Die Neuregelung der Tumorchirurgie

„Gleiche Überlebenschancen für alle“

Interview mit Gesundheitslandesrat Richard Theiner
Die Neuordnung der Tumorchirurgie ist ein wichtiger Punkt im Rahmen der 2010 von der Landesregierung beschlossenen Klinischen Reform. Gesundheitslandesrat Richard Theiner ist immer noch erstauntüber die heftigen Reaktionen, die die Bekanntmachung der von einer Expertenkommission erarbeiteten Eckdaten hervorgerufen haben.
Chance: Ein heißes Eisen, dass Sie da im Wahljahr angepackt haben …

LR Theiner: Ich habe diese Neuordnung mit Sicherheit nicht initiiert, um Applaus einzuholen, sonst hätte ich klarerweise in einem Wahljahr die Finger davon gelassen. Aber hier geht es weder um Wählerstimmen, noch um Bezirksinteressen. Hier geht es ausschließlich um das Wohl der Krebspatienten. Da stehen alle politischen Überlegungen hintan. Und ich möchte betonen: Es geht auch nicht um Kosten-Einsparungen. Es geht um mehr Qualität für die Patienten und um die Anpassung an die europäischen Standards.

Chance: Ärzte, die in den Peripherie-Krankenhäusern Südtirols arbeiten, sprechen von Diskriminierung, von einer Abwertung ihrer Professionalität.

LR Theiner: Davon ist überhaupt keine Rede. Ich bin doch sehr erstaunt, wie einzelne Ärzte – und ich betone einzelne – ihre ganz persönlichen Interessen überdas Wohl der Patienten zu stellen scheinen. Und mehr noch: Ich finde es sträflich, wenn einzelne Lokalpolitiker auf diesen Karren aufspringen, mit der klaren Absicht, sich profilieren zu wollen.

Chance: Es werden Argumente vorgebracht wie „Ein Chirurg ist kein Chirurg, wenn er nicht alles operieren kann“ „Wir werden keinen Nachwuchs für die kleinen Krankenhäuser finden“, „Das ist nur ein Manöver, um die kleinen Krankenhäuser zu schließen“,"Das ist eine Abwertung unserer Professionalität"…

LR Theiner: Es geht doch überhaupt nicht um eine Beurteilung der Ärzte. Wir haben ausgezeichnete Ärzte in den Grundversorgungskrankenhäusern und ich hoffe, das wird auch so bleiben. Auch von einer Schließung dieser Krankenhäuser kann überhaupt nicht die Rede sein. Sie sind ungemein wichtig im Rahmen der Krebsbehandlung. Die Diagnostik und der gesamte postoperative Bereich sind schließlich dort angesiedelt.

Chance: Wie wirkt sich diese Reform denn konkret auf die Tätigkeit der Chirurgen aus?

LR Theiner: Das ist genau der Grund, warum ich diese ganze Aufregung nichtverstehe. Wenn sie die Zahlen von 2011 hernehmen, dann wird ersichtlich, dass 93 % der Krebsoperationen ohnehin schon in den Schwerpunktkrankenhaushäusern bzw. im Zentralkrankenhaus in Bozen vorgenommen wurden. Das heißt in Schlanders, Sterzing und Bruneck sind nicht einmal 7 % der Krebsoperationen durchgeführt worden! Diese Peripheriekrankenhäuser sind in keinem einzigen Fall auch nur annähernd an die nun vorgeschriebenen Schwellenwerte für die Zertifizierung herangekommen. So viel wird ihnen demnach nicht weggenommen. Außerdem: Wenn ein Arzt, der in einem kleinen Krankenhaus arbeitet,entsprechend qualifiziert ist, dann kann er Teil eines OP-Teams in einem der großen Krankenhäuser sein.

Chance: Das heißt, ein Arzt, der in Sterzing arbeitet, kann seinen Patienten in Brixen operieren, wenn dieser das wünscht?

LR Theiner: Nein, das nicht. Aber das OP-Team in Brixen oder in Bozen oder in Meran kann ihn hinzuziehen. Im Rahmen des Tumorborads sind ohnehin alle Beteiligten, also Ärzte und medizinischen Mitarbeiter vernetzt und in ständigem Dialog.

