Weihnachten

Seid wach

Für die letzte Ausgabe des Jahres der Chance haben wir Luciano Casagrande von der Vereinigung Julé Namastè um einen Beitrag gebeten. Seit vielen Jahren unterstützt er das Projekt einer Schule für Kinder sowie die Wiederaufnahme der Viehzucht in einer Gemeinschaft tibetischer Flüchtlinge, die im Spiti-Tal im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh leben. Für die Chance hat er einen Text von Annamaria Finotti ausgewählt. (nd)
Adventus
Im vorchristlichen Rom bedeutete Adventus das jährliche Eintreten der Gottheit in den ihr geweihten Tempel. Adventus Domini ist das Eintreten des Herrn in den Tempel des Herzens, der Beginn des liturgischen Jahres, das in vier Wochen die Zeit des Wartens verdichtet … Die Zahl Vier ist die Zahl der Vollständigkeit, ein Urbild der Ganzheit auf der irdischen Ebene: vier Seiten hat das Quadrat, Symbol des Elements Erde; vier sind die Himmelsrichtungen, die unseren Raum definieren; vier die Jahreszeiten, die unseren Lebensrhythmus bestimmen. Vier Reiche des Lebendigen, vier Ur-Elemente, vier Basen der DNA, vier Kräfte, die alle Vorgänge in der physikalischen Welt bestimmen. Aber auch vier Evangelien, vier Veden, vier „Edle Wahrheiten“ des Buddhismus – und so weiter. Eine nach der anderen brennen die Kerzen ab, und die „Fülle der Zeit“, symbolisiert durch den geschlossenen, vollkommenen Kreis des Adventskranzes, vollendet sich. Und noch ein weiteres Bild: ein Ruf, wach zu sein, aufmerksam zu bleiben – uns also aus einer Art Schlaf der Vernunft zu wecken, der uns gefühllos macht und den Schatten ausliefert, die die sich – wie in Platons Höhlengleichnis – auf unsere Bildschirme projizieren.


Wachet auf
„Die Stunde ist gekommen, vom Schlaf aufzuwachen. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts."
Der Ruf der Adventszeit ist jener der Wachsamkeit, aufzuwachen, aus dem Schlaf zu treten. Ein Aufruf, der in allen spirituellen Traditionen zu finden ist. Im symbolischen Sinn steht Schlaf für den Zustand dessen, der sich treiben lässt, statt zu leben. Der die Erinnerung an seine Ursprünge verliert. Es ist der Schlaf des Geistes und des Herzens, der uns hindert, das Bewusstsein unseres irdisch-himmlischen, menschlich-göttlichen Schicksals zu erlangen … Leicht zu werden, die Schwere zu überwinden, die uns an das Element Erde bindet – das sind Synonyme für den Prozess der Selbsterkenntnis.


Annamaria Finotti, “La grotta interiore – Il Natale che è in noi“, Ed. Ancora
„In Zeiten, in denen wir täglich mit Leid und Verzweiflung konfrontiert sind, hilft es, einen tieferen Sinn zu suchen – vielleicht die einzige Möglichkeit, der Mutlosigkeit zu begegnen. Die Worte von Annamaria Finotti tragen eine Hoffnungsbotschaft in sich: Sie wurzelt in der christlichen Tradition, weist aber über jede Religion hinaus und berührt eine ältere, vorchristliche Symbolik. Auch Buddha lehrt in den „Vier Edlen Wahrheiten“, dass sich die Ursachen des Leidens überwinden lassen. Eine Botschaft der Hoffnung also – jener Hoffnung, die wir gerade in dieser Weihnachtszeit besonders brauchen.

Ich wünsche allen LeserInnen eine frohe Weihnacht und ein neues Jahr im Zeichen der Hoffnung“

