Thema

Entfesselt oder gelenkt?

Text: Lorenz Gallmetzer
Globalisierung und technologische Revolution müssen reguliert werden. Sonst drohen soziale und politische Konflikte sowie Umweltkatastrophen in großem Ausmaß.
Bunte Kleider der Afrikanerinnen, oftmals hergestellt in China. Krabben werden aus der Nordsee gefischt, in Marokko geschält und in europäischen Geschäften verkauft.
Foto: Margrit Diallo/pixelio
Mit dem Begriff „Globalisierung“ verbinden die meisten Menschen ein negatives, bedrohliches Gefühl. Die Welt scheint im wahrsten Sinn des Wortes grenzenlos geworden zu sein. Dabei hat das unzweifelhaft enorme Vorteile. Wir können in wenigen Stunden in entfernte Länder reisen, in Sekundenschnelle Briefe elektronisch ans andere Ende des Globus schicken und per Internet mit unseren Liebsten selbst dann „von Angesicht zu Angesicht“ live sprechen, wenn sie gerade tausende Kilometer entfernt im Urlaub sind. Im Supermarkt kaufen wir das ganze Jahr über Bananen, Trauben, Datteln, Mangos und Papayas. Steak aus Brasilien, Muscheln aus der Bretagne oder Lachs aus Norwegen kann man sogar in etlichen Südtiroler Restaurants ohne Tiefkühlung serviert bekommen – der freie Welthandel und die modernen Transportmittel machen es möglich. Ganz zu schweigen von den tausenden Billig- und Billigstwaren aus den Entwicklungs- und Schwellenländern die unsere Konsumtempel füllen, ob Kleider, Küchenutensilien, elektronische Geräte…ich erspare mir die Aufzählung.
Die ganze Welt ein einziger Markt

Die radikale Öffnung der Märkte durch Abbau früherer Schranken (Zölle, Norm-Standards, Schutzgesetze) für den Warentausch und für die Produktion in anderen Ländern hat die Weltwirtschaft kräftig angekurbelt. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern hat das für Arbeit und Nahrung gesorgt. Laut UNO ist die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen in nur 25 Jahren weltweit von 1,9 Milliarden auf „nur“ 830 Millionen gesunken. Besonders verbessert hat sich die Lage in China, in Indien, aber auch in Südostasien und Lateinamerika.
Die „magischen“ Antriebskräfte der Globalisierung lauten: offene Grenzen für Waren, Kapital und Arbeitskräfte, schneller und billiger Transport sowie allzeitige Blitz-Kommunikation. Und: immer schärferer Wettbewerb, sprich Konkurrenz. Durch Arbeitsteilung und Spezialisierung können die Profite der Unternehmen gesteigert, die Preise der Waren gesenkt werden. Die ganze Welt ein einziger Markt – das ist der Traum der Wirtschaft.
Die Kehrseite der Medaille

