Thema

Die Digitalisierung menschlich gestalten

Jahresthema des KVW für 2020-2021
„digital. kompetent. menschlich“ lautet das Jahresthema fürs Arbeitsjahr 2020-21. Die Digitalisierung ist ein Prozess, der enorm schnell voranschreitet und in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Das ist für den KVW Anlass genauer hinzuschauen, diese Entwicklung vor dem christlichen Werthorizont zu betrachten und sich zu fragen, welchen Beitrag der KVW zur Gestaltung der Digitalisierung leisten kann. Das Hauptanliegen bleibt - wie soll es anders sein -, dass der Mensch im Mittelpunkt der Entwicklung zu stehen hat. In diesem Sinne wollen die KVW Gremien und die Ortsgruppen ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie sich informieren und die eigenen Spielräume für eine menschliche Ausgestaltung der Digitalisierung nutzen und Mitstreiter*innen dafür gewinnen.
KARL H. BRUNNER
geistlicher Assistent im KVW
Die Digitalisierung ist in aller Munde, von manchen wird sie als Allheilmittel gepriesen, andere sehen darin fast schon den Untergang der Zivilisation. Wie so häufig, werden die Extrempositionen der Sache nicht gerecht.
Digitalisierung ist Realität
„Die digitale Revolution ist keine Frage, die man bejaht oder verneint, sie findet statt. Und sie ist noch wirkmächtiger als die Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts – vor allem ist ihre Geschwindigkeit atemberaubend.“ Mit diesem Zitat des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier wird deutlich, dass wir uns in einem Prozess befinden, der uns – ob wir wollen oder nicht – betrifft. Es wäre naiv, so zu tun, als ob man ihm entrinnen könnte, als ob es reichte, einfach kein Handy zu verwenden und schon wäre „das Problem“ gelöst. Andererseits ist die Digitalisierung ein Prozess, der von Menschen gemacht ist und damit auch gestaltet werden kann. In dieser Spannung gilt es einen eigenen begründeten Standpunkt zu finden – aber wie?
Eine Methode für den Hausverstand
Die christliche Arbeiter*innen­bewe­gung hat sich eine Methode gegeben, wie sie in solchen Situationen vorgeht: sehen – urteilen – handeln. Es geht darum, sich zuerst einen Überblick zu verschaffen und die Situation zu analysieren. In einem zweiten Schritt wird die so gewonnene Erkenntnis aufgrund der Werthaltung der christlichen Soziallehre beurteilt und schließlich können sinnvolle Handlungsoptionen festgelegt werden.
Einen Überblick verschaffen - SEHEN
„Digitalisierung“ meint zwei unterschiedliche Dinge: Einerseits geht es darum, etwas von einem analogen in einen digitalen Zustand zu überführen (z.B. Karteikarten in der Bibliothek durch eine Computerdatei ersetzen) und andererseits wird darunter ein Prozess verstanden, der als digitale Transformation bezeichnet wird (die Veränderung durch die Digitalisierung in unserer Gesellschaft, Wirtschaft, Demokratie, …).
Die Digitalisierung ist nicht neu
Die Digitalisierung ist kein neues Phänomen. Schon die im fernen Jahr 1844 begonnene Morsetechnik ist in gewisser Weise ein Vorbote der Digitalisierung. Anfang der 1940er Jahre gibt es erste Großrechner, die CD seit 1979 und seit 1983 das Mobiltelefon. Das Internet, heute kaum mehr wegzudenken, ist vergleichsweise jung und wird ab 1991 bekannt. Das erste iPhone gibt es z. B. erst seit 2007. Kurz gesagt: Wir sind schon länger in diesem Prozess als es uns bewusst ist.
Ausgewählte Aspekte der digitalen Transformation
Die Digitalisierung schreitet mit großen Schritten voran und birgt umwälzende Veränderungen in sich. Einige etwas plakative Beispiele: Airbnb, einer der größten „Zimmervermieter“, hat selber gar keine Zimmer mehr und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von 2,6 Mrd. Dollar. Der Onlinehändler Amazon macht den größten Teil seines ca. 280 Mrd. Umsatzes, ohne dass ein Kunde ein Geschäft betreten muss und mit Uber finden wir ein weltweit agierendes „Taxiunternehmen“, das selber keine Taxis besitzt und dennoch über 14 Mrd. Umsatz generiert. An diesen Beispielen werden Kraft und Auswirkungen der Digitalisierung deutlich. Die großen Player – oft bezeichnet als GAFA (steht für Google, Amazon, Facebook und Apple) – werden zu bestimmenden wirtschaftlichen, aber auch politischen Machtfaktoren und unser aller Daten, die wir teils bereitwillig zur Verfügung stellen, werden zum „neuen Gold“.
