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Nach der Pandemie kommt eine neue soziale Frage

Die Umwälzungen in der Arbeitswelt wie Digitalisierung und Robotisierung haben sich durch das Virus beschleunigt. Dadurch ändert sich auch die Sozialgestalt der Gesellschaft, es gibt Verliererinnen und Verlierer. Eine neue soziale Frage stellt sich.
Die „verlorene Generation“: Kinder und Jugendliche gehören zu den Pandemie-verlierenden
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am 26.10.2020 in ihrem Podcast, dass nach der Pandemie auf die Gesellschaft eine neue soziale Frage zukommt. Zunächst aber ein Blick zurück zur alten sozialen Frage.
Die alte soziale Frage
Der Begriff „Soziale Frage“ steht für einen bruchartigen Umbau einer Gesellschaft in geistiger, technologischer, sozialer und politischer Hinsicht. Ein solcher Umbruch ereignete sich am Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Menschheit hatte gelernt, die Natur nicht mehr nur zu erleiden, sondern zu gestalten. Ein technologischer Aufschwung fand statt. 1769 hatte James Watt die Dampfmaschine für die Produktion einsetzbar gemacht. Das neue Produktionsmittel hat die Produktionsweise dramatisch verändert. Nunmehr fertigte ein Tischler nicht mehr einen ganzen Stuhl in einem einzigen Vorgang. Vielmehr wurde die Herstellung von Gütern in kleine Arbeitsschritte zerlegt. Nicht mehr Werkzeuge kamen zum Einsatz, sondern Maschinen. Damit löste sich die alte ständische Gesellschaftsordnung auf. Handwerker, aber auch Mägde und Knechte in der Landwirtschaft verloren ihre Arbeit. Landflucht setzte ein. Immer mehr zogen zu den Fabriken, die rund um die rasch wachsenden Städte gebaut wurden. Aus der ständischen Gesellschaft wurde unter starken sozialen Wehen die Klassengesellschaft. Mit dem sozialen Stand verloren die Menschen ihre Rechte und ihren Schutz. Viele wurden Teil des ausgebeuteten Industrieproletariats und lebten mit ihren Familien im Elend. Der christliche Sozialdenker Carl Freiherr von Vogelsang beschrieb deren miese Lage in der Zeitschrift „Vaterland“.
Es fanden sich auch alsbald „Lösungsvorschläge“: Die Arbeiter organisierten sich, angeleitet durch Karl Marx und sein kommunistisches Manifest (1848). Aber auch wache Christen nahmen sich der Verelendeten an und suchten nach Abhilfe: Christliche Ansätze dazu gab es schon vor Karl Marx. 1891 schrieb Leo XIII. seine bahnbrechende Enzyklika „Rerum novarum“ (frei übersetzt „Die neuen Verhältnisse“). Wir feiern gerade das 130-Jahre-Jubiläum. Es gab auch einsichtige „liberale“ Unternehmer, die aus freien Stücken für die Arbeitenden „aus wohlverstandenem Selbstinteresse“ bessere Bedingungen geschaffen haben. Sie wussten, dass gesunde Kühe mehr Milch geben, gesunde Arbeiter mehr leisten. Diese Ideen vertreten heute nach wie vor die Neoliberalen. Aber auch ihnen gilt die historische Erfahrung, die der französische Dominikaner Jean Baptist Lacordaire (1802 - 1861) in einer Predigt in der Kathedrale Notre Dame in Paris mit Blick auf die Frühindustrialisierung in England so formuliert hatte: „Man muss der Freiheit immer Gerechtigkeit abringen!“
Der soziale Kampf war erfolgreich, wenngleich er in blutigen Revolutionen viel Leid gebracht und Jahrzehnte gedauert hat. Das Ergebnis kann sich bis heute sehen lassen: Es ist der europäische Sozialstaat, durch den die großen Risiken moderner Gesellschaften wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Altersversorgung abgesichert sind.
Neue soziale Frage
Nun kommt eine neue soziale Frage auf uns zu. Wieder ist es die Technik, welche sie anstößt – nach der Industrialisierung die Informatisierung. Sie geht einher mit der Roboterisierung, Digitalisierung und zudem Globalisierung. Von Robotern, für die keine Sozialversicherung bezahlt werden muss, wird den Menschen Arbeit ab-, damit aber auch weggenommen. Natürlich schafft dieser Vorgang auch neue Arbeitsplätze. Für diese werden aber andere Qualifikationen benötigt. Es wird viel Umlernen bei jenen brauchen, welche in der bisherigen Gesellschaft ihren Arbeitsplatz verlieren. Das wird das gesellschaftliche Gefüge verändern. Die Industriearbeiterschaft wird schrumpfen. Dienstleistungsberufe (wie Pflege) und Berufe für Hochqualifizierte im IT-Bereich werden zunehmen. Dieser Umbau wird, so vermuten Fachleute, neuerlich Generationen lang brauchen. In der Zeit des sozialen Umbaus werden viele an den Rand der Armutsgrenze gelangen. Die Maschinenbesitzer werden gewinnen, ohne dafür wie bisher Menschen anstellen und bezahlen zu müssen.
Diese Entwicklung zur Digitalisierung wurde nun in der Zeit der Pandemie beschleunigt. Um die Kontakte zu verringern, wurde Homeoffice eingeführt. Die Bildung wurde auf Homeschooling umgestellt. Und nach dem Schließen der Kirchen haben viele mit „Home-Service“, virtuellen Gottesdiensten und anderen pastoralen Formaten im Netz begonnen. Manche meinen, das sei ein Übergangsphänomen, weil z.B. ein Gottesdienst vom analogen Zusammenkommen lebt und weil schulische Bildung auf die Klassengemeinschaft und den Schulhof samt Schulweg nicht verzichten kann.
Pandemieverlierende
Diese beschleunigte Digitalisierung wird enorme sozialen Folgen zeitigen. Zwar haben von dieser mühsamen Zeit auch manche gewonnen. Es gab Pandemie-Gewinner: den Onlinehandel, die Post, den Lebensmittelhandel, die Hersteller von Impfstoffen. Aber es gab zugleich eine große Zahl von Pandemieverlierenden. Zu diesen zählen in meiner Studie:
Die Eltern, die vom Homeschooling überfordert waren (nur ein Viertel der Befragten meint, sie seien gut damit zurechtgekommen);
Zu den Verlierenden gehören auch Familien, in denen in der Pandemie häusliche Gewalt zugenommen hat;
Besonders verloren haben Alleinerziehende, Väter und weitaus mehr Mütter: sie mussten lange ohne Entlastung Beruf und Familie unter erschwerten Bedingungen unter einen Hut bringen;
Zu den Verlierenden zählt die junge Generation, die inzwischen eine „verlorene Generation“ genannt wird. Ihr wurde zugunsten der Älteren viel an Solidarität abverlangt. Sie zahlte aber einen hohen Preis: Denn das Homeschooling hat nicht nur Bildungsdefizite hinterlassen, sondern auch verwundete Seelen bei Kindern und Jugendlichen;
Zu den Pandemieopfern zählen nicht zuletzt die Vergessenen: auf der einen Seite die Migrantinnen und Migranten, auf der anderen Seite der Klimawandel. Es ist erfreulich, dass in der Klimafrage dank eines einsichtigen neuen amerikanischen Präsidenten die Welt bei allen politischen Unterschieden zusammenrückt und sich dem Klimawandel gemeinsam stellt. Es ist das eine Welthaus, das bewohnbar bleiben muss, und zwar auch und gerade für die kommenden Generationen, von denen wir die Erde nur geliehen haben.
Geforderte Kirchen
Ob die Kirchen und ihre sozialen Einrichtungen sowie jene, die für die sozialen Lehren verantwortlich sind, sich rechtzeitig dieser neuen sozialen Frage stellen? Haben wir engagierte Pfarrgemeinden, welche in ihrem Pastoralraum jene Menschen aufspüren, die in ihrer nicht selbst verschuldeten Armut verschämt unter ihnen leben? Unterstützen die Kirchen eine Politik, welche gleichzeitig Armut und Klima, Ökonomie und Ökologie in den Blick nimmt? Treffen kirchliche Organisationen, wie die Katholische Aktion, eine Option für die „neuen Armen“, die Digitalisierungs- und Pandemieverlierenden?
Papst Franziskus gehört zur Vorhut. Er legt den Finger in die vielen heute schwelenden Wunden: die Wunden der Natur, die Wunden der Ungerechtigkeit, die Wunden, denen ein unsolidarischer Reichtum den Reichen selbst zufügt und ihre Seelen letztlich arm macht. Es braucht auch in der Zeit der schon angebrochenen neuen soziale Frage rasche Hilfe für die Opfer, aber auch einen ökosozialen Einsatz, damit es morgen weniger Opfer zu beklagen gibt. Es ist dann wohl zu wenig, nur rasch die Wirtschaft hochzufahren, um Arbeitsplätze zu sichern. Besser wird es sein, die Wirtschaft, den Tourismus, die Kleinbetriebe und den Handel nachhaltig so zu fördern, dass es zugleich die Mitwelt und das Klima verschont und den Armen der Welt Hoffnung macht. Das alles ist möglich. Auch wir Christinnen und Christen können dazu beitragen, indem wir solidarisch helfen und zugleich eine solidarische Politik in allen Bereichen der Gesellschaft entwickeln und unterstützen.
Mehr dazu in: Zulehner, Paul M.: Bange Zuversicht. Was die Menschen in der Corona-Krise bewegt, Ostfildern 2021.
TEXT: Paul M. Zulehner