Bestimmen aber nur die Kräfte des freien Marktes die Regeln, dann kommt es zu bedenklichen bis perversen Fehlentwicklungen. Ein bekanntes Beispiel: Was haben die Garnelen (gamberi) aus der Nordsee, die wir im Supermarkt kaufen, mit Marokko zu tun? Die Krabbentiere werden aus der Nordsee gefischt, drei Minuten in heißem Wasser rosa gekocht und in LKW geladen. Mit Eis auf minus ein Grad gekühlt werden so jeden Tag Lastwagen mit je 20 Tonnen Garnelen auf die Reise geschickt, nach Marokko, 3.000 Kilometer weit. Dort werden sie von tausenden Arbeiterinnen händisch geschält und mit gekühlter Salzlake plus Koservierungsmittel wieder verpackt. Dann geht es drei Tage zurück in den Norden, wo die geschälten Tiere für den Supermarkt portioniert und abgepackt werden. 8 bis 10 Kilo der Tierchen schaffen die marokkanischen Frauen am Tag, für knappe 200 Euro Lohn im Monat. In Deutschland beträgt der Mindestlohn ca. 1.400 Euro. Die teuren Belastungen und Folgen für den Straßenverkehr und die Umwelt werden allerdings nicht vom Garnelenproduzenten bestritten.
Eine ebenso bedenkliche Folge des unbegrenzten Wettbewerbs ist vielerorts der Ruin der lokalen Wirtschaft. Die Billigprodukte der (auch noch subventionierten) Intensiv-Agrarindustrie der reichen Länder lassen den Bauern, Handwerkern und Kleinunternehmen in armen Ländern oft keine Chance. Selbst die bunten Traditionskleider für Afrikanerinnen kommen heute schon zum Teil aus China. Womit die Entwicklungsländer noch mehr zu Monokulturen und Rohstofflieferanten degradiert werden.
Aber selbst in den reichen Ländern gefährdet die ungezügelte Globalisierung das wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht. Die Abwanderung der Industrie in Niedriglohnländer erzeugt Arbeitslosigkeit, mindert die Steuereinnahmen zugunsten der Gesamtgesellschaft und vergrößert die Schere zwischen Arm und Reich. Immerhin galten 2015 in Deutschland 20 Prozent der Bevölkerung – also jeder Fünfte – als von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht (EU-Schnitt: 23 Prozent). Außerdem gab es mehr als eine Million sogenannte „Aufstocker“, das sind Personen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, aber zusätzlich Hartz-IV-Sozialhilfe empfangen, weil das mit ihrer Arbeit verdiente Geld nicht zum Leben reicht.
Die entfesselte Finanz

Die Königsdisziplin der Globalisierung ist die Geldwirtschaft. Kein anderer Wirtschaftsbereich wurde so weltumspannend vernetzt und gleichzeitig so dereguliert wie die Finanzwirtschaft. Lief in den USA die Liberalisierung der Finanzmärkte schon seit den 1970er Jahren, so war in Europa der unter Margaret Thatcher 1986 beschlossene Big Bang entscheidend. Die Banken- und Börsenreform wurde von einer revolutionären Neuerung begleitet: ab sofort mussten die Broker an der Börse nicht mehr wedeln und schreien, es begann der Handel per Computer. Heutzutage wird ein bedeutender Teil der Geschäfte an den Börsen von Algorithmen automatisch abgewickelt, oft werden im Mikrosekundentakt Milliarden hin- und hergeschoben und Millionen verdient – durch Spekulation. Hochfrequenzhandel nennt sich diese Form der schnellen Wette auf das Steigen oder Fallen von Aktien und Wertpapieren, aber auch von Rohstoffen und Nahrungsmitteln – manche nennen es Kasinokapitalismus.
150 Konzerne beherrschen die Welt

Laut einer Studie Schweizer Wissenschaftler beherrschen knapp 150 multinationale Konzerne das weltweite Wirtschaftsgeschehen. Unter diesen wiederum sind reine Fonds- und Finanzierungsunternehmen dominant. Das derzeit mächtigste heißt BlackRock. 1988 mit einer Milliarde geborgtem Kapital gegründet, hat es heute 13.000 Mitarbeiter, verwaltet fünf Billionen US-Dollar und erzielte 2016 drei Milliarden Dollar Gewinn. 2.000 IT-Spezialisten führen pro Woche mithilfe von 5.000 Großcomputern 200 Millionen (!) Kalkulationen durch. Sie beobachten Unternehmen, Wirtschaftszweige, Rohstoffpreise, Konjunktur, Länder, politische Veränderungen etc., um die Gelder ihrer Kunden auf den Finanzmärkten richtig einzusetzen.
Technologische Revolution und Deregulierung haben einen globalisierten Turbokapitalismus geschaffen, der zwar Milliardenprofite für die ein bis zwei Prozent der Reichsten dieser Erde abwirft, aber ohne Rücksicht auf die Realwirtschaft, auf die sozialen, ökologischen und letztlich politischen Folgen. Die Rückkehr des Nationalismus und der Ruf nach einem starken Mann, ist nur ein Symptom der Verunsicherung und Angst unter den Menschen. Deshalb gehört es zu den dringendsten Aufgaben der demokratischen Kräfte und Regierungen, dass sie wieder für klare Spielregeln sorgen. Strenge Regeln für Finanzgeschäfte, Steuern auf Transaktionen, Schließung der Steueroasen, Rückkehr zu einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft im Interesse der Gesamtgesellschaft. Die Instrumente dafür gibt es oder kann man schaffen. Dazu braucht es allerdings den politischen Willen.



