Thema
Jeder ist anders betroffen
Interview mit der Psychoonkologin Dr. Brigitte Greif

Eine Zäsur. Die Zeit bleibt stehen. Alles ist plötzlich ganz anders. Nichts mehr ist selbstverständlich. Gelähmt. Das ist die Grunderfahrung, die die meisten Betroffenen bei einer einem Krebsverdacht bzw. bei der Krebsdiagnose empfinden. Ein nachvollziehbarer Schockzustand. Nicht jeder geht damit auf die gleiche Art und Weise um. Die PsychoonkologInnen stehen allen PatientInnen zur Verfügung. Nicht jede/r nimmt das Angebot wahr.
Der diesjährige Weltkrebstag stand unter dem Motto United by Unique – Gemeinsam einzigartig. Der Mensch und seine ganz besondere Geschichte im Mittelpunkt. Deshalb war es naheliegend, neben dem Datenexperten und Pathologen Dr. Guido Mazzoleni, die Psychoonkologin Dr.in Brigitte Greif vom Psychologischen Dienst am Krankenhaus Meran zusammen mit dem Primar der Onkologie in Bozen, Dr. Luca Tondulli zur Pressekonferenz der SKH einzuladen. Psychlogie und Onkologie sind schließlich eng miteinander verbunden.
Wie wird das Angebot der Psychoonkologie von den Patienten angenommen?
Dr.in Brigitte Greif: Die Antwort auf das Angebot ist grundsätzlich gut, aber nicht alle brauchen uns. Manchmal bleibt es bei zwei – drei Gesprächen, andere sagen kategorisch „Nein“ und andere wiederum begleiten wir über mehrere Jahre hinweg.
Woran liegt das?
Dr.in Brigitte Greif: Nicht jeder ist gleich, nicht jeder hat das gleiche Netz um sich, den Partner, die Familie, Freunde. Jede/r Betroffene reagiert anders, ist anders betroffen. Manche brauchen uns nicht, ziehen es vor, alles mit sich selbst auszumachen. Andere finden schon nach einigen Gesprächen Entlastung, andere finden im Gespräch Strategien und schätzen eine Begleitung auf Dauer. Andere nur Phasenweise. Wie das Motto des Krebstages sagt, jede/r ist einzigartig, reagiert einzigartig.
Apropos Phasenweise. Welches sind nach der Diagnose besonders kritische Momente?
Dr.in Brigitte Greif: Der Therapiebeginn, das Therapieende und das Zurück in den Alltag. Hier beginnen viele, die aus dem Strudel der Untersuchungen und Therapien heraus sind, Ruhe zu finden, um Emotionen zu verarbeiten. Dann ein Rezidiv und schließlich auch die Palliativsituation. Die Statistiken belegen, dass 20 - 40% der PatientInnen nach der Diagnose, während des Wartens auf Befunde und auf OP-Termine, nach Beginn der Therapie, wenn die Frage im Raum steht, „Schlägt sie an?“, unter psychologischem Distress stehen. Das heißt Stress, der als bedrohend, als quälend und überfordernd empfunden wird.
Unsicherheit, Angst, Verzweiflung, Trauer, auch Wut, das Gefühl der Ungerechtigkeit sind Gefühle, die PatientInnen begleiten. Besteht die psychoonkologische Betreuung darin, Strategien zu vermitteln, damit fertig zu werden?
Dr.in Brigitte Greif: Anstelle von Strategien vermitteln, die natürlich ganz individuell abgestimmt sind, bevorzuge ich den Ausdruck, Wege aufzeigen und gemeinsam schauen, was kann helfen. Gemeinsam Wege erarbeiten. Aber auch vermitteln, dass man sich dieser Gefühle nicht zu schämen braucht, dass sie ganz normal sind, dass man sie zulassen muss, ihnen Raum geben muss, sich zugestehen, „Ich darf das haben“.
Nur wer Emotionen zulässt, kann daran arbeiten?
Dr.in Brigitte Greif: Richtig. Wenn ich mir darüber klar werde, was macht mir Angst, dann kann ich mich aktivieren, mich dagegen wappnen. Der erste Schritt ist sich zu fragen „Was spüre ich?“ und "Wie kann ich das meistern?" Es hilft, sich andere Situationen zu vergegenwärtigen, in denen man Ängste hatte, sich erinnern, „Wie bin ich damit fertig geworden? Kann das jetzt auch helfen?“ Sich darüber klar werden, "Was brauche ich jetzt, in dieser ganz konkreten Situation?" Ohne Rücksichtnahme auf Umstände und andere Personen.
Und da ist die Antwort auch wieder ganz individuell…
Dr.in Brigitte Greif: Genau. Für den einen sind gerade jetzt die sozialen Kontakte wichtig, für die andere das Innehalten, Meditieren, hilfreiche Gedanken suchen, für wieder andere, in besonderem Maße auf den eigenen Körper zu achten oder auch besonderen Aktivitäten nachzugehen, die guttun. Theater, Ausstellungen, Spazierengehen, Reisen…
Gibt es ein Konzept, das Sie immer wieder anwenden?
Dr.in Brigitte Greif: Vorausgesetzt, dass jede/r Betroffenen eine ganz eigene Geschichte ist, vielleicht dies: Einen Schritt nach dem anderen gehen. Nichts übereilen. Sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Was kann ich heute tun? Was tut mir heute gut? Körperlich, sozial, emotional, spirituell… Was und wer tut mir gut?
Viele haben Sorge, dass die psychoonkologische Betreuung mit Ausgaben verbunden ist und dass die Wartezeiten lang sind.
Dr.in Brigitte Greif: Mit einem Tumorticket ist die psychologische Begleitung kostenlos. Unabhängig davon, ob es eine kurze oder eine lange Begleitung braucht. Im Fall einer Tumorerkrankung beträgt die Wartezeit maximal zwei Wochen! Während des Krankenhausaufenthalts steht der diensthabende Psychologe jederzeit zur Verfügung. In allen Krankenhäusern. Und wenn Angehörige psychologischen Beistand benötigen, denn das darf man nicht vergessen, auch sie befinden sich in einer Ausnahmesituation: Die Betreuung durch die psychologischen Dienste der Südtiroler Krankenhäuser für jedermann erschwinglich.