Thema

Ein Virus verändert die Welt

Herausforderung: Freiheiten und Schutz zusammenbringen
Das Virus hat zu einer Entschleunigung geführt. Vieles, was lange selbstverständlich war, war es nun nicht mehr. Vor allem wurde die Frage gestellt, ob etwas unaufhörlich wachsen kann und muss.
Josef Stricker, 
bis September 2019 
geistlicher Assistent im KVW
Wir sind Zeugen eines einzigartigen, noch dazu globalen Stillstands, der so von keiner Generation vor uns erlebt worden ist. Natürlich steht nicht alles still. Aber wenn man die Verkehrsströme anschaut, viele Produktionsleistungen, den ganzen Kultur- und Sportbetrieb, dann haben wir es mit einem Stillstand, mit einer Entschleunigung zu tun, die in dieser Radikalität niemand von uns sich hätte vorstellen können. Das ist die eine Seite. Die andere gibt es freilich auch. In vielen Bereichen ist es durch das Virus erst richtig losgegangen. Denken wir an die Krisenzentren, an die Krankhäuser und Altenheime oder auch an die digitale Welt. Viele Menschen flüchten sich in die digitalen Netzwerke. Das Virus hat uns in vielerlei Hinsicht eine Art „Innehalten“ aufgezwungen. Wir müssen Ruhe geben, können unseren gewohnten Lebensstil nicht einfach fortsetzen. Das färbt ab auf unsere Lebensführung, auf die Art und Weise, wie soziale Beziehungen gelebt und gestaltet werden. Die Veränderungen können unter den Oberbegriff Entschleunigung zusammengefasst werden. Die moderne Vorstellung, dass alles unaufhörlich wachsen muss, um die Infrastruktur, die Arbeitsplätze, das Gesundheits- und Rentensystem, den Kulturbetrieb und viele andere Dinge aufrechtzuerhalten, ist durch das Virus in Frage gestellt worden.
Alle und alles ist verwundbar
Das Virus hat uns die Augen geöffnet, dass der Fortschritt, die Welt, ja das ganze Leben verwundbar sind. Das Virus ist kein großer Gleichmacher, nicht alle sind gleich betroffen. Aber selbst die besonders Schlauen, die besonders Reichen müssen erfahren, dass sie sich vor dem Virus nicht allein retten können.
Der Staat ist wieder zurück
In der Pandemie rufen alle nach dem Staat. Der Staat ist jetzt zurück, nicht als autoritärer Staat, der uns diktiert, wie wir zu leben haben, sondern als ein Staat, der auf solidarischer Einsicht beruht. Das war in den hinter uns liegenden Jahren nicht immer so. Seit beinahe einem halben Jahrhundert handelte man nach der Losung: weniger Staat, maximale individuelle Freiheit. Der Staat wurde gehandelt als Instanz des Versagens, der Markt gepriesen als Garant des Gelingens. Das Virus hat uns abrupt herausgeführt aus einer langen Periode, in der wir das Ich gefeiert haben. Jetzt sind wir an einen Punkt angelangt, an dem nicht mehr Freiheit die große Formel sein kann. Die neue Formel lautet: Freiheit und Schutz zusammenzudenken. Dies wird die große Herausforderungen der nächsten zehn bis zwanzig Jahre sein.
Folgen der Pandemie
Niemand kann heute schon abschätzen, wie groß die Verwüstungen sein werden, die das Virus hinterlassen hat, wenn die Pandemie dereinst vorbei sein wird. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dürften verheerend ausfallen; auch können wir heute nicht wissen, was Corona in der Psyche der Menschen angerichtet hat durch den plötzlichen Bruch in der gewohnten Arbeits- und Lebenswelt der Menschen: unsicherer Arbeitsplatz, Einkommensverlust, Vereinsamung, Konflikte in der Familie, Überforderung durch zusätzliche Aufgaben, die eigenen Kinder zu betreuen, den Schulstoff zu vermitteln usw.
Bereitschaft zu helfen
Corona hat gezeigt, wenn es darauf ankommt, können wir solidarisch sein. Wir waren zu einem gemeinschaftlichen Kraftakt in der Lage. Meine Befürchtung für die Zukunft ist eher: Wenn die heiß ersehnte „Normalität“ zurückkommt, dass dann viele Hoffnungen sich wieder verflüchtigen, dass die Bereitschaft zu helfen und sich zurückzunehmen sowie die Verantwortung gegenüber anderen wieder nachlassen. Solidarität, Gemeinsinn sind halt keine Selbstläufer.