Chance: Es geht also nicht um eine Diskriminierung oder Deklassierung der Grundversorgungskrankenhäuser?

LRTheiner: Absolut nicht. Sie sind ein wichtiger Teil unseres Sanitätssystems.
Chance: Wie stehen ihrer Ansicht nach die Direkt-Interessierten, also die Patienten zu dieser Neuordnung?

LR Theiner: Sehen Sie, ich werde oft von Bürgern angesprochen. Sie fragen immer, „Wo ist die beste Behandlung, nie, wo ist die nächste!“ Und ich habe auch mit Lokalpolitikern gesprochen, die jetzt der Neuordnung kritisch gegenüberstehen und sie gefragt, von wem sie einen Angehörigen operieren lassen würden, von einem Chirurgen, der sieben Fälle pro Jahr operiert oder von einem, der 70 OPs durchführt. Kein einziger würde die erste Möglichkeit wählen. Das nenne ich Wasser predigen und Wein trinken. Es ist doch ganz klar, dass wer mehr macht auch über die größere Erfahrung verfügt. Das ist evident und wird überall so gehandhabt. Wir wollen jedem Patient das Maximum an Qualität garantieren.

Chance: Apropos Zahlen. Im Rahmen der Zertifizierung muss jeder Chirurg, jedes Zentrum bestimmte Schwellenwerte erreichen. Sind diese allen zugänglich?

LR Theiner: Größtmögliche Transparenz ist eine der Voraussetzungen für diese Neuordnung. Das sind wir den Patienten schuldig.Jeder soll die Möglichkeit haben, sich zu erkundigen, wo welcher Eingriff, wie oft und mit welchen Ergebnissen durchgeführt wird.

Chance: Wann startet diese Neuordnung?

LR Theiner: Sie ist schon im Gange und wird sukzessive durchgeführt. Und glauben Sie mir, in ein paar Jahren wird man nur mehr den Kopf schütteln, über diesen Sturm im Wasserglas.

Die Neuregelung der Tumorchirurgie

Die Ressourcen bündeln

Interview mit Professor Dr. Alfred Königsrainer
Er zählt zu den erfolgreichen Südtirolern im Ausland. Professor Dr. Alfred Königsrainer wurde in St. Leonhard in Passeier geboren und ist seit 2004 ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine, Viszerale und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Tübingen.
Königsrainer war 2012 federführendes Mitglied der wissenschaftlichen Expertenkommission, die den Rahmen für die Neuordnung der Tumorchirurgie in Südtirol vorgegeben hat. Vor seiner Berufung nach Tübingen war der Transplantationsexperte stellvertretender Leiter der Klinischen Abteilung für Allgemein- und Transplantationschirurgie an der Uni-Klinik für Chirurgie in Innsbruck. Vom 1. Juli bis Ende Dezember 1995 war Königsreiter Primar der Abteilung für Chirurgie am Krankenhaus Bozen.

Chance: Worum ging es bei der Erstellung des Konzepts für die Neuordnung der Tumorchirurgie?

Dr. Alfred Königsrainer: Mehr als das Konzept für die Neuordnung haben wir vor allem einen Erhebungsbogen für die Zertifizierung in Anlehnung an italienische Vorgaben und den Richtlinien der Deutschen Krebshilfe erarbeitet. Daneben wurde durch die Sanitätsdirektion die Ist-Situation in Südtirol erhoben und der aktuelle Status im Wesentlichen an die erarbeiteten Richtlinien angepasst. Herausgekommen ist dabei eine Mischung zwischen der italienischen Realität und den Kriterien der deutschen Zertifizierungsauflagen. Erhebungsbögen werden durchwegs von interdisziplinären Expertenkommissionenerstellt, die sich aus Vertretern der Arbeitsgemeinschaften, der Berufsverbände, der Fachgesellschaften und Patientenvertretern zusammensetzen.

