Gesundheit

Endometriose – endlich ernst genommen

Zehn Jahre können unendlich lang sein, wenn man jeden Monat von Schmerzen überrollt wird. So lange warten viele Frauen, bis sie eine Erklärung für ihr Leiden bekommen.
Foto: freepik
Journalisten und Co-Autorin Brigitta Willeit
Zehn Jahre zwischen Zweifeln, Bagatellisierungen und dem immer gleichen Satz: „Das ist normal.“ Für Betroffene ist es verlorene Lebenszeit – für Dr. Martin Steinkasserer, Gynäkologie-Primar am Krankenhaus Bozen, schlicht „zum Schämen“. Denn Endometriose ist weder selten noch schwer zu erkennen. Trotzdem zählt sie bis heute zu den am meisten unterschätzten Erkrankungen der Frauenmedizin.
Schmerzen, Qual, Erschöpfung
Im Büro lächelt Julia, 27, und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Keiner ihrer Kollegen ahnt, dass sie gerade am liebsten nach Hause gehen würde, weil die Schmerzen in ihrem Unterleib kaum auszuhalten sind. Seit ihrer Jugend begleitet sie dieser Zyklus von Qual und Erschöpfung. Ein ums andere Mal beißt sie die Zähne zusammen - sie will nicht empfindlich sein. Mit Empfindlichkeit hat das aber nichts zu tun. Julia leidet unter Endometriose. Das bedeutet, dass gebärmutterschleimhautähnliches Gewebe außerhalb der Gebärmutter wächst – am Bauchfell, an den Eierstöcken, im Darm, teilweise sogar an weit entfernten Organen. Es reagiert wie die Gebärmutterschleimhaut im Zyklus: Es baut sich auf und blutet wieder ab. Nur kann dieses Blut nicht abfließen. Die Folgen sind Entzündungen, Verwachsungen und Schmerzen, die sich häufig über den gesamten Bauchraum ausbreiten.
Wenn das Umfeld die Wahrnehmung verdreht
„Viele Frauen leiden so stark, dass sie ihren Alltag kaum bewältigen können“, betont Dr. Martin Steinkasserer. Dennoch erleben sie oft, dass ihr Leiden kleingeredet wird – in Familien, Schulen, Partnerschaften und sogar ärztlichen Praxen. „Das ist eine Form von Gaslighting“, erklärt der Gynäkologe. „Die Symptome werden nicht ernst genommen, herabgespielt oder ins Psychische verschoben. Irgendwann zweifeln die Frauen an ihrer eigenen Wahrnehmung.“
Dass auch Mediziner Schmerzen abtun, hat für ihn mehrere Gründe: Endometriose ist komplex, langwierig und nicht mit einer einfachen Therapie erledigt. „Der Idealfall für einen Arzt ist ein verstauchter Knöchel: Salbe, Verband, Erfolg. Bei chronischen Schmerzen ist das anders. Da entsteht schnell das Gefühl des Misserfolgs – und die Versuchung, die Ursache ins Psychische zu verlegen.“ Ganz falsch sei das nicht, sagt der Primar, aber es sei eine Folge der Krankheit, nicht ihre Ursache: „Starke Schmerzen drücken unweigerlich auf die Psyche. Und wie das Umfeld reagiert, verstärkt das zusätzlich.“
Auf Ursachenforschung
Wie entsteht Endometriose überhaupt? Eine endgültige Antwort gibt es nicht – viel spricht jedoch für eine genetische Komponente und eine Fehlregulation des Immunsystems. Normalerweise würden fehlplatzierte Zellen erkannt und beseitigt. Doch bei betroffenen Frauen nisten sie sich ein, bilden neues Gewebe, wachsen zerstörend in umliegende Strukturen hinein und können sogar zu Funktionsverlusten von Organen führen. Darmverschluss, Schäden an den Harnleitern oder Verwachsungen sind keine Seltenheit.
Die Beschwerden treten meist zwischen 20 und 40 Jahren am stärksten auf. Sie reichen von quälenden Regelschmerzen über Schmerzen beim Sex, beim Wasserlassen oder beim Stuhlgang bis hin zu Müdigkeit, Verdauungsproblemen und unerfülltem Kinderwunsch. Doch nicht jede Endometriose verläuft gleich. „Es gibt schwere Befunde mit wenig Beschwerden – und kleine Herde, die extreme Schmerzen verursachen“, so Dr. Steinkasserer.
Diagnose schnell möglich – und doch häufig verspätet
Die Diagnose ist heute oft schon durch eine gründliche Anamnese und einen ausführlichen Ultraschall möglich, manchmal ergänzt durch eine Magnetresonanz. Eine Bauchspiegelung ist nicht immer erforderlich. Dennoch dauert es in der Realität noch bis zu zehn Jahre, bis Frauen endlich ernst genommen werden. „Das ist für mich unverständlich – und eigentlich zum Schämen“, sagt der Experte.
Heilbar ist Endometriose nicht. Aber behandelbar. Hormontherapien können verhindern, dass Schleimhaut aufgebaut wird und erneut blutet. Medikamente lindern Schmerzen. Bei fortgeschrittener Endometriose oder Kinderwunsch kann eine Operation notwendig sein. Ergänzende Methoden – von Physiotherapie und Yoga bis zur traditionellen chinesischen Medizin – helfen vielen Patientinnen zusätzlich. „Kein Körper reagiert gleich. Aber wir finden fast immer eine wirksame Kombination“, sagt Dr. Steinkasserer. Seine Überzeugung: „Jeder Frau kann geholfen werden. Vielleicht verschwinden die Schmerzen nicht vollständig, aber ein gutes Leben mit und trotz Endometriose ist möglich.“
TEXT: Brigitta Willeit

