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Angewandte Qualitätskontrolle

Interview mit Dr. Manfred Mitterer: Klinische Forschung im onkologischen Dayhospital Meran
Die Corona-Epidemie hat weitreichende Folgen gehabt, nicht nur in der Gesellschaft und in den direkt betroffenen Abteilungen der Inneren Medizin und der Intensiv-Medizin. Das hat zu massiven Umstellungen und Anpassungen von Arbeitsabläufen in diversen klinischen Abteilungen geführt, u.a. auch in der internistischen Tagesklinik in Meran. Onkologische Patienten zählen zu den besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen. Diese besonderen Herausforderungen fanden ihren Niederschlag in intensiver Forschungstätigkeit.
Sechs Studien sind seit April 2020 in international renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht worden, die letzte im vergangenen Oktober, eine weitere steht kurz vor der Veröffentlichung. Ein Gespräch mit Primar Dr. Manfred Mitterer.
Dr. Mitterer, die Corona-Epidemie hat im Frühjahr 2020 ganz Europa überrollt.
Dr. Manfred Mitterer: Das stimmt. Aber ich muss sagen, dass wir von Anfang an die Situation sehr ernst genommen haben und die Vorgänge in China sehr aufmerksam beobachtet haben. Schon bei der Einführung des Lockdowns am 9. März 2020 waren wir uns bewusst, dass Sars-CoV-2 gerade für Menschen mit Vorerkrankungen und insbesondere für Patienten mit geschwächtem Immunsystem, eine große Gefahr darstellt. Die wenigen zur Verfügung stehenden Daten aus China zeigten eindeutig, dass onkologische Patienten durch Corona riskieren, schwer zu erkranken und auch häufig an dieser Infektion sterben. Es war uns klar, dass wir unsere Patienten besonders schützen müssen.
Die Lösung war ein umgehender Lockdown der Abteilung?
Dr. Manfred Mitterer: Ganz genau. Wir haben quasi dicht gemacht. Der Zugang zu unserer Abteilung war nur begrenzt möglich. Es gibt effektiv viele Dinge, die Patienten auch zuhause machen können, in direktem Kontakt mit den behandelnden Ärzten und der Pflege. Gemeinsam mit Onkologen aus München, Portugal und Argentinien haben wir eine App entwickelt, um die Patienten aus der Ferne medizinisch überwachen und begleiten zu können.
Für diese sogenannte „Out-Patient-Care“ braucht es aber Anleitungen…
Dr. Manfred Mitterer: Das stimmt! Wir haben die Patienten natürlich nicht sich selbst überlassen, sondern standen in kontinuierlichem, engem Kontakt mit ihnen. Mittels dieser „Fern-Betreuung“ musste jeder Patient täglich standardisierte Fragen beantworten. Zudem haben wir jedem ein Puls-Oxy-Meter zur Verfügung gestellt, um die Vitalfunktionen regelmäßig zu überprüfen um die für die frühzeitige Erkennung von Corona so wichtigen Parameter wie Temperatur, Atemfrequenz, Puls und Sauerstoffsättigung im Blut zu sehen. Dass die sogenannte „Outpatient-Care“ so reibungslos funktionierte, war freilich nur dank der guten Zusammenarbeit aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung möglich, der Ärzte sowie der Pflegekräfte. Nicht umsonst ist unsere Pflegekoordinatorin Monika Alber Mitautorin bei mehreren wissenschaftlichen Publikationen.
Die App wurde schon im April 2020 angewendet, die Studie im Juni veröffentlicht... Sie haben keine Zeit verloren.
Dr. Manfred Mitterer: Es war auch keine Zeit zu verlieren. Publish or perish (veröffentlichen oder verschwinden).
Im gleichen Monat wurde bereits die 2. Studie online gestellt.