Kommentar

„Der Wirtschaft“ geht es gut

Plädoyer für mehr wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitische Kontroversen in Südtirol
Werner Pramstrahler

Die eingängigen Schlagworte sind bekannt und werden stets neu propagiert:
Nur wenn es „der Wirtschaft“ gut gehe und Wirtschaftswachstum vorhanden sei, steige der allgemeine Wohlstand und stelle die Finan-zierung des Sozialstaates sicher.
Keine Frage – es ist wichtig, dass die „Wirtschaft“ floriert. Für Gesellschaften wie für Volkswirtschaften ist es von wesentlicher Bedeutung, über fähige Unternehmer, Firmeninhaber und Manager zu verfügen; dass Betriebe und Unternehmen sich entfalten, Innovationen in Gang setzen, Gewinne schreiben, Rechtssicherheit und eine effiziente Infrastruktur vorfinden.
Damit sich Südtirol weiterhin gut entwickelt, braucht es allerdings mehr wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitische Kontroversen.
Die Zeichen der Zeit erkennen: Südtirol in der europäischen Mehrfachkrise

Südtirol bewegt sich im Kontext einer europäischen Mehrfachkrise, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Eine Hauptursache des moderaten Wirtschaftswachstums ist die gestiegene Ungleichheit in den letzten beiden Jahrzehnten.
Die ökologische Herausforderung manifestiert sich vor allem im Klimawandel, der zu einer grundlegenden Änderung unserer unmittelbaren Umwelt führen wird. Wir verbrauchen zu viele unwiederbringlich verlorengehende natürliche Ressourcen – und zwar zum Schaden von Millionen von Menschen.
Zudem befinden sich unsere Demokratien in einer unleugbaren Akzeptanzkrise: Der Ruf nach „dem starken Mann bzw. der starken Frau“ und die Verabsolutierung der eigenen Interessen sind deutliche Belege.
Die EU ringt um ihre innere Verfasstheit und mit dem zunehmenden „Egoismus“ der Staaten.
Papst Franziskus hat die globale Situation wie folgt auf den Punkt gebracht: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Evangelii Gaudium [EG] 2013: 238)

Wichtige Bereiche der Südtiroler Wirtschaft wie der Tourismus und die Lebensmittelherstellung sind engst mit den besonderen klimatischen Bedingungen des Landes verknüpft. Studien zeigen, wie stark der mittlere südliche Alpenraum bereits jetzt ein Brennpunkt des Klimawandels ist. Um soziale Aspekte zu erwähnen: Die Südtiroler Armutsindikatoren zeichnen fraglos ein deutlich besseres Bild als auf gesamtstaatlicher Ebene und liegen auf dem Niveau Österreichs und Deutschlands. Beruhigend? In diesen Ländern wird sehr stark über Maßnahmen gegen Armut und Ungleichheit diskutiert – in Südtirol wird auf die Erfolge im Vergleich zu Italien verwiesen. Zudem halten wir im innerstaatlichen Vergleich durchaus einige unrühmliche Platzierungen: Bei Beschäftigten, die seit mindestens fünf Jahren mit befristeten Verträgen beschäftigt sind, liegt Südtirol mit 26,2 Prozent (2015) gleichauf wie die Regionen des Südens, der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen liegt mit 7,2 Prozent (2015) genau im norditalienischen Durchschnitt (Quelle: ISTAT, Rapporto BES 2015).
Für soziale Nachhaltigkeit und Ökologisierung streiten

