Thema

Eine Krankheit – viele Geschichten

Wie war es? – Wie ging es weiter? – Die Bezirksvorsitzenden erzählen sich
Die Vorsitzenden der Südtiroler Krebshilfe: v.l.n.r. Oskar Asam, Margereth Aberham, Nives Fabbian, Ida Schacher, Maria Claudia Bertagnolli, Helga Schönthaler, Paul Oberarzbacher


United by Unique – Einzigartig zusammen. Das Motto der nächsten drei Jahre für den Weltkrebstag ist die Basis der Südtiroler Krebshilfe. Viele Menschen vereint durch dasselbe Schicksal, die gleiche Erfahrung. Den Wunsch, einander beizustehen, jenen zu helfen, die erst am Anfang dieses steilen Weges stehen. Stellvertretend für alle Mitglieder erzählen wir die Geschichte der Bezirksvorsitzenden.
Was bei allen Geschichten auffällt: Das Datum der Diagnose hat sich allen in das Gedächtnis gebrannt. Der Tag, an dem alles mit einem Mal so ganz anders war. Nicht alle haben allerdings die Krankheit in erster Person erlebt. Nives Fabbian De Villa, langjährige Bezirksvorsitzende des Eisacktals ist über ihr soziales Engagement zur Krebshilfe gekommen und hat sehr nahe Menschen durch die Krankheit begleitet, Paul Oberarzbacher, Vorsitzender des Unterpustertals, ist mit seiner Frau den langen Weg durch die Krankheit gegangen. Auch den Angehörigen der Betroffenen beizustehen, ist ein wichtiges Anliegen der Krebshilfe. Jeder und jede schöpft Motivation aus seiner ganz persönlichen Erfahrung, eine große Patchwork-Decke, die sich schützend um die Menschen hüllt, ein Mosaik aus vielen kleinen Bausteinen: finanzielle, soziale und psychologische Unterstützung, Information, posttherapeutische Aktivitäten, Lymphdrainage, Hilfe für Angehörige, Vorsorge und menschliche Wärme.
Die Landesvorsitzende Maria Claudia Bertagnolli, Vorsitzende des Bezirks Bozen-Salten-Schlern hat bereits im Editorial über ihre persönliche Erfahrung gesprochen, stellvertretend für sie stellen wir die Geschichte von Herlinde Reitsamer vor.
Ida Schacher, zehn Jahre Landesvorsitzende und Vorsitzende des Bezirks Oberpustertal
Ich bin das erste Mal 1986 erkrankt. Ich hatte drei kleine Kinder und arbeitete in einer Konditorei. Vier Tage nach einer Ausschabung hat das Krankenhaus Bruneck angerufen: Wollen sie noch Kinder? Ich hatte einen Tumor am Muttermund und habe mich entschieden, die ganze Gebärmutter herausnehmen zu lassen. Ich musste keine Chemo- und keine Strahlentherapie machen. Und damit war für mich die Krankheit dann schon vorbei. Die frühere Vorsitzende des Pustertals, Irma Dapunt, wollte mich in die Gruppe der krebskranken Frauen aufnehmen, aber das hat mir nicht gefallen. Aber wenn Not war, war ich immer zur Stelle und ich habe angefangen, Irma zu helfen, sie zu den Patienten gefahren und dann sagte sie, ich solle kandidieren: „Wir brauchen Dich.“ Ja und dann wurde ich ihre Nachfolgerin und bekleidete anschließend für zehn Jahre die Position der Landesvorsitzenden. Eine Zeit, die ich nicht missen möchte. Auch wenn die zweite Hälfte meiner Amtszeit nicht leicht war. Es war im Spätherbst 2018. Ich war mit meiner Schwägerin Lena zu einem Rosenkranz in Maria Luggau. Ein wunderschöner Tag und dann plötzlich ein Wolkenbruch. Und ich konnte ganz plötzlich nicht mehr sitzen. Mein Hausarzt sagte zuerst, „Mach´ kein Theater.“ Aber dann am nächsten Tag rief er wieder an und sagte, "es ist alles bereit, um 10 Uhr hast Du Termin in Bruneck." Nur eine Stunde später hatte ich die Diagnose und 48 Stunden nach dem Pilgern wurde ich operiert. Zwei Tumore am Rektum. Ich musste Chemotherapie machen und 30 Bestrahlungen. Am Schluss habe ich nur noch "funktioniert". Aber alle haben mich unterstützt. Meine Familie, die Krebshilfe, Dr. Unterkircher brachte mir die Papiere zum Unterschreiben in die Bonvicini-Klinik. Ich nenne es "Mein Wunder" und bin voll Dankbarkeit. Es ist alles gut gegangen. Aber leicht ist es nicht. Ich muss mich sehr einschränken beim Essen, muss immer wieder zur Rektoskopie ins Krankenhaus. Aber ich will mich nicht beklagen, ich habe viele Menschen gesehen, die schlimmeres Leid tragen und ich bin jetzt noch mehr davon überzeugt, wie wichtig die Arbeit der Krebshilfe ist, wie wichtig die Krebshilfe als große Familie ist.