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Interview mit Primar und Autor Dr. med. Martin Steinkasserer

Dr. med. Martin Steinkasserer
Warum dauert es auch in Südtirol bis zu zehn Jahre, bis Endometriose diagnostiziert wird?
Dr. Martin Steinkasserer: Schmerzen von Frauen werden immer noch oft kleingeredet und nicht ernst genommen. Hinzu kommt: Endometriose ist komplex und medizinisch anspruchsvoll. Es ist keine Krankheit, die man mit einem raschen Rezept beheben kann. Sie verlangt Geduld und sorgfältige Betreuung. Es hat sich zwar einiges verbessert, aber leider neigen manche Kolleginnen und Kollegen immer noch dazu, Beschwerden vorschnell abzuwinken.
Was empfehlen Sie Mädchen oder Frauen?
Steinkasserer: Ich bin immer wieder beeindruckt, wie viel Schmerz und Belastung Frauen ertragen. Ich würde ihnen tatsächlich raten, ruhig etwas „wehleidiger“ zu sein – im besten Sinne. Schmerzen müssen nicht heroisch ausgehalten werden – sie gehören ernst genommen und abgeklärt. Wenn Mädchen oder Frauen der nächsten Monatsblutung mit Angst entgegenblicken, wenn sie wegen der Beschwerden regelmäßig ausfallen oder ihr Alltag kaum mehr funktioniert, dann sollten sie Hilfe suchen – und sie einfordern.
Wie können Sie Frauen mit Endometriose helfen?
Steinkasserer: Die Krankheit ist derart komplex, dass für eine erfolgreiche Behandlung ein multidisziplinärer und holistischer Ansatz erforderlich ist. Außerdem muss die Therapie auf die Patientin abgestimmt werden und sich an ihren Bedürfnissen orientieren: Für manche steht die Schmerzfreiheit im Vordergrund, für andere der Kinderwunsch. Mit einer hormonellen Behandlung, Medikamenten, Operationen und komplementärmedizinischen Methoden kann man sehr viel bewirken.
Gibt es aussichtslose Fälle?
Steinkasserer: Ich behaupte, dass jeder Frau geholfen werden kann. Viele Frauen, die jahrelang gelitten haben, verlangen gar nicht, keine Schmerzen mehr zu haben. Sie wollen ein erträglicheres und selbstbestimmtes Leben haben. Das ist möglich. Aber es braucht oft Zeit und Geduld – von der Patientin, aber auch den Ärztinnen und Ärzten.
Sie haben ein Buch über Endometriose geschrieben – an wen richtet es sich?
Steinkasserer: Das Buch richtet sich an Frauen, die eine Erklärung für ihre Schmerzen suchen, ebenso an jene, die bereits eine Diagnose erhalten haben – aber auch an Angehörige und durchaus auch an Pflegekräfte und medizinisches Personal. Ich möchte Orientierung geben und verlässliche Informationen bündeln. Gerade online stößt man oft auf verkürzte oder schlicht falsche Darstellungen. Doch Endometriose ist komplex und betrifft viele Lebensbereiche – das lässt sich nicht in einem kurzen Posting abhandeln. Ein Buch bietet den Raum, Zusammenhänge verständlich zu erklären und deutlich zu machen: Ihr seid nicht allein.
Wohin können sich Betroffene wenden?
Steinkasserer: Zuerst an die Frauenärztin bzw. den Frauenarzt. Es gibt mittlerweile einige spezialisierte Kolleginnen und Kollegen. Bei komplexen Fällen sollte man sich an ein Endometriosezentrum wie jenes in Bozen wenden. Dort behandeln wir auch schwierige Verläufe – oft operativ.