Thema

Europa und die Sozialstaaten, wohin geht die Reise?

KVW – Mitglied vom Europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen
Referent:innen aus ganz Europa trafen sich zur Konferenz in Leuven
Kürzlich fand unter dem Motto „Die Lage des Sozialstaates in Europa im Jahr 1992 und 30 Jahre später. Wer bezahlt den Fährmann?“, die inzwischen zur Tradition gewordene Konferenz von Fachleuten aus über 24 Ländern zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in der Universitätsstadt Leuven in Belgien statt.
Veranstalter war HIVA, das fächerübergreifende Forschungsinstitut für Arbeit und Gesellschaft an der Katholischen Universität Leuven, der zweitältesten Universität in Europa. Forschungsthemen von HIVA sind unter anderem: Arbeit und Organisation, Arbeitsmarkt, Armut und soziale Integration, Klima und Nachhaltigkeit, Zivilgesellschaft und sozialer Dialog, Migration und Integration, Globale Entwicklung, Bildung und lebenslanges Lernen sowie der Sozialstaat.
Die zweitägige Konferenz wurde in enger Zusammenarbeit mit EZA, dem europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen organisiert. Der KVW ist seit Juni dieses Jahres Mitglied bei EZA. Man unterscheidet zwei verschiedene Arten von Wohlfahrtsstaaten. Diese beziehen sich auf die Art und Weise, wie die finanziellen Mittel eines Staates gewonnen werden, um dann Renten, Sozialleistungen und andere unterstützende Maßnahmen finanzieren zu können.
Es gibt die Sozialversicherungssystemen nach Beveridge oder nach Bismarck. Diese beiden Finanzierungssysteme für die Sozialversicherung unterscheiden sich folgendermaßen:
Otto von Bismarck - System
1. Zu den gesicherten Personen zählen Arbeitnehmer bzw. Erwerbstätige.
2. Die Finanzierung erfolgt durch Beiträge, gestaffelt nach Einkommen.
3. Die Bemessung der Geldleistung beruht auf der Grundlage der ausgezahlten Löhne/Gehälter
William Henry Beveridge - System
1. Es deckt die gesamte Bevölkerung ab.
2. Es wird vorwiegend aus dem Staatsbudget finanziert.
3. Es sieht einheitliche Pauschalleistungen vor.
Länder wie Großbritannien und Irland sind Breveridge orientiert, während andere Länder in Europa (Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich usw.) sich am Bismarckschen System orientieren.
Die beiden Systeme kommen, in Anbetracht der anstehenden Herausforderungen der Staaten, vermehrt gemeinsam zum Einsatz.
Zur LAGE der Nationen (am Beispiel der Altersvorsorge)
Allen Staaten gemeinsam ist die älter werdende Gesellschaft und damit einhergehend das Thema der Finanzierung der auszuzahlenden Renten. Das Umlageverfahren steht auf dem Prüfstand. Warum?
Nun wenn sich der Teil der arbeitenden bzw. einzahlenden Bevölkerung im Gegensatz zu den Begünstigten der Leistungen verringert, wird immer weniger eingezahlt bei steigendem Bedarf an finanziellen Mitteln für die Auszahlungen.
In der Regel bestehen die Lösungen im drei-Säulen-System der Rentenabsicherung:
1. die gesetzliche Rentenabsicherung
2. die Zusatzrenten (zum Beispiel in Südtirol: PensPlan, Laborfonds usw.)
3. die privaten Versicherungen
Generell kann gesagt werden, dass sich die Staaten, darunter auch Italien, der Herausforderung durchaus bewusst sind.
Was beschäftigt Italien?
Allmähliche Annäherung bei der Verteilung der Sozialausgaben zwischen Italien und der EU
Einsparungen durch Rentenreformen könnten die Ausgaben weiter an den EU – Schnitt angleichen.
Ausweitung von Arbeitslosenleistungen, Familienleistungen und Armutsbekämpfungsmaßnahmen nach den verschiedenen Krisen der letzten Jahre.
Aktive Arbeitsmarktpolitik / Kinderbetreuung / Soziale Dienste/ Langzeitpflege und Gesundheitsversorgung
Zum Schluss kann gesagt werden, dass sich die Gesellschaften in Europa sehr ähneln, nicht nur in ihrer gemeinsamen Geschichte, sondern auch in ihren zukünftigen Herausforderungen.
Wichtig dabei ist, dass die staatliche Politik versucht Lösungen zu finden, die die Menschen mit ihren täglichen Problemen ernst nimmt und dabei die europäische Einheit nicht vergisst, etwa nach dem Motto, wir haben dieselben Probleme, lasst sie uns gemeinsam lösen.
TEXT: Richard Kienzl