In den Industriebetrieben wird die Digitalisierung 4.0 vorangetrieben, wo durch die Nutzung der digitalen Möglichkeiten Produktionsprozesse optimiert und Kosten – wohl auch Personal – eingespart werden. In einem Bild gesprochen, könnte man die Glasfaserkabel, die in unserem Land in alle Gemeinden (leider aber von dort nicht immer zu den Haushalten) verlegt werden, mit der enormen Bedeutung des Baus der Eisenbahn für unser Land vor ca. 150 Jahren vergleichen. Damals wurden Waren mit der Bahn in alle Welt gebracht, heute stellt die Datenverbindung sicher, dass z. B. ein entlegener Hof über das Internet seine „Urlaub-auf-dem-Bauernhof-Wohnungen“ dennoch an den Mann und an die Frau bringen kann. Die Digitalisierung hat eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung und führt zu enormen Wertschöpfungsketten.
Die Zukunft hat schon begonnen
Wir sind damit noch lange nicht am Ende der Entwicklung angekommen: Schon heute sind selbstfahrende Lkw auf Straßen unterwegs, werden Pakete mit Drohnen zugestellt, gibt es Geschäfte ohne Angestellte, wo die entnommenen Waren ohne Kassa automatisch über das Handy abgebucht werden. All das sind nur einige Beispiele und die digitale Zukunft hält sicher noch viele Überraschungen für uns bereit.
Alles ein Grund zum Jubeln? – URTEILEN
Die Digitalisierung ist – und das dürfte kaum überraschen – zweischneidig. Es gibt also positive wie auch negative Aspekte. Vorweg sollte klargestellt werden, dass die Digitalisierung kein Wert für sich ist. Wie bei jeder Art von technischer Innovation ist sie daran zu messen, inwiefern sie dem Menschen dient. Hier einige ausgewählte Punkte, die aus dieser Überlegung heraus zum Nachdenken anregen sollen:
Menschen sind kommunikative Wesen - digitale Hilfsmittel ermöglichen uns, über große Distanzen miteinander zu kommunizieren.
Der Mensch ist mehr als seine Daten und darf nicht als bloßes Mittel für andere Zwecke benutzt werden.
Menschen sind trotz aller Unterschiede gleich an Würde: Wie können gleiche Chancen für alle ermöglicht werden, wenn ca. 40 Prozent der Menschheit keinen Internetzugang haben?
Auch digitale Leistung muss fair entlohnt werden. Es darf zu keiner Globalisierung der Ausbeutung unter dem Vorwand der Flexibilisierung kommen.
Wie können politische Manipulation verhindert und die demokratischen Rechte der einzelnen Bürger*innen auch im digitalen Zeitalter gesichert werden?
Welche Folgen bringen der hohe Energieverbrauch und der Internethandel für die Umwelt mit sich? Was kann andererseits durch neue Technologien an Ressourcen eingespart werden?
Durch die Digitalisierung können Menschen ihren Wissensdurst stillen, sich weiterentwickeln und die Technik nutzen, um das Leben zu erleichtern.
Das Internet führt zur Vernetzung auch jenseits der nationalen Grenzen und ermöglicht neue Formen der Solidarität und ein Zusammenwachsen der „Menschheitsfamilie“. Andererseits finden sich im sogenannten „Darknet“ – einer Art anonymen Internet – auch Gleichgesinnte, die sich gegenseitig zu Straftaten ermutigen (z. B. Kindesmissbrauch).
Im Bereich der Social-Media kommt es durch die nicht erfolgte Unterscheidung von Information, Meinung und Gefühl zu Gruppenbildungen, die sich im Meinungsbildungsprozess nicht selten gegeneinander abgrenzen. Sachlicher Austausch ist zum Teil kaum mehr möglich und oft kommt es zu beleidigendem Verhalten Andersdenkenden gegenüber.
