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Vom Krebs geheilt

Langzeitstudie der italienischen Tumorregister – Erfreuliche Aussichten

Eine Krankheit überleben oder aber geheilt sein. Bisher fiel ein Betroffener, der 15 oder 20 Jahre nach seiner Krebsdiagnose gesund ist, in die Kategorie überlebend. In einer Anfang des Jahres veröffentlichten Studie bricht die Vereinigung der italienischen Tumorregister zum ersten Mal ein Tabu und benutzt offiziell den Begriff „geheilt“.
Was auf den ersten Blick kaum mehr als ein semantisches Spiel zu sein scheint, hat – zumindest auf die Betroffenen – doch einen großen Einfluss. Geheilt ist eben doch etwas anderes als überlebend.
In der Vereinigung AIRTUM sind derzeit 40 Tumorregister in ganz Italien zusammengeschlossen. Diese decken etwa 51% des Territoriums ab, erfassen die Daten aller gemeldeten Krebspatienten und werten diese zu statistischen Zwecken aus. Ende des Jahres sollen weitere 18 Register dazukommen, damit wären 70 % Italiens abgedeckt.
Daten über Krebspatienten werden seit 1976 erfasst, als die ersten Krebsregister ihre Arbeit aufnahmen. Nun wurden zum Stichtag 1. Januar 2010 die seit 1976 von 29 Tumorregistern erfassten Daten in einer groß angelegten Studie zusammengefasst. Das erfreuliche Ergebnis: Immer mehr Menschen überleben ihre Krebsdiagnose nicht nur fünf Jahre oder neun Jahre, sondern auch 15, zwanzig Jahre und mehr. Nach Ansicht der Experten von AIRTUM, Anlass für eine Begriffsänderung: Geheilt. Zum Stichtag 1. Januar 2010 waren es laut den Tumorregistern in Italien 27 % der Krebskranken bzw. 704.648 Menschen, deren Lebenserwartung nach der Krankheit identisch mit jener von Menschen ist, die keinen Krebs hatten. Immerhin entspricht diese Zahl 1,2 Prozent der Gesamtbevölkerung Italiens.

Lang leben nach dem KrebsLang leben nach dem Krebs

Insgesamt verlängert sich die Lebenserwartung der Menschen (zumindest in Europa und in den entwickelten Ländern) zusehends. Italien liegt Statistiken gemäß mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 82,5 Jahren im Jahr 2013 weltweit (!) an dritter Stelle nach Hongkong (83,5) und Japan (83,1), in Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 81 Jahren. Mit zunehmender Lebenserwartung steigt auch die Zahl der Krebsfälle, aber es steigt auch die Anzahl der Personen, die als geheilt zu betrachten sind. Glaubt man der Studie von AIRTUM sind es pro Jahr drei Prozent mehr Personen, die nach einer Krebserkrankung als geheilt zu betrachten sind.
Patienten, denen vor dem 44. Lebensjahr ein Krebs diagnostiziert wurde, haben laut den Untersuchungen von AIRTUM eine höhere Chance auf ein Langzeitüberleben als Patienten, die bereits über 65 oder über 70 waren, als sie an Krebs erkrankten.
Grund der positiven Entwicklung ist mit Sicherheit das öffentliche Vorsorgeprogramm, das immer mehr greift und immer mehr Menschen dazu bringt, sich regelmäßig den Screenings zu unterziehen. Die sogenannte sekundäre Prävention mit PAP-Test, Mammographie, PSE-Test für die Prostata sowie die Untersuchung auf Blut im Stuhl , um Dickdarmkrebs im Frühstadium zu erkennen, trägt Früchte. Je früher ein Tumor erkannt wird, desto größer ist die Chance auf Heilung.
Hinzu kommen die neuen Tumortherapien (z. B. jene auf Molekularebene), die immer gezielter auf die Tumorzellen wirken, ohne das umliegende Gewebe zu schädigen und weniger belastend sind als die traditionelle Chemotherapie. Auch die Aufrufe zu einem verantwortlichen Lebensstil, der primären Prävention, scheinen zumindest bei einem Teil der Bevölkerung mehr und mehr zu greifen.
Mit dem Langzeitüberleben der Krebspatienten sind neue Aufgaben für das öffentliche Gesundheitssystem und auch für die Gesellschaft verbunden, aber auch Anstöße für neue Studien hinsichtlich Wiedereingliederung in die Gesellschaft und hinsichtlich Lebensqualität von ehemaligen Krebspatienten.
Ein wichtiger Teil der Arbeit der Tumorregister dient der Programmierung. Dank der über große Zeiträume erfassten Daten kann das öffentliche Gesundheitswesen, kann die Politik planen und reagieren. Nicht nur hinsichtlich von möglichen Krankheitsentwicklungen, sondern auch von Ausgaben, Bereitstellung von Dienstleistungen, Krankenhausbetten, Ärzten usw. Ehemalige Krebspatienten bedürfen spezifischer Kontrollen, aber nicht nur. Es gilt Langzeitschäden der Behandlung Rechnung zu tragen, psychologische Betreuung zu gewährleisten, die Integrierung in das Arbeitsleben zu organisieren, den allgemeinen Bedürfnissen dieser Menschen Rechnung zu tragen: Familiengründung, Rentenansprüche usw.
Noch vor dreißig Jahren kam die Diagnose Krebs einem Todesurteil gleich. Bis vor kurzem wurde diese Krankheit als chronisches Leiden gehandelt. Nun ist der erste Schritt zu hoffnungsvollen Horizonten getan, an deren Ende das Wort Heilung steht!