Thema

Der Sozialstaat im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel

Das Rentensystem - Ein Blick nach Österreich
GRAFIK: AK Wien
Während in vielen Staaten Europas – und auch hier in der autonomen Region Trentino Südtirol – die Möglichkeit einer Zusatzversicherung geschafften wurde und die Altersvorsorge bzw. die Einzahlungen auf mehreren Säulen und auf freiwilliger Basis gestellt wurden, geht man in Österreich den Weg der gesetzlichen Pensionen weiter.
Josef Wöss ehemaliger Leiter der Abteilung Sozialpolitik in der Arbeiterkammer Wien
Bei der internationalen Konferenz in Leuven war Dr. Josef Wöss, ehem. Leiter der Abteilung Sozialpolitik in der Arbeiterkammer Wien dabei. Auf Anfrage hat er uns die Situation und die Aussichten des Rentensystems in Österreich kurz geschildert.
Ein zentrales Kennzeichen der Alterssicherung in Österreich ist die klare Schwerpunktsetzung bei den gesetzlichen Pensionen. Anders als in etlichen anderen Ländern gibt es keine strategische Verlagerung zu betrieblichen oder privaten Ansparmodellen.
Pensionsalter
Das Regelpensionsalter ist 65. Für Frauen, die vor Juli 1968 geboren sind, gelten niedrigere Altersgrenzen. Die von der EU-Kommission wiederholt erhobene Forderung, das gesetzliche Pensionsalter an die (steigende) Lebenserwartung anzubinden wurde nicht umgesetzt. Vor Erreichung des Regelpensionsalters ist ein Pensionsantritt nur mit hohen Abschlägen möglich.
Pensionshöhe
Alle Versicherten haben ein Konto bei der gesetzlichen Pensionsversicherung. Dort werden jedes Jahr 1,78% des versicherten Einkommens als zukünftiger Pensionsanspruch gutgeschrieben. Die kumulierten Jahresgutschriften werden jedes Jahr mit dem Lohnindex aufgewertet.
Besonders bei den Frauen liegen die Neupensionen deutlich höher als die Bestandspensionen. Der gender pension gap ist allerdings auch bei den Neupensionen noch immer sehr hoch.
Höhe der Alterspensionen / ohne zwischenstaatliche Teilleistungen / 14 Zahlungen pro Jahr (Werte 2024)
Finanzierung
Die Pensionen werden vor allem aus Beiträgen finanziert. Der Beitragssatz beträgt seit 1988 unverändert 22,8% (AG: 12,55% / AN: 10.25%).
Als zweites Finanzierungsstandbein gibt es den ‚Bundesbeitrag‘, mit dem die Differenz zwischen Beitragseinnahmen und Ausgaben abgedeckt wird (‚Ausfallshaftung‘ des Bundes). Derzeit werden 13% der Ausgaben des Bundes für diesen Zweck aufgewendet.
Perspektive
OECD-Berechnungen 1) auf Basis des geltenden Rechts zeigen im ‚base case‘ für heutige Berufseinsteiger eine Netto-Einkommensersatzrate von 86,8%. Den heute Jüngeren wird damit bei gutem Erwerbsverlauf eine der höchsten Einkommensersatzraten im EU-Raum geboten.
Beim Pensionsaufwand wird bis 2030 ein Anstieg von 13,7% des BIP auf 15% prognostiziert, danach ein Rückgang auf 14,0%. 2) Ermöglicht wird die längerfristig nur sehr moderate Kostensteigerung trotz veranschlagter Beibehaltung von Pensionsalter 65 vor allem durch massive Einsparungen bei den Beamtenpensionen (ihre Höhe wird an die anderen Pensionen angeglichen) und durch sinkende Ausgaben für Hinterbliebenenpensionen.
Anmerkung zum demografischen Wandel
Mehr und bessere Arbeitsplätze für die Menschen im Erwerbsalter sind die ökonomisch sinnvollste und sozialste Antwort auf die Alterung der Bevölkerung. Dies zeigt zum Beispiel eine Studie 3), die für den EU-Raum aufzeigt, dass sich die Relation zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern bei Erreichung der Beschäftigungsziele für 2030 trotz erheblicher Verschlechterung der Altenquote günstiger darstellen würde als heute.
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1) OECD, Pensions at a Glance. 2025
2) EU-Kommission, 2024 Ageing Report
3) EGB SociAll-Projekt, EPSR 2030 Scenario – What would it mean for pensions if the Action Plan's 78% employment target was achieved, with quality jobs (Autoren: J.Wöss/E.Türk)
TEXT: Josef Wöss