Der Kommentar

Liebe Leserinnen und Leser

Nicole Dominique Steiner
Es ist unglaublich, welche Fortschritte die Krebs-Forschung in den letzten Jahren gemacht hat. Im Interview mit Dr. Bernd Gänsbacher, Mitglied der Europäischen Arzneimittelzulassungs-Kommission ist, können Sie das nachlesen. Dank der neuen genetischen und molekularen Therapien können Patienten geheilt werden, bzw. mit Krebs als einer chronischen Erkrankung wie Bluthochdruck oder Diabetes viele Jahre mit einer guten Lebensqualität weiterleben, die noch vor zwanzig Jahren kaum Hoffnung hatten. Was manchen als Wunder erscheint, ist der Tatsache zu verdanken, dass der Mensch und die Vorgänge in seinem Körper, die Beschaffenheit der verschiedenen Zellen bis ins Detail erforscht werden und die neuen, intelligenten Medikamente nicht mehr wahllos Zellen in den Tod schicken, sondern ganz gezielt nur mutierte Zellen. Allerdings hat diese neue Gentechnologie, haben diese neuen, individuell auf jeden einzelnen Patienten zugeschnittenen Therapien Kosten, die für ein öffentliches Gesundheitswesen fast nicht mehr zu tragen sind. Eine Einteilung in Patienten, die sich Therapien erlauben können und andere, die sie sich nicht leisten können, darf es aber nicht geben. Nie. Jeder einzelne ist gefordert, dazu beizutragen, dass das öffentliche Gesundheitswesen bezahlbar bleibt. Wir müssen Verantwortung übernehmen für uns und unsere Gesundheit. Wie wichtig ein gesunder, verantwortlicher Lebensstil ist, haben wir in der Chance immer wieder geschrieben. Bewegung, Gewichtskontrolle, Sonnenschutz, nicht rauchen, an den Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen usw. All das kann einem Krebs vorbeugen. All das trägt dazu bei, dass die Kosten für das öffentliche Gesundheitswesen bezahlbar bleiben. Aber es reicht noch nicht. Wir müssen auch verantwortlich mit den Ressourcen umgehen. Das heißt, keine unnötigen Medikamente oder Untersuchungen verschreiben lassen. Meinem Hausarzt über alle Untersuchungen, die ich mache, auf dem Laufenden halten. Eine Patientenverfügung verfassen…
Und noch etwas: Meine Einstimmung dazu geben, dass meine gesundheitsrelevanten, digital erfassten Daten für mich, für jene, die mich behandeln und von bevollmächtigten Stellen abrufbar sind. Liegt eine solche Einstimmung nicht vor, kann ein Arzt, der einen Notfallpatienten behandelt, nicht schnell im Computer des Krankenhauses nach der Blutgruppe oder eventuellen Erkrankungen suchen. Ohne vorherige Zustimmung scheinen diese Daten nicht auf. Daten, die lebensrettend sein können oder zumindest helfen, Kosten und Zeit für Untersuchungen zu sparen, die eigentlich nicht nötig wären.
Ab sofort gibt es ein neues System: die elektronische Gesundheitsakte. Gesundheitsrelevante Daten können über die EGA genau dort abgerufen werden, wo sie gebraucht werden. Beim Haus- oder Kinderarzt, im Labor, in der Apotheke, im Krankenhaus oder bei einem Facharzt. Vor allem für chronische Patienten ein wichtiges Tool, um alle relevanten Informationen immer bei der Hand zu haben. Das Um und Auf dieser elektronischen Gesundheitsakte ist die Beteiligung der Bürger. Jeder von uns ist aufgerufen, über SPID (=digitale Identität) oder über die elektronische Bürgerkarte entweder am Computer oder auch an einem eigens eingerichteten Bürgerschalter sein Einverständnis zur Einspeisung der digitalen Daten zu geben. Ein Einverständnis das jederzeit vollständig oder partial auch wieder entzogen werden kann. Laboruntersuchungen, Röntgenaufnahmen, ärztliche Verschreibungen, Entlassungsbriefe… In der EGA ist unsere (Kranken)Geschichte dokumentiert, mit Namen für jene, die dieses Wissen brauchen, um uns besser behandeln zu können. Anonym für die Forschung und für jene Stellen, die planen und bereit sein, aktiv und verantwortlich mit meiner Privacy umzugehen. Als mündiger Patient.