Luciano Casagrande

Thema

„Es reicht nicht mehr, nur das Leben zu retten“

Dr. Romano Polato, verantwortlicher Leiter der Breast-Unit Bozen
Foto: Othmar Seehauser
Das Wichtigste ist die Kollegialität im Team: rund dreißig Fachleute – Chirurgen, Onkologen, eine Psychologin, Physiotherapeuten, Pathologen, Radiologen und Strahlentherapeuten sowie die Breast Care Nurses – die gemeinsam die Qualität der Breast-Unit ausmachen. Seit 2013 trägt sie das Eusoma-Zertifikat; bereits 1996, als der verantwortliche Leiter Dr. Romano Polato kam, existierte sie als Ambulanz für Frauen mit Brustkrebs.
Die Breast-Unit ist in gewissem Sinne eine Vorreiterin?
Dr. Romano Polato: Das stimmt. Das Tumorboard zum Beispiel: Wir waren die Ersten, die so etwas hatten – schon vor der Eusoma-Zertifizierung 2013. Heute ist das in allen Abteilungen, die sich mit onkologischen Erkrankungen befassen, ein Muss. Die Brustmedizin ist tatsächlich sehr oft Vorreiterin neuer Verfahren, die später von allen übernommen werden.
Warum ist das so? Wegen der hohen Fallzahlen?
Dr. Romano Polato: Sicher auch deshalb. In Italien haben wir 60.000 Brustkrebsfälle pro Jahr, in Europa sind es über eine halbe Million. Aber nicht nur deswegen: Frauen sind stark! Sie sind Mütter, Schwestern, Töchter, Großmütter – sie sind entschlossen, sie fragen nach, sie geben sich nicht zufrieden. Es gibt viele von ihnen, und dahinter stehen viele Interessen; das wirkt sich auf die Forschung und auf die Entwicklung neuer Prozeduren und neuer Medikamente aus. Es gibt einen starken Druck, zu verbessern und immer etwas Neues hinzuzufügen.
Die Breast-Unit hat einen völlig eigenen Charakter im Vergleich zu anderen Ambulanzen. Es herrscht eine besondere Atmosphäre, viel Augenmerk auf kleine Details, auch im Wartebereich.
Dr. Romano Polato: Es freut mich, wenn Sie das so wahrgenommen haben. Es stimmt, wir achten sehr darauf. Wir fördern jetzt die sogenannten PROMs – Patient Reported Outcome Measures, also ein Instrument, um die Lebensqualität zu bewerten, nachdem Chirurgie, Chemo- und Strahlentherapie abgeschlossen sind.
In dem Sinn, dass es nicht mehr genügt, das Leben zu retten – man braucht mehr?
Dr. Romano Polato: Genau. Es genügt nicht mehr, vor allem weil wir nicht nur mit älteren Menschen zu tun haben, sondern auch mit Frauen um die vierzig, fünfzig oder noch jünger. Es reicht nicht mehr, nur das Leben zu retten: Man muss auch die Lebensqualität sichern. Sie sollen ihre alltäglichen Aktivitäten wieder aufnehmen können, Sport treiben, sich im eigenen Körper wohl und schön fühlen. Sie sollen keine Schmerzen oder andere Beschwerden aufgrund des Eingriffs haben. Wir müssen fragen: „Wie geht es Ihnen jetzt? Konnten Sie wieder Skifahren? Fühlen Sie sich im Alltag und im Umgang mit Menschen sicher?“ Es ist eine moralische und medizinische Pflicht sicherzustellen, dass es den Menschen wirklich gut geht. Deshalb erhalten sie 3, 6 und 12 Monate nach Ende der Therapie Fragebögen, um die Lebensqualität zu überprüfen. Und ich versichere Ihnen: Diese PROMs werden bestimmt bald auch in anderen Abteilungen eingeführt werden.
Auch weil der Tumor – wenn er nicht geheilt wird – immer mehr zu einer chronischen Krankheit wird, mit der man lange lebt?
Dr. Romano Polato: Genau. Viele erkranken heute bereits in einer sehr aktiven Lebensphase, mit vielen Jahren vor sich. Und man muss sagen: Die Chirurgie hat enorme Fortschritte gemacht, auch die onkoplastische Chirurgie. Wir drei Chirurgen der Breast-Unit sind nicht nur Brustchirurgen, sondern auch onkoplastische Chirurgen …
…weil der ästhetische und funktionale Aspekt immer wichtiger wird?
Dr. Romano Polato: Ja, und zwar genau aus den Gründen, die ich zuvor erwähnt habe. Wir Chirurgen müssen das Maximum anbieten, jede Frau hat das Recht, das bestmögliche Ergebnis zu erwarten. Wenn es sich um komplexe Fälle handelt, braucht es natürlich den plastischen Chirurgen. Doch in vielen Fällen können wir selbst schon ein hervorragendes Resultat garantieren, und die Frauen müssen nicht erneut hospitalisiert und weiteres Mal operiert werden. Auch das ist Lebensqualität!
Und die Frauen werden zudem in die Lage versetzt, selbst die für sie passende Operation auszuwählen?
Dr. Romano Polato: Genau. Wenn ich eine Patientin zum ersten Mal sehe, weiß ich ja außer der Diagnose nichts über sie. Deshalb muss ich jedes Detail der verschiedenen Optionen erklären: Prothese, autologer Gewebstransfer oder auch die Flat-Option. Ich muss alle Möglichkeiten erläutern, inklusive Risiken und Nachteile – und das geht weit über die formelle Patienteneinwilligung nach Aufklärung hinaus, es endet nicht mit den Tagen des Krankenhausaufenthaltes. Die Frau muss mit dem leben, was sie gewählt hat – und gut damit leben.
Abgesehen vom persönlichen und professionellen Einsatz jedes Chirurgen und des gesamten Teams der Breast-Unit: Basieren all diese Abläufe auf der Eusoma-Zertifizierung?
Dr. Romano Polato: Ja. Wir müssen jedes Jahr eine Revision und alle zwei Jahre eine Supervision durchlaufen – und das ist eine enorme Arbeit. Hinter jedem Dokument, das wir vorlegen, stecken viele Stunden Arbeit. Aber trotz der Menge ist das für uns keine Last, im Gegenteil: Es ermöglicht uns, kontinuierlich zu hinterfragen, was wir tun, unsere Arbeit Schritt für Schritt zu verbessern und zu überprüfen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind oder ob es etwas Neues gibt, das hinzugefügt werden sollte. Wir bleiben nie stehen.