Aktuell

Vorsorge ist das Um und Auf

Krebs kann immer besser behandelt werden – Interview mit Dr. Mazzoleni

Zahlen und Statistiken zum Thema Krebs sind sein tägliches Brot. Dr. Guido Mazzoleni ist Primar der Abteilung für Pathologie am Bozner Krankenhaus und Direktor des Südtiroler Tumorregisters. Die Chance hat ihn zur jüngst erschienenen Studie der Vereinigung der italienischen Tumorregister, AIRTUM, befragt.
Chance: Dr. Mazzoleni, handelt es sich hier nur um Wortspielerei oder entspricht das Ergebnis der Studie von AIRTUM einer epochalen Wende. Eine Krebserkrankung kann man nicht nur lange überleben, Krebs ist heilbar.
Dr. Guido Mazzoleni: Eine sehr interessante Studie und nicht zuletzt auch ein Zeichen, wie wichtig die Arbeit der Tumorregister ist. Ich würde es vielleicht etwas vorsichtiger ausdrücken. Die sekundären Präventionsmaßnahmen greifen immer mehr, die allgemeine Lebenserwartung steigt und vielleicht werden die Leute auch sensibler und sind zunehmend bereit, ihren Lebensstil dem anzupassen, was wir Ärzte, Onkologen usw. als krebsverhindernd erachten. In dieser Hinsicht, ist es keine Seltenheit mehr, dass Krebskranke die Diagnose zehn, fünfzehn, zwanzig und mehr Jahre überleben und schlussendlich die gleiche Lebenserwartung haben wie jemand, der nicht an Krebs erkrankt ist. Ich denke es ist mehr eine Frage der Definition, ob ich von geheilt rede oder von langzeitüberlebend.
Chance: Für den Patienten macht aber vielleicht gerade dieses Wort den Unterschied…
Dr. Mazzoleni: Tatsache ist, dass wir heute dank der Präventionsmaßnahmen viele Krebsarten erfolgreich behandeln können. Nehmen Sie z. B. den Gebärmutterhalskrebs. Dank dem Pap-Test ist diese Krebsform bei uns praktisch verschwunden, unter den 4.000 neuen Krebsfällen pro Jahr in Südtirol sind vielleicht 20 oder 30 Tumore des Gebärmutterhalses, zumeist im Frühstadium. In Afrika hingegen sterben nach wie vor jedes Jahr viele Frauen daran.
Chance: Sie sprechen von Primär-Prävention, Sekundär-Prävention…
Dr. Mazzoleni: …genau und von Tertiär-Prävention. Mit letzterem bezeichnen wir die Behandlung des Krebses. Und in diesem Bereich sind wir, Südtirol und Norditalien, ganz vorne. Bei uns werden die neuesten Protokolle angewendet, jeder Fall, jeder Patient ist in ein komplexes Netz eingebaut, kann sich darauf verlassen, dass seine Erkrankung nach Bestem Wissen und Gewissen, gemäß den neuesten Erkenntnissen behandelt wird. Bei Früherkennung, also wenn der Krebs unter einem halben Zentimeter ist, bedeutet das exzellente Heilungschancen. Eine delikate Angelegenheit ist nach wie vor die Primär-Prävention…