Gute Lektüre wünscht Ihnen
Nicole Dominique Steiner


Aktuell

Noch vor wenigen Jahren unvorstellbar

Interview mit Dr. Atto Billio, Primar der Abteilung für Hämatologie und Knochenmarktransplantation in Bozen
„Blut ist ein ganz besonderer Saft”, heißt es in Goethes Faust. Ein flüssiges Gewebe, das aus ganz spezifischen Zellen besteht, deren Aufgabe es ist, Sauerstoff und Nährstoffe zu transportieren sowie aus Proteinen und auch Immun-Zellen. Blut wird im Knochenmark hergestellt. Krebserkrankungen des Bluts nennt man Leukämie, oder auch Liquid-Tumors (flüssige Tumore). In den letzten Jahren konnten dank der neuen Generation genetisch-molekulärer Medikamente bis vor wenigen Jahren noch undenkbare Fortschritte in der Heilung dieser Tumorerkrankungen erzielt werden. Ein Interview mit Dr. Atto Billio, Primar der Abteilung für Hämatologie und Knochenmarktransplantation am Krankenhaus Bozen.
Ein Interview mit Dr. Atto Billio, Primar der Abteilung für Hämatologie und Knochenmarktransplantation am Landeskrankenhaus Bozen. Achter Stock des Krankenhauses. Blauer Aufzug. Eine Welt für sich. Sterile Einzelzimmer, Ambulatorium mit Labor und Day Hospital. Die Hämatologie ist Anlaufpunkt für Patienten mit gut- und bösartigen Bluterkrankungen wie Anämie, Hämophilie (Bluterkrankheit) und Leukämien, Lymphome und Myelom.
Chance: Dr. Billio, beginnen wir bei der Abteilung. Wie viele Mitarbeiter haben Sie?
Dr. Atto Billio: Die Hämatologie ist eine äußert komplexe Abteilung. Wir haben 15 sterile (Einzel)Krankenzimmer, neun Plätze im Day-Hospital für die ambulanten Patienten sowie ein auf die Erkennung von Bluterkrankungen spezialisiertes Labor. Wir sind zusammen mit mir 14 Ärzte. Pflegekoordinator ist Andrea Pinna, es arbeiten hier 36 KrankenpflegerInnen, elf LabortechnikerInnen, sieben Verwaltungsangestellte, ein Qualitäts- und ein Datenmanager. Seit kurzem beschäftigen wir zudem eine Transplant-Nurse. Zum Team gehören außerdem eine Apothekerin sowie zwei (Onko)Psychologen. Insgesamt rund sechzig Personen. Wir arbeiten eng zusammen mit dem Dienst für Transfusion und Immunhämatologie, der von Dr. Cinzia Vecchiato geleitet wird. Und ich möchte betonen, dass die freiwilligen Organisationen wie AIL, LILT und Krebshilfe eine ganz wichtige Unterstützung für unsere Arbeit und auch für unsere Patienten darstellen.
Chance: Mit welchen Erkrankungen haben Sie es am häufigsten zu tun?
Dr. Atto Billio: Stationär auf der Abteilung behandeln wir vor allem Patienten mit akuter Leukämie, mit Lymphom oder Myelom, die einer Intensiv-Chemotherapie unterzogen werden müssen. Die Mehrzahl der an Lymphom, Myelom oder sonstigen Knochenmarksveränderungen (das Knochenmark ist sozusagen die Fabrik der Blutzellen) erkrankten Patienten können heute ambulant behandelt werden - bis vor wenigen Jahren undenkbar.
Chance: An akuter Leukämie erkranken vor allem Kinder und Jugendliche?
Dr. Atto Billio: Kinder ja. Tatsächlich zählt die akute lymphatische Leukämie (ALL) zu den häufigsten Tumoren im Kindesalter. Sie betrifft rund 80% der Erkrankten unter 14 Jahren. Erwachsene hingegen erkranken häufiger an chronischen Formen von Leukämie. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen akuten und chronischen sowie zwischen lymphatischen und myeloischen Leukämien. Der Unterschied liegt im Verlauf der Erkrankung und im betroffenen Zelltyp. Die vier häufigsten Formen sind: die akute und die chronische myeloische Leukämie (AML und CML) sowie die akute und chronische lymphatische Leukämie (ALL und CLL). CLL ist häufiger bei alten Menschen, ebenso wie AML, eine Leukämieform, die häufiger Männer und ab einem Alter von 65 – 70 Jahren betrifft. CML ist eine selten auftretende Form von Leukämie. ALL hingegen, die häufigste Form im Kindesalter, betrifft 9,5% der Fälle. Die Zahlen stammen vom nationalen Tumorregister, AIRTUM.