Schon diese knappe Auswahl verdeutlicht, dass die Digitalisierung an sich nicht das Problem ist, sondern dass es um die Gestaltung dieses Prozesses geht. Welche Rolle kann der KVW und jedes einzelne Mitglied in diesem Prozess einnehmen? Klar scheint, dass es eine Verantwortung für uns gibt, unseren Beitrag zu leisten. Wer sich dieser Verantwortung nicht stellt, lässt zu, dass über einen bestimmt wird. Schon alleine um durch unsere Werthaltungen unserer Verantwortung für das Gemeinwohl gerecht zu werden, sollten wir uns aktiv in diesen Prozess einbringen.
Die Digitalisierung gestalten – HANDELN
Unser Einfluss ist begrenzt, dennoch sollten wir ihn wahrnehmen, wo immer wir eine Möglichkeit dazu haben. Was können wir konkret tun? Wir können auf drei Ebenen ansetzen, indem wir uns (1.) am politischen Prozess beteiligen, (2.) in unseren Betrieben verantwortlich handeln und auch andere Unternehmer*innen dazu ermutigen und (3.) in unserem persönlichen Leben kompetent agieren.
Im Bereich der Politik gilt es etwa dafür einzutreten, dass Schutzbestimmungen (Konsumenten-, Arbeitsschutz, …) angemessen auf den digitalen Bereich ausgedehnt, digitale Infrastrukturen auch in entlegenen Gebieten geschaffen, digitale Bildungsangebote für alle gefördert werden und das Selbstbestimmungsrecht über persönliche Daten sichergestellt wird. Digitale Monopole müssen aufgebrochen, verpflichtende Rahmenbedingungen für eine umweltschonende Digitalisierung geschaffen und gegen Kriminalität im digitalen Bereich vorgegangen werden. Außerdem ist ein Recht auf eine analoge Welt sicherzustellen, sodass Grundbedürfnisse auch ohne digitale Hilfsmittel abgedeckt werden können, um niemanden auszuschließen.
Auf der Ebene der Unternehmen scheint es wichtig, digitale Kommunikationsräume zu eröffnen, die Vernetzung im und außerhalb des Unternehmens zu fördern, die Mitarbeiter*innen vor digitalem Mobbing zu schützen und digitale Weiterbildung anzubieten. Die Datensicherheit ist ebenso eine wichtige Aufgabe, wie der digitale Konsumentenschutz, die Nutzung von ökologischer IT und der Einsatz von Menschen, die digital abgehängt sind, auch wenn sie nicht nachqualifiziert werden können. Auch für diese Menschen braucht es eine Berufsperspektive.
Als einzelne Mitglieder gilt es, das lebenslange Lernen als Bereicherung anzunehmen, sich digital weiterzubilden und andere auf digitale Veränderungen hinzuweisen und sie dabei zu unterstützen. Es geht darum, Problembewusstsein zu entwickeln (Welche Daten gebe ich von mir preis, welche Fotos von meinen Kindern, …?), Eigenverantwortung zu übernehmen (digitale Angebote selbstkritisch hinterfragen und nutzen, …) und andere zu schützen, die im Netz intime Inhalte teilen oder angegriffen werden. Außerdem sind wir als Konsument*innen dazu aufgerufen, möglichst nachhaltig einzukaufen und die Geräte im Idealfall lange zu nutzen und dann dem Recycling zuzuführen.
Der Mensch im Mittelpunkt
Digitalisierung ist ein wichtiger Faktor und sie ist ein Beispiel dafür, dass unsere Alltagsdinge auch unser Miteinander und sogar unser Denken verändern können. Für uns im KVW ist es besonders wichtig, dass wir dabei vor allem eines bleiben: menschlich! Daher fordern wir auch in diesem Bereich: „Der Mensch muss im Mittelpunkt der Entwicklung stehen!“
TEXT: Karl H. Brunner

Kommentar

Was hat der Fall Tönnies mit uns zu tun?

Im Juni wurden 1550 Mitarbeiter des Schlachthofs Tönnies in Nordrhein-Westfalen positiv auf den Coronavirus Covid-19 getestet. Tönnies ist der größte Fleischproduzent Europas. Der Betrieb wurde geschlossen, die Mitarbeiter mussten in Quarantäne.
