Häufige Fragen und Antworten

2. Wie verschwand die Poliomyelitis (Kinderlähmung) in Italien und kann sie sich in einem Industrieland mit hohen Hygienestandards wieder verbreiten?

Die folgende Grafik zeigt auf der linken (senkrechten) Achse die Anzahl der Polio-Fälle, die in Italien jährlich gemeldet wurden; die untere (waagrechte) Achse stellt den Zeitraum zwischen 1939 und 1995 und später dar (Daten der obersten italienischen Gesundheitsbehörde, Istituto Superiore di Sanità). Ab Frühling 1964 wurde die Impfung bei allen Kindern durchgeführt (Assael 1995). 1963 waren noch 2.830 Menschen an Polio erkrankt; 1964 war die Anzahl auf 842 gesunken, 1965 waren es 254 und 1966 nur noch 148, wobei die Anzahl konstant sank, bis ab den 1980er Jahren gar keine Polio-Fälle mehr verzeichnet wurden.
Wie aus der Grafik hervorgeht, ist die Anzahl der Polio-Fälle in nur zwei Jahren um das Zehnfache zurückgegangen (von 2.830 im Jahr 1963 auf 254 im Jahr 1965). Die Impfkampagne begann im Frühjahr 1964. Wenn die Krankheit aufgrund der verbesserten Lebensbedingungen in Italien verschwunden wäre, dann wäre die Anzahl der Erkrankungen schrittweise und nicht abrupt zurückgegangen. Die epidemiologischen Daten zeigen, dass die Kinderlähmung in Italien nicht aufgrund besserer hygienischer Bedingungen, sondern durch die 1964 eingeführte Impfkampagne verschwunden ist. In vielen Grafiken wird die Impfkampagne erst ab 1967 angesetzt, um damit anzugeben, dass die Krankheit bei der Einführung der Impfungen aufgrund der besseren Hygienezustände bereits im Rückgang war. Die Impfkampagne begann jedoch wie gesagt bereits 1964: Innerhalb eines Jahres wurden 7 Millionen Kinder geimpft (Assael, 1995).
1967 - erst drei Jahre später - wurde die gesetzliche Impfpflicht gegen Poliomyelitis eingeführt, aber zu jenem Zeitpunkt waren schon Millionen Kinder geimpft worden. Dies erklärt den starken Rückgang der Polio-Erkrankungen zwischen 1964 und 1967: Die Kinderlähmung ist nicht von allein verschwunden.
Kann sich die Poliomyelitis in einem Industrieland mit hohen Hygienestandards verbreiten?
Die Antwort darauf liegt in der Polio-Epidemie von 1992 in den Niederlanden. Dort weigerten sich die Mitglieder einer kleinen Glaubensgemeinschaft, ihre Kinder impfen zu lassen. 1992 erkrankten mehrere Kinder und einige Erwachsene an Poliomyelitis: 2 der insgesamt 72 Betroffenen starben, 59 erlitten eine bleibende Lähmung (Oostvogel 1994).
Das die Epidemie auslösende Virus kam entweder durch asymptomatische Träger (Menschen, die das Virus in sich tragen, aber keine Krankheitszeichen zeigen) oder durch Nahrungsmittel nach Holland, beide aus Ländern, in denen Poliomyelitis als endemisch galt (vermutlich Indien). Bei der restlichen niederländischen Bevölkerung, die nicht zu jener Glaubensgemeinschaft gehörte, gab es lediglich einen Fall, da in den Niederlanden fast 100% der Kinder geimpft waren.
Lebte jene Glaubensgemeinschaft unter prekären Hygienebedingungen? Dazu sehen wir uns die Verteilung der Gemeinschaftsmitglieder in den Niederlanden an.
Eine Studie über diese Epidemie (Conyn-van Spaendonck 1996) enthält eine Karte mit der Verteilung der Mitglieder obiger Glaubensgemeinschaft auf dem gesamten niederländischen Staatsgebiet. Besagte Karte kann aus urheberrechtlichen Gründen nicht kopiert werden, aber der Artikel von Conyn-van Spaendonck und ihren Mitarbeitern ist im Internet frei unter folgendem Link abrufbar: aje.oxfordjournals.org/content/143/9/929.long.