Chance: Was passiert bei einer Leukämie?
Dr. Atto Billio: Einfach gesagt, ist Leukämie eine unkontrollierte Überproduktion von weißen Blutkörperchen. In den akuten Formen reifen diese Zellen nicht und können dadurch nicht ihre Funktion übernehmen. Gleichzeitig verdrängen sie die anderen, gesunden Zellen. Bei den chronischen Leukämien hingegen haben wir es auch mit einer Überproduktion von weißen Blutzellen zu tun, aber sie sind ausgereifter und vermehren sich langsamer.
Chance: Gibt es besondere Faktoren, die das Ausbrechen einer Leukämie begünstigen?
Dr. Atto Billio: Man kann nie genau sagen, warum ein Patient an Leukämie erkrankt. Leukämie ist bedingt durch eine genetische Mutation der Blutstammzellen im Knochenmark, also jener Zellen, die die roten und weißen Blutzellen sowie die Blutplättchen herstellen. Ursache kann eine vorhergegangene Chemotherapie sein, Strahlenbelastung, aber auch bestimmte chemische Substanzen oder Viren.
Chance: Leukämie zählt zu den seltenen Krankheiten. Es gibt demnach kein Screening…
Dr. Atto Billio: Nein und leider auch keine vorbeugenden Maßnahmen wie bei anderen Tumorarten.
Chance: An welchen Symptomen kann man eine Leukämie erkennen?
Dr. Atto Billio: Das sind ganz unterschiedliche Beschwerden, die aber auch andere Ursachen haben können wie z. B. Nachtschweiß, Fieber, Müdigkeit, Knochen- oder Gelenksschmerzen, Gewichtsverlust, Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, geschwollene Lymphknoten oder eine vergrößerte Milz, häufige Blutungen.
Chance: Wenn solche Beschwerden häufiger auftreten, sollte man ein Blutbild erstellen lassen?
Dr. Atto Billio: Genau. Ein Hämogramm. Das Blutbild zeigt uns die genaue Zusammensetzung des Blutes und am Mikroskop kann ich erkennen, ob es veränderte, abnormale Zellen gibt. Wenn das Blutbild nicht in Ordnung ist, wird meistens auch eine Knochenmarkspunktion verschrieben, also eine Gewebsentnahme aus dem Knochenmark. Akute Leukämien können auch neurologische Beschwerden verursachen, hier sind dann weitere radiologische Untersuchungen und eine Lumbalpunktion, also die Entnahme von Nervenwasser angesagt.
Chance: Kommen wir zu den Therapien…
Dr. Atto Billio: Die Therapie hängt natürlich vom Typ der Leukämie ab. Im allgemeinen besteht sie aus einer Kombination von Chemotherapie mit Arzneimitteln der neuen Generation, z. B. mononuklearen Antikörpern, die in den Stoffwechsel der Tumorzellen eingreifen. Die neuen Medikamente ermöglichen uns eine personalisierte und für den Patienten weniger belastende Therapie. So kann z. B. die CML, die chronische myeloische Leukämie, heute zum Teil schon ohne Chemotherapie behandelt werden. Ich spreche hier von einer Krankheit, die noch in den 70er Jahren als unheilbar galt und bei der wir heute eine Lebenserwartung wie bei einem gesunden Menschen haben!
Chance: …die wichtigste Therapie bleibt die Transplantation?
Dr. Atto Billio: Grundsätzlich gilt es zwei Typen von Transplantation zu unterscheiden:
1. Bei der autologen Transplantation werden dem Patienten Stammzellen entnommen, präpariert und nach einer intensiven Chemotherapie wieder zugeführt. Auf diese Weise verkürzen wir die Zeit, in der der Patient anfällig ist für Infektionen und/ oder spontane Blutungen.
2. Bei der allogenen Transplantation erhält der Patient Stammzellen von einem Spender, damit ersetzen wir sozusagen das kranke Knochenmark und schaffen ein ganz neues Immunsystem, das die Krankheit bekämpfen kann.