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Was Menschen in der Coronakrise bewegt

Die Coronakrise zeigt uns, dass unser Leben neu ausgerichtet werden muss. Mit unserem Streben nach „immer mehr, immer schneller, immer größer“ haben wir eindeutig Grenzen erreicht, wenn nicht sogar überschritten. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass das gesamte öffentliche Leben der Gesundheit wegen ausgesetzt werden könnte. Wir haben es im vergangenen Jahr erlebt: ein Virus kann die gesamte Weltwirtschaft zum Erlahmen bringen. Diese neue Herausforderung hat auch unser Zusammenleben auf eine harte Probe gestellt. Wir mussten beweisen, dass Solidarität mehr ist als ein Lippenbekenntnis. Die Frage: „Bin ich bereit, mich für die Allgemeinheit einzuschränken, einen Beitrag für die Mitmenschen, denen es nicht so gut geht zu leisten oder steht meine persönliche Einstellung über allem Anderen?“ beschäftigt uns weiterhin. Die gewonnenen Erfahrungen sollten nach dieser Krisenzeit zu einem besseren Miteinander führen. Jetzt sind viele Menschen bereit umzudenken – als KVW wollen wir diesen günstigen Moment nutzen und unsere christliche Überzeugung bewusst leben und uns als Sprachrohr der Schwächeren einsetzen.
TEXT: Werner Steiner