Bei der Betrachtung der Karte erscheint es als kaum nachvollziehbar, dass im Jahr 1992 in derart weitläufigen Teilen der Niederlande schlechte hygienische Bedingungen herrschten. Oostvogel, einer der Epidemiologen, der sich damals mit der Polio-Epidemie in den Niederlanden befasste, schreibt 2014:


„Es gibt keine Hinweise darauf, dass der betroffene Bevölkerungsteil unter anderen hygienischen Verhältnissen lebt als die restliche Bevölkerung der Niederlande. Die Ausbreitung dieser Epidemie geht auf die Tatsache zurück, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft sowohl in den Niederlanden als auch außerhalb (z.B. in Kanada) untereinander enge soziale Kontakte pflegen: In der Regel besuchen sie vorrangig dieselben Schulen, nehmen an denselben Versammlungen teil, heiraten untereinander und treffen sich zu bestimmten Feierlichkeiten.
Die einzige Ursache für die Epidemie liegt in der fehlenden Immunisierung einer breiten Bevölkerungsgruppe. Die Verweigerung der Impfungen aus religiösen Gründen stellt in den Niederlanden immer noch ein Problem für die öffentliche Gesundheit dar, wie auch die jüngst registrierten Masern-Herde zeigen. Wir überwachen das potentielle erneute Aufkommen des Polio-Wildvirus, vor allem in dieser Gemeinschaft“.
Welche Lehre können wir aus der Epidemie in den Niederlanden ziehen?
Polio-Viren können in Bevölkerungen mit hohen Gesundheits- und Hygienestandards erneut ausbrechen und zu Epidemien führen, falls die Anzahl der Geimpften (die sogenannte Durchimpfungsrate) unter einem bestimmten Niveau liegt. Je ansteckender eine Krankheit ist, desto höher muss die Durchimpfungsrate sein, um Epidemien zu vermeiden.
Die Kinderlähmung gilt noch nicht als ausgerottet, obwohl die Anzahl der Erkrankungen seit 1988 um über 99% gesunken ist. Dieser Rückgang ist dem globalen Bestreben zur Ausrottung der Krankheit zu verdanken. Heute gilt die Poliomyelitis nur in 3 Ländern als endemisch: Nigeria, Pakistan und Afghanistan. Seit 2014 gilt Indien nach einem intensiven Impfprogramm als poliofrei.
Doch trotz dieser Fortschritte gilt die Poliomyelitis noch nicht als weltweit ausgerottet, solange auch nur ein einziges Kind durch das Virus infiziert wird.
Das Polio-Virus kann auf einfache Weise in ein von dieser Krankheit freies Land wieder eingeführt werden und sich rasch unter der nicht immunisierten Bevölkerung verbreiten.
Gibt es die Möglichkeit einer potenziellen Rück­kehr des Polio-Virus?
In Europa sind 11,5 Millionen Kinder und junge Menschen nicht gegen Poliomyelitis geimpft. In der nachstehenden Tabelle sind sie nach Alter aufgelistet (ECDC 2013):
Bei einem kleinen Teil davon wurde die Impfung sicher aufgrund spezifischer Gegenanzeigen nicht durchgeführt, aber der Großteil wurde höchstwahrscheinlich nicht geimpft, weil die Eltern dagegen waren. Die Skepsis gegenüber Impfungen ist bekanntlich in verschiedenen Ländern verbreitet.
Bis vor Kurzem galt das Risiko einer Rückkehr der Kinderlähmung in Europa als sehr gering, doch aufgrund zweier Ereignisse musste die Wissensgemeinschaft ihre Ansicht darüber ändern.
Das erste Ereignis ist die Rückkehr des Polio-Virus in Israel. Das Polio-Wildvirus Typ 1 (WPV1) wurde in zahlreichen Abwasserproben nachgewiesen, die 2013 in verschiedenen Gebieten Israels entnommen wurden (Manor 2014).Der Großteil der WPV1-positiven Proben stammte aus dem Süden des Landes. Sämtliche Viren wurden ausschließlich in Abwasserproben isoliert, wobei keine Fälle paralytischer Poliomyelitis festgestellt wurden.