Welche Wirtschaft? Es kann nicht darum gehen, generell eine Abkehr von wirtschaftlichem Wachstum zu fordern. Im Gegenteil: In unserer Gesellschaft soll durchaus eine heftige Diskussion darüber entbrennen, welche Wirtschaftszweige an Bedeutung gewinnen sollen. Es ist durchaus wünschenswert, dass sozial wichtige Dienstleistungen wie Bildung und Pflege wachsen, der Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommt, in den öffentlichen Personennahverkehr investiert, die lokale Landwirtschaft ökologisch gestaltet wird, der sanfte, wertschätzende und kulturell sensible Tourismus erblüht. Es ist notwendig, dass in klimaneutrale Produkte und Herstellungsprozesse investiert wird, Südtirol insgesamt klimawandelfit gemacht wird. Dies mag Kontroversen durch gegensätzliche Interessen auslösen, die aber offen mit Zahlen und Fakten auszudiskutieren sind.

Entlohnungen und Lebenszeit gerechter verteilen. Die Akzeptanz gegensätzlicher Interessen bildet auch die Grundlage für die zweite wichtige Kontroverse: nämlich die Auseinandersetzung über die Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne. Italien ist bekanntlich eines der wenigen EU-Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn; in Österreich wird derzeit die Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne auf 1.500 Euro diskutiert. Es trifft zu, dass in Südtirol bestimmte Arbeitnehmergruppen auch individuell höhere Entlohnungen aushandeln können. Eine Stabilisierung und Erhöhung der Binnennachfrage durch regelmäßige Lohnverhandlungen auf lokaler Ebene mit dem Schwerpunkt auf die Berufsgruppen, die am unteren Ende der Entlohnungsskala verweilen, erweist sich allerdings als immer drängender. Immerhin gibt auch über ein Fünftel der Teilzeitbeschäftigten an, dies nur deshalb zu tun, weil keine Vollzeitstelle verfügbar ist (Arbeitskräfteerhebung 2016). Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Beschäftigten mit überlangen Arbeitszeiten und hoher Arbeitsintensität. Die gerechtere Aufteilung der Erwerbsarbeit und der unbezahlten Arbeit ist eine weitere unerlässliche Diskussion.

Steuerlasten fair entwickeln. Eine dritte Kontroverse betrifft die Aufteilung der Steuerlast. Die verfügbaren Südtiroler Daten zeigen, dass die Vermögenskonzentration deutlich ausgeprägt ist. Eine stärkere Besteuerung der Vermögen zu Gunsten einer Entlastung des Faktors „Arbeit“ ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Auf Südtirol wie auf ganz Europa kommt eine noch nie dagewesene Herausforderung zu: der steigende Anteil an Älteren und Ältesten an der Gesamtbevölkerung. Die Stabilität des Sozialstaates kann wohl nur gewahrt bleiben, wenn das Vermögen stärker als bisher zur Finanzierung herangezogen wird. Nicht nur in Südtirol, in ganz Europa wissen wir paradoxer Weise viel über Armut, aber wenig über Reichtum.

Klingt unrealistisch? In Europa gibt es Länder, die diese Maßnahmen bereits seit Jahrzehnten umsetzen und dabei soziale Gerechtigkeit mit ökonomischer Prosperität verknüpfen: Es handelt sich in erster Linie um die skandinavischen Länder, aber auch einige mitteleuropäische Länder positionieren sich sehr gut. Wenngleich Europa in einer lösbaren Mehrfachkrise steckt, so ist es nach wie vor eine riesige – und wohl die einzige – Chance. Nach wie vor bildet die EU einen immensen und vergleichsweise geschlossenen Wirtschaftsraum. 2017 – also noch mit Großbritannien in der EU – entfallen fast 90 Prozent der gesamten europäischen Nachfrage an Gütern und Dienstleistungen auf den Austausch innerhalb dieser Länder selbst. Die EU kann also durchaus wirksame ökologische und soziale Standards setzen sowie den Steuerwettbewerb verhindern – Voraussetzung wäre die Abkehr vom Diskurs des wirtschaftlichen Wettbewerbes zwischen Standorten und Staaten und den Primat der Wirtschaft vor anderen gesellschaftlichen Belangen.
Geht es allen Menschen gut, geht es nicht nur der Wirtschaft gut, sondern auch der Gesellschaft, der Umwelt und der Demokratie.
Text: Werner Pramstrahler