Paul Oberarzbacher, Vorsitzender des Bezirks Unterpustertal
Februar 1983 war es. Meine Frau Anna war 28 Jahre alt, unser jüngster Sohn gerade zwei geworden. Ich steckte in der Prüfung zur Lehrbefähigung. Diagnose Lymphdrüsenkrebs. Man hat´s verschleppt. Nur drei, vier Monate früher und alles wäre vielleicht anders gekommen. So war der Krebs schon im fortgeschrittenen Stadium. Eine sehr belastende Therapie. Chemo und für die Strahlen nach Innsbruck. Damals gab es keine Hilfen, ich musste sie immer hinausbegleiten. Eine Zeitlang ging alles gut. Dann kam 2000 eine Bypass-Operation. Die großflächige Bestrahlung hatte ihre Herzkranzgefäße geschädigt. 2015 weitere Bypässe und eine Herzklappe. Eine sehr komplizierte Operation und nach drei Tagen eine Entzündung. 14 Wochen war sie in der Klinik, sieben davon im künstlichen Koma. Dann hatte sie eine beidseitige Lungenentzündung, war zwischen Leben und Tod und ist wieder „auferstanden“, hat schlucken lernen müssen, gerade sitzen, gehen. Sie hat immer fleißig alle Therapien gemacht und ich habe sie unterstützt, wo ich konnte. Im Februar 2016 kam dann die nächste Diagnose: Mammakarzinom. Das hat sie damals sehr mitgenommen! Sie war schon so geschwächt und jetzt 30 Bestrahlungen und die Hormontherapie. Sie hatte schon Metastasen. Wir hätten uns kürzere Kontrollintervalle gewünscht, hatten sie auch gefordert. Sie war in der Malgruppe der SKH, bei den Schmetterlingen, war sehr kreativ. Ich habe dann angefangen, zu helfen, wenn es eine Hand gebraucht hat. Irgendwann haben sie mich gefragt, ob ich kandidiere und dann wurde ich gleich zum Vorsitzenden gewählt. Mir ist die vielseitige Hilfe wichtig, die die SKH den Betroffenen und ihren Familien gibt, wir hätten uns das auch gewünscht. Damals. Meine Frau ist mit 68 gestorben, am 1. April 2023. Sie musste auf vieles verzichten aufgrund ihrer Erkrankungen, aber sie war geduldig. Manche Tage war sie sehr angeschlagen. Heute fehlt mir der Partner, aber ich habe die Kinder und Enkel, bin mit meiner Wandergruppe viel in den Bergen unterwegs, ich lass mir Zeit, meditiere. Und Jammern nützt nichts!
