Thema

Was Menschen in der Krise bewegt

Fünf Thesen von Paul M. Zulehner, Theologe und Priester aus Wien
Für die einen hat die Gesundheit Vorrang, für andere die Freiheit, die einen wollen die Wirtschaft in ihrer gewohnten Gestalt rasch hochfahren, während andere die Zeit nach Corona als Chance sehen, die Wirtschaft ökosozial umzugestalten. 

Paul M. Zulehner hat mit einer interkontinentalen Online-Umfrage Antworten auf die Frage „Was Menschen in der Corona-Krise bewegt“ gesucht. Dazu hat er einen Fragebogen erarbeitet und im Juli 2020 in zehn Sprachen ins Netz gestellt. Die Antworten wurden ausgewertet und im November wurden die wichtigsten Erkenntnisse in fünf Thesen präsentiert.
Die Gesellschaften erweisen sich in vielen Aspekten des Lebens und Zusammenlebens als tief gespalten. Geteilter Ansicht sind die Studienteilnehmenden bei der Abwägung zwischen Menschenrechten und Grundwerten.
1. These: Die Weltgemeinschaft braucht Brückenbauer.
Was die Gesellschaft in solchen Zeiten sehr gut brauchen kann, sind „Brückenbauer“. Sie bringen Menschen an einen runden Tisch, ermöglichen einen friedfertigen Dialog. Als Brückenbauer können Bildungseinrichtungen wirken, die für professionellen Dialog bürgen, oder Religionsführer oder Basisgruppen wie San Egidio.
2. These: Es geht nicht ohne die Kunst des Balancierens.
Die Gesellschaft braucht gerade in der Pandemiezeit nicht nur Brückenbauerinnen, sondern auch Balancierer.
Keines der Grundrechte ist sozial­ethisch besehen absolut, sieht man von der Menschenwürde ab. Jene, die politische Verantwortung tragen, müssen daher den Mut haben, gegebenenfalls Grundrechte einzuschränken. Das haben die Regierenden zumeist auch gemacht. Sie haben sich für den Gesundheitsschutz von Risikogruppen entschieden und andere Rechte und Interessen zurückgestellt. Dafür haben Regierende in der Corona-Studie reichlich Verständnis, Lob und Dankbarkeit geerntet. Verantwortlichen wird von der Bevölkerung auch zugestanden, dass sie – wie ja auch die fachkundigen Beraterinnen und Berater aus der Wissenschaft – unvermeidlicherweise Lernende waren und daher auch Fehler gemacht haben.
3. These: Es kommt eine neue soziale Frage auf uns zu.
Breit wird in der Studie die Digitalisierung diskutiert: Arbeit und Bildung wurden in der Form von Homeoffice und Homeschooling nach Hause verlagert. Die Digitalisierung wurde nicht durch das Virus erfunden, wohl aber durch dieses beschleunigt. Digital wird normal, so die Meinung vieler. Damit geht die Roboterisierung und Digitalisierung vieler wirtschaftlicher Bereiche rascher voran. Das wird herkömmliche Arbeitsplätze kosten, wenngleich auch neue entstehen.
Auf die modernen Gesellschaften kommt eine neue soziale Frage zu. Diese speist sich aus zwei Quellen: von der Digitalisierung sowie von den Nachwirkungen der durch die Pandemie verursachte Wirtschaftskrise. Zum Meistern dieser neuen sozialen Frage braucht es eine gute Anwaltschaft für jene, die sozial unter die Räder kommen.
4. These: Die Ökologisierung der Öko-nomie ist eine Herkulesaufgabe.
So gewaltig die Herausforderung durch die Pandemie für die Menschheit ist: Die Menschen, die sich an der Umfrage beteiligt haben, stufen die Bedrohung durch einen Klimakollaps noch größer ein. Die Politik in der Coronazeit hat ihnen Hoffnung gemacht, dass ein ähnlich entschlossenes Handeln auch hinsichtlich der Klimakrise möglich und politisch den Bevölkerungen zumutbar ist. Es braucht eine breite ökologische Initiative. Diese betrifft sowohl den Lebensstil der Bürgerinnen und Bürger als auch eine Ökologisierung des Wirtschaftens und damit einen Umbau der Wirtschaft in eine ökosoziale Marktwirtschaft.
5. These: Auch Gott verschwand im Lockdown.
Auch das kirchliche Leben wurde durch den Ausbruch der Pandemie jäh heruntergefahren. Aus den analogen Versammlungen wurden virtuelle Darbietungen mit hoher Qualität. Die längere Unterbrechung von sonntäglichen Zusammenkünften hat Gewohnheitschristen weiter entwöhnt: Es werden daher nach der Pandemie weniger Menschen zur Kirche gehen, so viele in der Umfrage. Lebendige Pfarrgemeinden machten dadurch Gemeinschaft erfahrbar, dass sie sich um die Einsamen kümmerten, telefonierten, einkauften und sich zu gegebener Zeit über das Internet zu Gottesdiensten vereinbarten.

