurs darüber, wie das Zusammenleben geformt werden soll – eben Sozialpolitik. Und somit sind wir wieder am Anfang unserer Überlegungen.
Sozial = Strukturen und ihre dahinterliegenden Wertordnungen
Die Frage nach der „gerechten Sozialordnung“ bei der Gestaltung des Zusammenlebens führt uns zu den Wertordnungen, die hinter unterschiedlichen Theorien der „richtigen“ Sozialpolitik stehen. Dies zeigt sich nicht nur im Umgang mit den Besten und Tüchtigsten, sondern oft besser mit jenenam Rand und den VerliererInnen einer Gesellschaft. Das Soziale muss darum immer wieder und von jeder politischen Richtung bestimmt, aber auch kritisiert und argumentativ begründet werden. Die gesellschaftliche Diskussion über das Soziale ist daher gerade nicht eine Angelegenheit jener, die als sozial gelten, sondern die Auseinandersetzung aller darüber, wie wir zusammen leben wollen.
Herausforderung für die Kirche
Gerade für den christlichen Glauben und die Kirche ist dies eine Herausforderung. Mit ihren Texten zur sozialen Situation der Arbeitenden seit dem 19. Jahrhundert zeigt etwa die katholische Kirche, dass christlicher Glaube eben wesentlich auch in der Gestaltung der Welt zum Ausdruck kommt. Das Soziale liegt von daher im Kern des christlichen Glaubens – und kommt nicht nur im individuell karitativen oder diakonischen zum Ausdruck, sondern eben maßgeblich auch da, wo sich Katholikinnen und Katholiken wie auch die Kirche selber zu gesellschaftlichen Fragen äußern. Papst Franziskus knüpft hier an die Tradition an, die in der Welt selber zuerst einmal sieht, was vor sich geht, diese Entwicklungen analysiert und mit den Wertordnungen christlicher Gesellschaftsgestaltung ins Gespräch bringt. Was also Personalitäts-, Gemeinwohl-, Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip (die „goldenen“ Maßstäbe christlicher Gerechtigkeitsvorstellungen) konkret bedeuten, muss darum immer wieder neu vor Ort erkundet und erkämpft werden. Das Soziale bleibt darum immer Einladung und Aufgabe.
Zur Person
Thomas Wallimann-Sasaki, ist promovierter Sozialethiker und Theologe. Er leitet das Sozialinstitut der KAB Schweiz in Zürich. Aus christlich-ethischer Perspektive in der Tradition der Soziallehre der Kirche analysiert und kommentiert er gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Ehrenamtlich ist er zudem Präsident a.i. von Justitia et Pax, der sozialethischen Kommission der Schweizer Bischofskonferenz.

Text: Thomas Wallimann-Sasaki