Chance: Sie meinen damit den Lebensstil, den famosen Europäischen Krebskodex? Nicht rauchen, wenig Fleisch, kein Alkohol, ausreichend Bewegung, mediterrane Diät, den eigenen Körper kontrollieren …
Dr. Mazzoleni: Ja, zum Einen sicher dies, da ist eben jeder gefordert, Verantwortung zu übernehmen und das rechte Maß zu finden zwischen einem ausgeglichenen gesunden Lebensstil, der aber nicht nur aus Entbehrungen besteht.
Chance: Sie meinen damit, nicht jeder muss jetzt Vegetarier werden, weil der Genuss von Fleisch Krebs verursachen kann…
Dr. Mazzoleni: So in dieser Richtung. Jeder muss das für sich entscheiden, sein persönliches Risiko einschätzen und tragen. Umberto Veronesi, wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Krebsinstitutes in Mailand z. B. ist Vegetarier seit er in den 80er/ 90er Jahren die „China Study“ von Colin und Thomas Campell gelesen hat. Ich persönlich habe ehrlich gesagt auch zehn Minuten daran gedacht, nach dem ich das Buch gelesen habe, aber ich esse noch Fleisch. Mit Maßen, aber ich esse es. Ähnliches gilt für den Alkohol. Ich kann ganz darauf verzichten, oder aber ich schränke den Konsum so ein, dass er keinen Schaden zufügt. Aber das alles ist nicht so einfach wie 1 plus 1 ist gleich zwei. Es gibt viele Faktoren, die wir noch nicht kennen….
Chance: Deshalb sagen Sie, die primäre Prävention sei delikat?
Dr. Mazzoleni: Genau. Ein Beispiel: In Südtirol gibt es mehr Magenkrebs als anderswo. Die Ursache wird darin gesucht, dass die Bevölkerung hier tendenziell mehr Geräuchertes und Gepökeltes isst, als anderswo. Speck, Würste, Schweinfleisch… Das mag zum Teil auch stimmen, aber nicht nur. Früher gab es keine andere Konservierungsmöglichkeit als zu räuchern oder zu pökeln. Heute haben wir alle einen Kühlschrank. Wir können jeden Tag frische Lebensmittel einkaufen, könnten also auch ohne Kühlschrank immer frische Produkte essen. Salat gibt es das ganze Jahr über, Obst auch… Nicht immer sind die Ursachen so klar und so logisch. Es gibt auch Vegetarier und Nichtraucher, die an Krebs erkranken oder – das sind allerdings sehr sehr wenige - Gewohnheitsraucher, die über 90 werden.…
Chance: Zurück zur Anfangsfrage: geheilt oder nicht geheilt?
Dr. Mazzoleni: Ich hatte gerade heute die Biopsie von einer Patientin vorliegen, die vor 18 Jahren einen Brustkrebs hatte. Nun ist an der gleichen Stelle wieder ein Herd. Im Frühstadium. Diese Patientin hat die letzten 18 Jahre beschwerdefrei gelebt und ich gehe davon aus, dass es nach der Behandlung dieser Rezidive so weitergeht. Für die nächsten 18 Jahre und mehr…

Dr. Guido MazzoleniDr. Guido Mazzoleni