Paul M. Zulehner. Bange Zuversicht.
Was Menschen in der Corona-Krise bewegt.
Patmos-Verlag, 2020.

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Ein Virus verändert die Welt

Herausforderung: Freiheiten und Schutz zusammenbringen
Das Virus hat zu einer Entschleunigung geführt. Vieles, was lange selbstverständlich war, war es nun nicht mehr. Vor allem wurde die Frage gestellt, ob etwas unaufhörlich wachsen kann und muss.
Josef Stricker, 
bis September 2019 
geistlicher Assistent im KVW
Wir sind Zeugen eines einzigartigen, noch dazu globalen Stillstands, der so von keiner Generation vor uns erlebt worden ist. Natürlich steht nicht alles still. Aber wenn man die Verkehrsströme anschaut, viele Produktionsleistungen, den ganzen Kultur- und Sportbetrieb, dann haben wir es mit einem Stillstand, mit einer Entschleunigung zu tun, die in dieser Radikalität niemand von uns sich hätte vorstellen können. Das ist die eine Seite. Die andere gibt es freilich auch. In vielen Bereichen ist es durch das Virus erst richtig losgegangen. Denken wir an die Krisenzentren, an die Krankhäuser und Altenheime oder auch an die digitale Welt. Viele Menschen flüchten sich in die digitalen Netzwerke. Das Virus hat uns in vielerlei Hinsicht eine Art „Innehalten“ aufgezwungen. Wir müssen Ruhe geben, können unseren gewohnten Lebensstil nicht einfach fortsetzen. Das färbt ab auf unsere Lebensführung, auf die Art und Weise, wie soziale Beziehungen gelebt und gestaltet werden. Die Veränderungen können unter den Oberbegriff Entschleunigung zusammengefasst werden. Die moderne Vorstellung, dass alles unaufhörlich wachsen muss, um die Infrastruktur, die Arbeitsplätze, das Gesundheits- und Rentensystem, den Kulturbetrieb und viele andere Dinge aufrechtzuerhalten, ist durch das Virus in Frage gestellt worden.
Alle und alles ist verwundbar
Das Virus hat uns die Augen geöffnet, dass der Fortschritt, die Welt, ja das ganze Leben verwundbar sind. Das Virus ist kein großer Gleichmacher, nicht alle sind gleich betroffen. Aber selbst die besonders Schlauen, die besonders Reichen müssen erfahren, dass sie sich vor dem Virus nicht allein retten können.
Der Staat ist wieder zurück
In der Pandemie rufen alle nach dem Staat. Der Staat ist jetzt zurück, nicht als autoritärer Staat, der uns diktiert, wie wir zu leben haben, sondern als ein Staat, der auf solidarischer Einsicht beruht. Das war in den hinter uns liegenden Jahren nicht immer so. Seit beinahe einem halben Jahrhundert handelte man nach der Losung: weniger Staat, maximale individuelle Freiheit. Der Staat wurde gehandelt als Instanz des Versagens, der Markt gepriesen als Garant des Gelingens. Das Virus hat uns abrupt herausgeführt aus einer langen Periode, in der wir das Ich gefeiert haben. Jetzt sind wir an einen Punkt angelangt, an dem nicht mehr Freiheit die große Formel sein kann. Die neue Formel lautet: Freiheit und Schutz zusammenzudenken. Dies wird die große Herausforderungen der nächsten zehn bis zwanzig Jahre sein.
Folgen der Pandemie
Niemand kann heute schon abschätzen, wie groß die Verwüstungen sein werden, die das Virus hinterlassen hat, wenn die Pandemie dereinst vorbei sein wird. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dürften verheerend ausfallen; auch können wir heute nicht wissen, was Corona in der Psyche der Menschen angerichtet hat durch den plötzlichen Bruch in der gewohnten Arbeits- und Lebenswelt der Menschen: unsicherer Arbeitsplatz, Einkommensverlust, Vereinsamung, Konflikte in der Familie, Überforderung durch zusätzliche Aufgaben, die eigenen Kinder zu betreuen, den Schulstoff zu vermitteln usw.
Bereitschaft zu helfen
Corona hat gezeigt, wenn es darauf ankommt, können wir solidarisch sein. Wir waren zu einem gemeinschaftlichen Kraftakt in der Lage. Meine Befürchtung für die Zukunft ist eher: Wenn die heiß ersehnte „Normalität“ zurückkommt, dass dann viele Hoffnungen sich wieder verflüchtigen, dass die Bereitschaft zu helfen und sich zurückzunehmen sowie die Verantwortung gegenüber anderen wieder nachlassen. Solidarität, Gemeinsinn sind halt keine Selbstläufer.