Nives Fabbian, Vorsitzende des Bezirks Eisacktal
Ich bin selbst nicht an Krebs erkrankt, aber meine Mutter ist 2009 an Krebs gestorben, 2016 mein Mann, außerdem habe ich auch meine beste Freundin während ihrer Krankheit begleitet. Sich in Vereinen und für andere engagieren, das liegt bei uns wohl in der Familie. Meine Mutter war sehr im Bürgerheim aktiv, meine Schwester ist Mitglied der Caritas und lehrt Kindern aus Pakistan deutsch und italienisch und ich war vor der Krebshilfe im Bürgerheim und für andere Vereine engagiert. Die frühere stellvertretende Vorsitzende, Ada Scaggiante, eine Freundin meiner Mutter, hat mich irgendwann angesprochen: „Ich würde dich so gut bei uns sehen“, sagte sie und so bin ich Mitglied und Freiwillige geworden. 2005 hat mich Renate Daporta dann gebeten, zu kandidieren und ich wurde Vize-Präsidentin und sechs Jahre später ihre Nachfolgerin im Bezirk. Ich bin 1966 in die Verkehrspolizei eingetreten und habe ab 1979 im Regierungskommissariat in Bozen gearbeitet. 1999 bin ich in Pension gegangen und so habe ich jetzt Zeit, mich einzusetzen. Für mich ist die Krebshilfe längst ein Zuhause geworden, eine Familie. Immer wieder fragen Menschen mich, „Immer mit dem Krebs, wird dir das nicht zu viel?“ Aber für mich ist es die schönste Art, die Zeit zu nutzen, mit und für die anderen. Und wenn ich sehe, dass ich mit meiner Tätigkeit etwas ändern und helfen kann, dann ist das einfach schön.
Oskar Asam, Vorsitzender des Bezirks Meran-Burgrafenamt
Ich war gerade in Pension gegangen, 66 Jahre alt und voller Tatendrang, fühlte mich kerngesund, als ich plötzlich eine Geschwulst am Hals spürte. Mumps, in meinem Alter, fragte ich mich? Nein, die hatte ich schon als Kind. Es folgten viele Visiten bei HNO-Ärzten. Zwischen Bozen und Meran haben sie mich in jedes Rohr hineingeschoben. Informationen habe ich nie erhalten, nur Verschreibungen weiterer Visiten. Aber ich muss zugeben, ich habe auch nie gefragt. Dann eines freitags, ein Anruf. Ich soll mit meiner Frau ins Krankenhaus kommen, sie möchten den OP-Termin festlegen. Es war der 25. Oktober 2007. Unser Hochzeitstag. Ich fiel aus allen Wolken. Im Krankenhaus dann die Mitteilung, ich hätte einen bösartigen Speiseröhrenkrebs. Ich war aufgebracht. Warum hat mir niemand vorher etwas gesagt? Ich hätte eine Zweitmeinung eingeholt. Jetzt war keine Zeit mehr. Aber dann ist alles wunderbar gelaufen. Dr. Streitberger, der damalige Primar der HNO in Bozen, hat mich wunderbar operiert. Ich wachte auf, hing an sieben Schläuchen und konnte nicht mehr sprechen. Schmerzen hatte ich keine, aber große Angst, für immer stumm zu bleiben. Dann eines Tages kam ein Arzt ins Zimmer und sagte: „Adesso parli“. Ich brachte kein Wort heraus. „Parli“, schrie er mich an und ich sagte verärgert: “Was willst Du denn von mir!“ Dann strahlte ich ihn an. Meine Stimme. Was dann folgte, war hart. 36 mal musste ich nach Trient zur Bestrahlung. Ich verlor 20 kg an Gewicht. Ohne meine Familie hätte ich alles geschmissen! Als Koch war ich immer auf 120 gewesen, im Stehen essen, alles schnell, schnell, und Geld verdienen, das war mir wichtig. Heute nehme ich alles mit Ruhe, bin froh um jeden Tag Leben. Ich muss sehr langsam essen, viel kauen. Nach Therapieende ging es mir nicht gut. Qi Gong (Kurs der SKH) hat mir sehr geholfen, wieder in Form zu kommen und 2012 habe ich beschlossen, mich zu engagieren. Aus Dank und um anderen zu helfen.