Dr. Manfred Mitterer: Eine Studie über die Inzidenz in Meran, der erste Nachweis der Durchseuchungsrate auf der Basis von 6.000 PCR-Tests bei der Normalbevölkerung und bei ca. 700 onkologischen Patienten.Die Tests haben ergeben, dass diese 5-mal mehr betroffen waren als andere Kategorien, d.h. sie sind wesentlich vulnerabler.
Auch die dritte Studie, erschienen im Januar 2021, ist eng mit der täglichen Arbeitsrealität in ihrer Abteilung verbunden.
Dr. Manfred Mitterer: Diese Studie hat untersucht, wie gut unsere Vorsichtsmaßnahmen, Triage, Outcare etc. gegriffen haben. Wie sauber wir gearbeitet haben. Und hier muss ich betonen, dass das Ergebnis exzellent war! Wir haben Patienten und Mitarbeiter auf Antikörper getestet und nachweisen können, dass keine einzige Infektion von den Mitarbeitern ausgegangen ist! Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Infektionen in der Familie erfolgen, ist das ein Nachweis, wie sehr wir uns auf unsere Mitarbeiter verlassen können und wie gut unsere Maßnahmen gegriffen haben!
Bei der zweiten Welle sahen die Zahlen aber anders aus?
Dr. Manfred Mitterer: Vorausgeschickt, dass wir die erste Welle hervorragend gemeistert haben, die zweite hat uns (wie alle) komplett überrumpelt. Im Laufe der zweiten und dritten Welle haben wir 230 SARS CoV-2 Patienten auf unserer Abteilung gezählt und betreut. Wir haben auch Patienten verloren! Die Hälfte dieser Patienten (und hier liegt der besondere Wert dieser Veröffentlichung) war asymptomatisch. Die hätten wir nie gekriegt…
…wenn sie nicht konsequent durchgetestet hätten?
Dr. Manfred Mitterer: Genau! Auf unserer Abteilung liefen neben den erforderlichen und sehr strengen Hygienemaßnahmen, PCR-Tests go-go. Wir haben bisher überschlagsmäßig knapp 400.000 Euro für Tests ausgegeben. Sozusagen als „Nebenprodukt“ dieser Testungen, konnten wir einen Datenschatz sammeln, über den meines Wissens keine andere vergleichbare Institution mit 230 Fällen verfügt. Eine internationale Studie, die europaweit die Todesfälle bei onkologischen Patienten untersucht hat, kam auf eine Zahl von 13% der Patienten, in China waren es 30%, bei uns waren es 8,5%. Unser scharfes, regelrecht militärisches Regime hat demnach sehr gut funktioniert und sich eindeutig bezahlt gemacht.
In einer vierten Studie, die im Juni 2021 im European Cancer Journal erschienen ist, haben Sie die Ergebnisse der Antikörper-Messungen von einmal geimpften Patienten vorgestellt und hierbei die unterschiedliche Wirksamkeit bei jenen, die sich bereits mit Corona infiziert hatten, und den nicht-infizierten Patientinnen und Patienten herausgearbeitet.
Dr. Manfred Mitterer: Wir konnten dadurch feststellen, dass bei den infizierten bzw. genesenen und geimpften Patienten, die Zahl der gebildeten Antikörper wesentlich höher war, als bei nicht-infizierten Patienten. Daraus ergab sich die Schlussfolgerung, dass eine zweite Impfung nicht bei allen Patienten notwendig war. Aus heutiger Sicht mag das allgemein bekannt sein, aber zum damaligen Zeitpunkt war es eine unglaublich wichtige Erkenntniss, nicht zuletzt weil Impfstoffe noch Mangelware waren. Während die nicht-infizierten Patienten derzeit die dritte Impfung erhalten, bekommt die Gruppe der Genesenen jetzt den zweiten Pik. In jedem Fall gilt eines, für onkologische Patienten und generell für alle: Lassen Sie sich impfen! Die Impfung schützt zwar nicht 100% vor Ansteckung, aber unbedingt vor schweren Verläufen!
Eine Studie, die Sie mit der onkologischen Klinik Wien zusammen durchgeführt haben, wurde auch in der bekannten Zeitschrift Jama Oncology veröffentlicht.