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Was macht das Virus aus und mit uns?

Das Narrativum der Gesundheit




Sabine Moser und Andreas Conca gehen der Frage nach, was das Virus mit uns Menschen macht. Sie zeigen auf, dass Ungleichheiten offensichtlich werden. Die Pandemie wirkt wie ein Stresstest, Stärken und Schwächen in einem System werden sichtbar.
Sabine Moser,
Psychologin und 
Psychotherapeutin, 
Krankenhaus Bozen
Primar Andreas Conca,
Direktor des psychiatrischen Dienstes im Gesundheitsbezirk Bozen
Am 4. März 2020 wurden alle Schulen geschlossen und ein paar Tage später am 9. März begann der erste Shutdown.
Aber was war vorher? Seit etlichen Jahrzehnten ging es uns Menschen, in den westlichen Industriestaaten, so gut wie lange nicht mehr. Wir konnten uns frei fühlen und ein selbstbestimmtes Leben in Sicherheit führen, ganz anders als manch‘ unserer Eltern oder Großeltern.
Dieses Gefühl von Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmtheit haben viele von uns gar nicht so bewusst wahrgenommen. Seit dem Beginn der Virusepidemie und den damit zusammenhängenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen/schulischen und psychischen Auswirkungen, ist diese Selbstverständlichkeit erschüttert worden.
Armut verstärkt sich
Die Pandemie wirkt sich auf alle Bereiche unserer Gesellschaft aus, hat das Leben eines jeden Einzelnen in irgendeiner Art und Weise verändert und das weltweit. Was ursprünglich wie ein Blitz aus heiterem Himmel empfunden wurde, ist nun zu einem dauerhaft anmutenden Ausnahmezustand geworden. Durch den dabei vielfach erfahrenen Kontrollverlust werden die unterschiedlichsten Reaktionen ausgelöst und Polarisierungen stehen auf der Tagesordnung. So verstärkt sich die sozial-wirtschaftliche Armut zwischen Industrie- und Schwellenstaaten, was sich radikal auch in ethischen Fragen widerspiegelt; so z.B. bietet nur 1 auf 10 Schwellenländer Impfmöglichkeiten an, die vergleichbar mit den Industriestaaten sind. Aber auch innerhalb der 1. Staaten bröckelt es. So lassen konkrete Zahlen aufhorchen, die schonungslos aufzeigen, dass in den USA Frauen, Afroamerikaner, Indianer und Latinos überzufällig häufig an Covid-19 erkranken und sterben.
Andererseits konnten wir aber auch einen starken Zusammenhalt in der Bevölkerung erkennen, geprägt von Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung. Trotzdem gab es von Anfang an kritische Menschen, die sich von diesem Solidaritätsgedanken abgrenzten oder sich misstrauisch verhielten, sowie die Gruppe der eigentlichen Verschwörungstheoretiker; und die Zahl ist eindeutig am Steigen. Krisensituationen bestätigen und verstärken tendenziell immer bereits bestehende soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten.
Zum Beispiel sind Frauen, Mütter und Alleinerziehende neben der Weiterführung ihrer beruflichen Tätigkeit, wie selbstverständlich, mit der unbezahlten familiären Care-Arbeit weitgehend alleine gelassen worden. Die psycho-physische Sicherheit und Unversehrtheit von Frauen und Kindern ist seit den Einschränkungen mehr gefährdet als zuvor. Die Lern- und Kompetenzentwicklung mancher Schulkinder scheint unter den langen Lernpausen und dem Homeschooling ebenso gelitten zu haben. Auch die kreativen Räume zur Mutentfaltung, Identitätsfindung und Meinungsbildung sind Mangelware: Bildung, Bewegung und Begegnung sind eingeschränkt, was sich auch auf Senioren auswirkt.
Schutz durch Abschottung