Die Genuntersuchungen ergaben Analogien zwischen dem in Israel isolierten Polio-Virus und dem Virus, das 2012 in Ägypten in der Kanalisation nachgewiesen wurde, auf. Letzteres entspricht wiederum jenem, das in Pakistan vorzufinden ist. Dort gilt die Poliomyelitis wie in Nigeria und Afghanistan noch als endemisch.
Das zweite Ereignis ist eine Häufung akuter schlaffer Lähmungen durch das Polio-Wildvirus, das in der syrischen Stadt Deir ez-Zor zu 36 Erkrankungen zwischen 2013 und 2014 führte (http://www.emro.who.int/polio/countries/syrian-arab-republic.html).
Dabei waren vor allem Kinder unter zwei Jahren betroffen, die wahrscheinlich wegen der unsicheren Lage und des Bürgerkrieges nicht oder unvollständig geimpft waren. Die Durchimpfungsrate in Syrien war von 2010 bis 2012 von 91% auf 68% gesunken.
Polio-Viren sind hoch ansteckend. Die infizierten Personen übertragen die Erreger auf zweierlei Weise: über den Stuhl und über die oberen Atemwege (Schleimhaut des Nasen-Rachen-Bereichs). Ersteres betrifft vor allem Entwicklungsländer, die zweite Variante hingegen besonders Länder mit hohen Hygienestandards.
In Europa ist die Durchimpfungsrate nicht flächendeckend auf einem optimalen Stand, da in allen Ländern größere oder kleinere Bevölkerungsschichten nicht geimpft sind (ECDC 2013). Zudem werden Polio-Viren in Europa allgemein unzureichend überwacht. Dadurch gibt es ganze Gebiete, in denen sich Polio-Viren eine bestimmte Zeit lang verbreiten könnten, bevor sie entdeckt werden würden.

Häufige Fragen und Antworten

3. In Europa gilt die Diphtherie als sehr seltene Krankheit: Bedeutet dies, dass die verantwortlichen Bakterien verschwunden sind?

Vor der Einführung der Diphtherie-Impfung war die Erkrankung sehr häufig, sie zählte zu den häufigsten Todesursachen im Kindesalter.
Ab 1892 behandelte man die Diphtherie sowohl in den USA als auch in Europa mit dem Antitoxin. Dadurch ging die Todesrate durch Diphtherie in vielen Ländern zwischen Ende des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zurück. Dabei sprechen wir hier vom Antitoxin, nicht von der Impfung. Hier handelt es sich um ein Konzentrat aus Antikörpern tierischen Ursprungs, welches das Diphtherietoxin bekämpft.
Diese Antikörper schützen nicht vor der Krankheit, sondern dienen zu deren Behandlung, da sie das Diphtherie-Toxin neutralisieren. Die Impfung besteht hingegen aus Diphtherie-Antitoxin (bzw. Diphtherie-Toxoid), einer nicht toxischen Variante des Diphtherietoxins, durch die unser Immunsystem spezielle Antikörper bildet, die vor der Krankheit schützen.
Durch den Einsatz des Antitoxins nahmen die Todesfälle durch Diphtherie stark ab.
Wenn man über Krankheiten spricht, die durch eine Impfung vermieden werden können, ist die Todesrate allein noch nicht aussagekräftig genug. Es müssen nämlich auch die Komplikationen der Diphtherie mitberücksichtigt werden: Besonders schlimm sind jene für das Herz (Herzmuskelentzündung), das Nervensystem (Lähmung) und die Atemwege (Einengung aufgrund der Pseudomembranen im Rachen). In den Industrieländern gehört die Diphtherie seit geraumer Zeit zu den seltenen Krankheiten. Trotzdem kam es 1990 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Nachfolgestaaten zu einer großen Epidemie. Insgesamt wurden 200.000 Diphtherie-Fälle gemeldet, die fast 6.000 Tote forderten. Allein zwischen 1992 und 1995 wurden in der ehemaligen Sowjetunion über 125.000 Diphtherie-Fälle mit 4.000 Toten registriert (Dittmann 1997).