Dr. Manfred Mitterer: Wir haben den Antikörperverlauf bei unterschiedlichen geimpften Patientengruppen untersucht und mit den Daten von geimpften, nicht erkrankten Personen verglichen (Ärzte und Pfleger) und nachweisen können, dass das Immunsystem von Patienten mit soliden Tumoren (z.B. Brustkrebs) besser auf die Impfung anspricht, als jenes von Patienten mit hämatologischen Tumoren und einer Anti B-Zell-Therapie. Konkret bedeutet dies, dass Patienten mit einem Myelom oder einem Lymphom deutlich gefährdeter sind, als andere. Zudem unterstreicht diese Studie noch einmal mehr, dass eine Impfung unerlässlich ist - für alle!
Nebenbei: für diese Studie haben wir vom Dayhospital in Meran die Daten von 480 Personen zur Verfügung gestellt, Wien von 111. Und: diese Studie wurde, sozusagen als Pflichtlektüre, auch auf die Webseite der europäischen Gesellschaft für Onkologie gestellt!
In einer weiteren Studie, Oktober 2021, ist ihre Abteilung der Frage nachgegangen, welchen Einfluss die Mobilität der Bevölkerung auf die Ansteckungsrate hat.
Dr. Manfred Mitterer: Eine sehr interessante Studie, die gezeigt hat, wie wichtig die Lockdown-Maßnahmen sind, so unpopulär sie auch sein mögen. In Südtirol gab es während der ersten Welle 500 Fälle pro Woche, während der zweiten, als die Bevölkerung weniger diszipliniert war und die Politik, in meiner Ansicht nach, vorzeitig geöffnet hat, waren es 4.000!
Dank der genauen Analyse von Google-Mobility-Daten, konnte ein klarer, direkter Zusammenhang mit der deutlich größeren Mobilität der Bevölkerung festgestellt werden. Zudem lassen sich hier auch die politischen Entscheidungen, wie z.B. die vorübergehende Öffnung während der Weihnachtsfeiertage 2020 oder die vorzeitige Öffnung im Jänner 2021, sehr deutlich ablesen.
Die im November 2020 durchgeführten Massentests der Bevölkerung waren ein Trugschluss?
Dr. Manfred Mitterer: Absolut. Sie erfolgten, als die Welle schon am Abflauen war und erfasste von rund 350.000 getesteten nur 3.600 infizierte Personen. Auf Basis dieser Zahl, entschieden die Verantwortlichen eine weitgehende Öffnung – ohne auf die Entwicklung in den Gegenden ringsum zu achten. "Fein, wir sind aus dem Schneider und öffnen", war die Reaktion. Von wegen! Nach der ersten Öffnung im November, schnellte die Mobilitätskurve hoch und Ende Dezember ging es wieder los. Ab Mitte Januar mit dem Nachweis der weitaus aggressiveren, britischen und südafrikanischen Variante einer nachgewiesenen neuen Mutation. Mitte, Ende Januar lag dann die Infektionsrate der onkologischen Patienten über jener der Bevölkerung. Alles aufgrund der zunehmenden Mobilität.
All diese Studien sind sozusagen nebenher gelaufen?
Dr. Manfred Mitterer: Wir sind eine der wenigen Abteilungen, die auch akademische Lehrabteilung (der Universität Innsbruck) ist. Und wir erbringen den Beweis, dass auch in der Peripherie hochwertig geforscht werden kann. Allerdings alles in der Freizeit, nach Dienstschluss! Für uns ist diese Forschungsarbeit gleichzeitig eine Art von Qualitätskontrolle unserer Tätigkeit. Und wie ich schon betont habe, was sehr wichtig ist: Pflege und ärztliches Team arbeiten Hand in Hand.
Primar Dr. Manfred Mitterer
Die Titel der veröffentlichten Studien
a) A Web- and App-Based Connected Care Solution for COVID-19 In- and Outpatient Care: Qualitative Study and Application Development.