Menschen im 3. Alter wurden als Risikogruppe identifiziert und durch Verordnungen geschützt aber gleichzeitig auch von der Außenwelt und ihren Lieben abgeschottet, mit einem kleinen Schönheitsfehler: sie wurden nie in die Entscheidung miteingebunden. Hier tut sich ein wirkliches Dilemma auf, nämlich das zwischen individueller Freiheit von Menschen, die ihren Lebensabend verbringen, und ihrer Entmündigung über ihre körperliche Unversehrtheit weise entscheiden zu können.
Jeder Mensch im 3. Alter hat im übertragenen Sinne mindestens 15 Bücher mit je 300 Seiten verfasst. So müssen wir uns die Frage stellen, ob dieser Reichtum an Lebenserfahrung vor Covid-19 gebührend geschätzt wurde und genügend sozial integriert war.
Allgemein gelten Krisensituationen als Stresstest: sie decken ohne wenn und aber Schwächen und Stärken eines Systems auf. Sie legen offen, welche soziale, wirtschaftliche, technische und ethische Rücklagen, im Sinne eines Risikomanagements, gebildet worden sind.
Krisen decken Stärken und Schwächen auf
Was bedeutet das Ganze aber für den Einzelnen? Seit über 365 Tagen bestimmt die Pandemie unseren persönlichen Alltag. Für viele von uns ist sie, in unterschiedlichem Ausmaß, zu einer Dauerbelastung geworden. Dies beeinflusst wiederrum unser Denken, Fühlen, Erleben, Handeln und löst die verschiedensten Gefühle aus. Unsicherheit, Erschöpfung, Frust, Ärger, Überforderung, Hilflosigkeit aber auch die Lust zum Abenteuer und der aktiven Gestaltung machen sich breit.
Zukunfts- und Existenzängste, sowie die Angst um die eigene Gesundheit spielen dabei eine treibende Rolle. Die virusbedingten Sicherheitsvorschriften und die AHA-Regel wirken sich oftmals ungünstig auf die Ernährungs-, Bewegungs- und Hygienegewohnheiten, sowie Freizeitaktivitäten vieler Menschen aus. Depressionen, Schlaf-, Ess-, Angst- und Zwangsstörungen, sowie verstärktes Suchtverhalten können die Folge sein.
Soziale Kontakte beschränkt
Dazu kommt, dass diese aktuelle Situation auch im Zusammenleben viel verändert hat. Unsere gewohnten zwischenmenschlichen Interaktionen und lieb gewonnen Gewohnheiten wurden bis auf Weiteres destabilisiert. Man darf sich nicht mit Freunden treffen. Die sozialen Kontakte beschränken sich auf den engsten Familienkreis und auf den Arbeitsplatz oder finden in digitaler Form statt. Manche Familien sind gezwungen, rund um die Uhr und auf engstem Raum zusammen zu leben, sodass kaum Platz für Privatsphäre ist.
Die Einschränkungen und die sich ständig ändernden Bestimmungen, wenn auch nachvollziehbar, erfordern von uns allen ein hohes Maß an Flexibilität, Frustrationstoleranz und Anpassungsfähigkeit.
Trotz alledem sind viele von uns durch den Lockdown offen für neue, alternative Möglichkeiten von Freizeit- und Beziehungsgestaltung geworden und haben gelernt mit den Eingrenzungen konstruktiv und kreativ umzugehen. In der Arbeitswelt haben durch den rapiden Digitalisierungsprozess ebenfalls große Veränderungen stattgefunden. Schon längst fällige gesellschaftliche Themen sind wieder aufgegriffen und Potentiale sichtbar gemacht worden, wie z.B. im Bereich der Modernisierung des Bildungswesens, Gleichstellung der Frauen, Wert der Care-Arbeit, Umwelt-, Natur- und Klimaschutz u.v.m.
Neuer Gesundheitsbegriff
Hinter jeder Krise stecken auch Chancen. Die Frage, die noch offen ist: werden wir so klug sein und diese günstige Gelegenheit nachhaltig ergreifen?
Wenn uns dieser Stresstest aber schon jetzt eines definitiv gelehrt hat, dann ist es, dass der Gesundheitsbegriff nicht als ein ganz individueller und ein rein körperlicher/seelischer Zustand verstanden werden kann, sondern über die Generationen hinaus und quer durch die gesamte Gesellschaft definiert werden muss.
Gesundheit geht uns alle an und ganz im Sinne Dumas: Einer für alle und alle für einen. Lassen Sie uns die Jahrhundertaufgabe anpacken.