DIETER MAYR
Landessekretär des SGB-Cisl
Nun staunen alle mit offenem Mund, schütteln den Kopf und fragen sich, wie ist das nur möglich in einem hochentwickelten und demokratischen Vorzeigeland wie Deutschland? Die Rede ist vom Corona-Ausbruch in der Großschlachterei Tönnies. Der Fall wurde zum Symbol für horrende Arbeitsbedingungen, für Ausbeutung, den Wettbewerb um den billigsten Preis und die Gier nach dem maximalen Profit.
Dass ausländische Arbeitskräfte mit Werkverträgen von Sub-Unternehmen zu sehr schlechten Bedingungen beschäftigt werden, um Knochenarbeit zu verrichten, ist lange bekannt; unternommen wurde aber nichts. Die Unternehmen wurden nicht müde, auf wenige schwarze Schafe hinzuweisen, weshalb nicht die gesamte Branche bestraft werden dürfte. Es gab dann „freiwillige Selbstverpflichtungen“ an die sich am Ende aber bis heute niemand hält. Es besteht kein Interesse an Veränderung. Es geht nämlich um sehr viel Geld. Lebens- und Arbeitsbedingungen sind da zweitrangig.
In Italien gibt es die schlimmsten Arbeitsbedingungen im Süden. Dort sind es skrupellose Mafia-Organisationen die mit den Methoden des „caporalato“, der illegalen Beschaffung unterbezahlter Landarbeiter, ausländische Arbeitnehmer quasi in die Sklaverei zwingen.
Wer jetzt meint, dass das alles sehr weit weg sei, der sollte einfach nur die Augen aufmachen und schon findet man auch im schönen Südtirol Arbeitsbedingungen, die eines wohlhabenden Landes nicht würdig sind. Unser Wohlstand wird leider allzu häufig von den Schwächsten geschultert.
Da sind z.B. die Kurierdienste mit Fahrrad oder Auto: Als Scheinselbständige haben sie kein Anrecht auf die Bezahlung von Überstunden, Krankheit oder Urlaub; für die Benutzung des Lieferautos müssen sie bezahlen. Leistungsdruck und Stress sind an der Tagesordnung, denn sie haften persönlich für jede Zustellung.
Wehren können sich die Betroffenen kaum. Die Hilfe der Gewerkschaften anzunehmen ist schwierig für die fast ausnahmslos ausländischen Arbeiter. Eine Arbeit zu haben ist oft die Voraussetzung für eine Aufenthaltsgenehmigung. Sie können es sich deshalb gar nicht leisten, sich mit ihren Arbeitgebern anzulegen.
Auch die Auslagerung von Diensten (Reinigung, Mensen und Betreuung usw.) ist problematisch. Der Dienst muss billig sein. Ist er das aber am Ende auch? Die Dienste werden qualitativ oft schlechter und die Beschäftigen erhalten weniger Lohn als wenn sie direkt angestellt wären. Für die Gesellschaft überwiegen die Nachteile, einige Wenige profitieren. Zudem wird die Verantwortung für die Arbeitskräfte ausgelagert.
Auch Missbrauch durch Arbeit auf Abruf und durch befristete Verträge kommt vor. Sehr problematisch ist die laxe Handhabung des Gesundheitsschutzes und der Arbeitssicherheit.
Die Unternehmen müssen wieder mehr in die Pflicht genommen werden, auch in Südtirol. Es braucht mehr Schutz für die Beschäftigten, höhere Löhne und teils auch strengere Regeln, um zu mehr Gerechtigkeit zu kommen. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb darf nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen werden; Arbeit ist keine Ware, die dem „freien Markt“ ausgesetzt sein darf.
Das Argument der Wirtschaft, es käme zu Wettbewerbsnachteilen und Arbeitsplätze seien in Gefahr stimmt nicht: Wenn alle dieselben Bedingungen vorfinden, gibt es keine Nachteile. Vor der Einführung des Mindestlohnes in Deutschland sind Horrorszenarien an die Wand gemalt worden. Passiert ist nichts, außer, dass viele Menschen mehr Geld in der Tasche haben. Gute Arbeitsbedingungen bedeuten am Ende, dass die Verteilungsgerechtigkeit zunimmt und somit mehr Menschen besser leben können. Das sollte es uns eigentlich wert sein.
TEXT: Dieter Mayr