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32406855/
b) Infection rate and clinical management of cancer patients during the COVID-19 pandemic: experience from a tertiary care hospital in northern Italy.
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32527730/
c) Evaluating the longitudinal effectiveness of preventive measures against COVID-19 and seroprevalence of IgG antibodies to SARS-CoV-2 in cancer outpatients and healthcare workers.
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33502609/
d) High levels of anti-SARS-CoV-2 IgG antibodies in previously infected patients with cancer after a single dose of BNT 162b2 vaccine.
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34217909/
e) Humoral Immune Response in Hematooncological Patients and Health Care Workers Who Received SARS-CoV-2 Vaccinations.
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34591965/
f) Mobility as a driver of SARS-CoV-2 in cancer patients during the second COVID-19 pandemic wave.
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34610144/

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Effizienz im Dienst der Patienten

Die interdisziplinäre internistische zentrale Tagesklinik am Krankenhaus Meran
Entstanden ist die interdisziplinäre, zentrale internistische Tagesklinik ("Dayhospital") des Meraner Krankenhauses aus dem ehemaligen Blut-Transfusions-Zentrum, das auch hämatologische Patienten mitbetreut hat. Das Dayhospital, das rund 4.000 Patienten im Jahr und etwa 80 Patienten am Tag versorgt, wird seit September 2000 von Primar Dr. Manfred Mitterer geleitet. Pflegekoordinatorin ist seit 2003 Monika Alber.
In der zentralen internistischen Tagesklinik arbeiten neun Ärztinnen und Ärzte, dreißig Pfleger*innen, pharmazeutisches und labortechnisches Personal sowie Psychoonkologinnen und -onkologen sowie Verwaltungspersonal fächerübergreifend zusammen. Die zu verabreichenden Chemotherapien werden in der Apotheke auf der Abteilung zubereitet. Etwa 85% der Patienten kommen aus dem Vinschgau, Meran und dem Burggrafenamt.
Das Patientenmanagement wird über eine eigens in der Abteilung entwickelte Software abgewickelt, die Therapie und Follow-Up jedes Patienten für fünf Jahre erstellt. „Im Südtiroler Sanitätsbetrieb gibt es kein vergleichbares System“, betont Primar Mitterer. „Auch die Apotheke bedient sich der Software, um eine Woche im Voraus die notwendigen Präparate zu bestellen und herzustellen.“ Die Patienten erhalten über dieses System alle Termine, die im Bedarfsfall aber auch verschoben oder an neue Erfordernisse angepasst werden können. Das System unterliegt ständigen Kontrollen, um Falschdosierungen oder Patientenverwechslungen auszuschließen.
Primar Dr. Mitterer ist stolz auf seine Abteilung. „Unsere hochspezialisierte Pflege muss den Vergleich mit großen Kliniken nicht scheuen!“ Sie setzt alle peripheren Venenkatheter mit Hilfe eines mobilen Ultraschallgerätes; auch für andere Abteilungen und die Erste Hilfe. Mit Hilfe des Ultraschallgeräts kann die Arterie ausgeschlossen und die am besten geeignete Vene gefunden und vermessen werden, um einen Katheter der passendenden Größe zu setzen. Das hochqualifizierte Ärzteteam ist mit einem Durchschnittsalter von 40 – 45 relativ jung und verfügt über internationale Erfahrungen. Der Abteilung ist auch die Palliativmedizin angegliedert, mit zwei Ärzten und Pflegern.
Die zwanzig Betten des internistischen Dayhospitals für die ambulante Chemotherapie sind aufgeteilt auf drei helle Räume. Die Patienten mit soliden oder hämatologischen Tumoren werden aus allen Abteilungen des Krankenhauses zugewiesen. Die Ärzte des Dayhospitals nehmen pro Woche an zehn Tumorboards teil, in denen die Diagnosen, sowie Therapien und Follow-Up besprochen und bestimmt werden.