Chance: Da geht es auch um Zahlen…

Dr. Königsrainer: Ja, aber nicht nur. Natürlich braucht es für Qualität auch gewisse Mindestmengen. Das Ganze ist aber viel komplexer. Zertifizierte Zentren müssen jährlich bei einer Begutachtung vor Ort nachweisen, dass sie die fachlichen Anforderungen an die Behandlung der Tumorerkrankung erfüllen und zudem über ein etabliertes Qualitätsmanagementsystem verfügen. Die fachlichen Anforderungensind in Form von Erhebungsbögen zusammengefasst, die die quantitativen und qualitativen Voraussetzungen für die Zentren enthalten. Die Anforderungen werden in interdisziplinären Kommissionen erarbeitet und in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Chance: Wie beurteilen Sie die Ausgangssituation in Südtirol?

Dr. Königsrainer: Gut. Südtirol verfügt über gut ausgerüstete Krankenhäuser und in den Krankenhäusern über gute Mediziner. Optimiert werden muss die interdisziplinäre Vernetzung in und unter den Krankenhäusern.

Chance: Und wie sehen Sie die künftige Entwicklung?

Dr. Königsrainer: Es geht jetzt darum – und das ist ja das Ziel der Neuordnung – die Ressourcen zu bündeln, um den Patienten eine hochqualifizierte medizinische Versorgung gemäß den internationalen Standards garantieren zu können. Die Anpassung an diese Standards hat noch einen weiteren Zweck: In Europa können die Patienten zukünftig frei wählen, wo sie sich behandeln lassen wollen. Wenn Südtirol den Anschluss nicht verlieren will, ist die Zertifizierung ein wichtiger Baustein.

Chance: Es geht also nur um Qualität und nicht auch um Kosten?

Dr. Königsrainer:Es geht in erster Linie um Qualität. Dass eine Bündelung auch mit einer gewissen Kosteneinsparung verbunden ist, liegt auf der Hand. Komplexe Untersuchungen und Behandlungen erfordern eine entsprechend ausgerüstete Infrastruktur; diese Apparaturen sind sehr teuer. Es ist ein Unterschied ob ich sie sieben Mal oder nur drei Mal finanzieren muss.

Chance: Mit Bekanntgabe der Ergebnisse der Arbeitsgruppe hat sich in Südtirol ein Sturm der Entrüstung erhoben. Einige Ärzte aus den Peripheriekrankenhäusern reden von Deklassierung. Wie stehen Sie dazu?

Dr. Königsrainer: Ich denke, wenn die Politik in Belange eingreift, die sehr fachspezifisch sind, ist es fast eine logische Konsequenz und nicht sehr verwunderlich, wenn eine gewisse Missstimmung aufkommt. Andererseits ist die Zertifizierung ein Mittel, um Qualität langfristig zu etablieren. Und um Qualität zu messen, sind gewisse Mindestmengen erforderlich.

Chance: Sie sind Südtiroler, leben und arbeiten aber schon lange in Deutschland. Wie wird die Chirurgie und insbesondere die Tumorchirurgie in Deutschland gehandhabt?

Dr. Königsrainer: In Deutschland sieht es so aus, dass nicht zertifizierte Krankenhäuser vermutlich zukünftig gewisseLeistungen nicht mehr bezahlt bekommen. Zertifizierung ist deshalb unumgänglich geworden. Wenn Sie vor unserer Tür stehen (Universitätsklinikum Tübingen, Anm. d. Red.), sehen Sie ein Zertifikat neben dem anderen hängen. Und nicht nur die Krankenkassen, auch die Patienten fragen vermehrt danach.Die Zertifizierung ist außerdem ein gutes Mittel, um ständig das eigene Vorgehen, die Kooperationen, die Logistik etc. zu hinterfragen, um einen ständigen Prozess der Verbesserung zu gewährleisten.

Chance: Südtirol hat knapp 500.000 Einwohner. Sieben Krankenhäuser. Jeder Bürger ist lauteiner Statistik im Schnitt weniger als 12 Km vom nächsten Krankenaus entfernt …

Dr. Königsrainer: Das klingt nach Paradies… und nicht von dieser Welt.