Die Infektion erfolgt durch Personen, die das Corynebacterium diphtheriae (den Krankheitserreger) im Rachenbereich tragen. Die Träger selbst weisen keinerlei Symptome der Krankheit auf. Die Übertragung erfolgt über die Atemwege. Eine weitere Form ist die Haut-Diphtherie, bei der die Ansteckung durch den direkten Kontakt mit erkrankten Menschen erfolgt.
Auch wenn die Diptherie in Europa als sehr seltene Krankheit gilt, weiß man laut einer Studie, dass der Erreger der Diphterie immer noch in Europa verbreitet ist, besonders in einigen Ländern Osteuropas (Lettland und Litauen), in denen dieselbe Bakterienart entdeckt wurde, welche die Epidemie in Russland verursachte: Es handelt sich dabei um eine besonders ansteckende und aggressive Variante des Corynebacterium diphtheriae (Wagner 2011).
Die Verbreitung der Diphtherie-Bakterien in Europa wird ausschließlich durch die hohe Durchimpfungsrate eingeschränkt. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass sich die Diphtherie-Bakterien durch einen natürlichen Vorgang von einem fast harmlosen Erreger, der die oberen Atemwege besiedelt, in einen aggressiven Killer verwandelt. Dieser Vorgang wird durch Beta-Prophagen ausgelöst, die ihre Gene in die Zelle des Corynebacterium diphtheriae einbauen. Diese veränderten Bakterien produzieren daraufhin das Diphtherietoxin. Die Bakterienstämme, die das Diphtherietoxin produzieren, erlangen einen selektiven Vorteil, da sie von Mensch zu Mensch schneller übertragen werden. Die Diphtherie-Impfung bekämpft das Toxin: Dadurch verliert das Corynebacterium diphtheriae bei einer hohen Durchimpfungsrate der Bevölkerung den zuvor erlangten selektiven Vorteil, und die Anzahl der Stämme, die das Toxin produzieren, sinkt konstant, bis sie beinahe verschwinden. Sollten die Impfungen unterbrochen werden, könnten die zurückgebliebenen Stämme wieder aktiv werden (Guilfoile 2009).
Erst kürzlich sind zwei Kinder in der EU an Diphtherie gestorben:
Im Mai 2015 kam es bei einem sechsjährigen Jungen in Spanien zu einer Infektion der Atemwege, die sich rasch verschlimmerte. Die Laboruntersuchungen bestätigten, dass es sich um Diphtherie handelte. Zwar wurde der Junge mit dem Antitoxin behandelt, aufgrund von Schwierigkeiten bei der Beschaffung des Medikamentes setzte die Therapie aber zu spät an und konnte das Kind nicht retten (ECDC 2015).
Da die Diphtherie eine seltene Krankheit ist, haben nur wenige Länder das Antitoxin lagernd. Um innerhalb von 48 Stunden nach Auftreten der systemischen Symptome mit der Behandlung beginnen zu können, hätte das Antitoxin noch am selben Tag der Labordiagnose verabreicht werden sollen. Die Eltern hatten sowohl den Jungen als auch seine Geschwister nicht impfen lassen. Die Mitschüler und Freunde des Jungen waren hingegen geimpft worden. Sie wurden einem Rachenabstrich unterzogen, um die Bakterien, die das Diphtherietoxin produzieren, nachzuweisen. In 8 Fällen war der Abstrich positiv. Das bedeutet, dass 8 Kinder einen Stamm in sich trugen, jedoch kerngesund waren: Die Impfung hatte sie vor der Diphtherie geschützt.
Im März 2016 wurde eine dreijährige Belgierin, die nicht gegen Diphtherie geimpft war, wegen einer Infektion der Atemwege ins Krankenhaus eingeliefert: Die Laboruntersuchungen ergaben, dass es sich um Diphtherie handelte. In kurzer Zeit kam es zu einer Herzkomplikation, und das Mädchen verstarb trotz Verabreichung des Antitoxins (ECDC 2016).