Die autologe Transplantation ist im Grunde eine besonders intensive Art der Chemotherapie. Die autologe Transplantation ist hingegen eine komplexe therapeutische und klinische Maßnahme, sowohl was die Spende als auch die Behandlung des Patienten betrifft.
Chance: Muss der Patient für eine Transplantation stationär aufgenommen werden?
Dr. Atto Billio: Für die eigentliche Transplantation ja. Nach der autologen Transplantation kann er allerdings unter Umständen das Krankenhaus nach zwei, drei Tagen wieder verlassen. Bei einer Knochenmarkspende bleibt der Patient hingegen für etwa zwanzig Tage in einem mit besonderen Filtern ausgestatteten, sterilen Zimmer, um ihn vor Infektionen zu schützen. Die Möglichkeit der „externen“ Behandlung von Patienten, die eine autologe Transplantation erhalten haben, wird außer in Bozen nur in ganz wenigen anderen Zentren in Italien angeboten. Das ist höchster Behandlungsstandard! Allerdings geht es nur, wenn der Patient einen care-giver, also eine Person hat, die ihn rund um die Uhr unterstützen kann und wenn er in einem Umkreis von weniger als einer Stunde vom Krankenhaus entfernt lebt. Patienten, die weiter entfernt leben, können wir allerdings für die Zeit der Therapie Apartments in der Nähe des Krankenhauses zur Verfügung stellen.
Chance: Die Patienten aus der Region können also beruhigt sein, dass sie in ihrer Abteilung die bestmöglichen derzeit bestehenden Therapien erhalten und müssen nicht anderswo nach Heilung suchen?
Dr. Atto Billio: Unser Transplantationsprogramm ist JCAIE-akkreditiert (Joint Accreditation Committee ISCT/EBMT), einem Komitee, das sich zusammensetzt aus der internationalen Gesellschaft für Zell-Therapie, ISCT, und der Europäischen Gesellschaft für Stammzellen und Knochenmarkstransplantation, EBMT, und entspricht somit den höchsten europäischen und internationalen Standards, außerdem sind wir an verschiedenen internationalen Studien beteiligt.
Chance: Seit 2017 sind auch in Europa Medikamente zugelassen worden, die Wunder versprechen, auch bei Patienten, bei denen alle anderen Therapien fehlgeschlagen sind. Es handelt sich allerdings um ungemein kostspielige Therapien, 275.000 Dollar und mehr pro Infusion. Ein Problem vieler neuer Therapien: sie versprechen zwar unvorstellbare Heilungserfolge, aber die Kosten übersteigen die Möglichkeiten eines öffentlichen Gesundheitssystems. Wie sehen Sie die Zukunft?
Dr. Atto Billio: Sie sprechen von der neuen Krebsimmuntherapie CAR-T bei der, um es ganz einfach zu erklären, T- Lymphozyten gentechnologisch so verändert werden, dass sie Krebszellen und nur diese, angreifen. Die Abteilung für Hämatologie Bozen ist eine der ganz wenigen in Italien, die vom Ministerium autorisiert wurde, diese Behandlung durchzuführen. Wir sind in der Vorbereitungsphase. Das Problem der Bezahlbarkeit ist sicher eine der großen Herausforderungen der nahen Zukunft. Ich vertraue allerdings darauf, dass diese neuen und ungemein effizienten Therapien schlussendlich auch unter dem wirtschaftlichen Aspekt vertretbar und finanzierbar sind, weil sie insgesamt die Behandlungszeiten verkürzen und damit letztendlich Kosten einsparen.
Chance: Was ist für Sie persönlich die größte Herausforderung in Ihrer täglichen Arbeit?
Dr. Atto Billio: Als ich mein Medizinstudium abgeschlossen habe, galt Leukämie als unheilbare Krankheit. Und vielleicht ist es auch gerade das, was mich an diesem Fach so gereizt hat. Heute erreichen wir dank der unwahrscheinlichen Forschungserfolge bei der akuten Leukämie Heilungsquoten von 40 – 50%; bei Kindern, die an akuter lymphatischer Leukämie erkranken, sind wir bei 90%! Sicher, die neuen Therapien sind äußerst komplex. Es heißt bei jedem Patienten aufgrund seiner biologischen Daten und auch aufgrund seiner persönlichen Einstellung abzuwägen, welche individuelle Therapiestrategie am Erfolgversprechendsten ist. Es braucht einen strategischen, gut durchdachten, vorausschauenden Plan. Genau wie bei einer Partie Schach!