Margareth Aberham, Vorsitzende des Bezirks Überetsch-Unterland
Am 29. November 2001 hatte ich den Vorsorgetermin zur Mammographie. Ich war 45 Jahre alt. Nach drei Tagen kam die Diagnose. „Jetzt hon ich Krebs, sie wern´ a bisserl doktern und dann stirbsch eh“, dachte ich damals. Und: "Jetzt sind wir zehn Geschwister, acht Schwestern und ausgerechnet mich, die Zweitjüngste, trifft es." Am 14. Dezember wurde ich an der Brust operiert. Im Januar nahm ich die Chemotherapie auf, im März die Strahlentherapie. Die Zeit war nicht fein, und nicht nur wegen mir. Mein Mann hat sich so gestresst, dass er einen epileptischen Anfall erlitten hat. Zwei Jahre durfte er danach kein Autofahren. So habe immer ich fahren müssen. Zur Krebshilfe bin ich über die Lymphdrainage gekommen und dann haben sie bald gefragt, ob ich nicht kandidieren möchte. Das war vor 20 Jahren. Meine Familie war mir ein großer Halt. Ich hatte damals schon drei Enkel, heute sind es sechs. Die Krankheit hat mich geduldiger gemacht. Und zufrieden. Ich bin glücklich und zufrieden mit meinem Leben. Wenn ich manchmal im Wartezimmer sitze und sehe, wie ungeduldig die Leute sind, dann denke ich immer, "Leut´, wenn´s ihr wüsstet…" Einmal im Jahr bin ich dann ein bisschen unruhig. Wenn der „Kollaudo“ dann gemacht ist, stecke ich das wieder weg, bis zum nächsten Jahr! Mein Mann ist im August 2022 gestorben, an Herzinfarkt. Nach 49 Jahren Ehe. Er hätte so gern Goldene Hochzeit gefeiert.
Herlinde Reitsamer, Mitglied des Bezirks Bezirks Bozen-Salten-Schlern
Im November 2017 bin ich zur Mammographie und war schon unruhig. Seit dem Sommer war da irgendwas. Und tatsächlich. Es wurde gleich eine Biopsie vorgenommen. Brustkrebs. Noch vor meinen Söhnen, habe ich meinen Neffen angerufen. Der ist Radiologe. Er hat mich vorbereitet. OP, Chemo, Bestrahlung. Ich war 77 Jahre alt. Chemo mache ich nie, dachte ich damals, das hilft eh nicht. Mein Mann ist vor 30 Jahren an Krebs gestorben. Im ersten Moment habe ich sehr gehadert. "Warum ich?" Am 19. Dezember bin ich operiert worden. Und die Krebshilfe hat mir das Herz-Pölsterchen geschenkt. Und dann hab´ ich doch alles angenommen, 16 Chemo und 25 Bestrahlungen. Aber vor dem Therapiebeginn habe ich erstmal noch Kekse gebacken und Weihnachten gefeiert. Die erste Chemo war schrecklich. Damals war es noch der alte Raum, alte Sessel und Bänke. Viele Leute, alte, junge. Lange warten. Danach bin ich nicht nachhause, sondern mit dem Bus in die Stadt gefahren. Bücher kaufen. Und habe zufällig „Gezählte Tage sind kostbare Tage“ gefunden von Reinhard Feichter. Das hat mir geholfen. Jetzt konnte ich plötzlich mit allen darüber reden. Meine Haare sind nicht mehr nachgewachsen, das habe ich noch nicht 100% annehmen können. Aber auch während der Therapie habe ich mein Leben weitergelebt. Meine Aktivitäten, meinen Sport, ich bin mit dem Fahrrad zu den Therapien gefahren. Kämpfen gefällt mir nicht als Wort, annehmen ist mir lieber. Das tun, was guttut. Ein normales Leben leben. Schöne Sachen machen, Menschen meiden, die einem nicht guttun. Sicher, alles wird anders. Ein anderer Gottesbezug, ein anderes Leben, andere Rituale. Anderen mit kleinen Dingen Freude bereiten, sich selbst auch. Sich zufriedengeben. Schöne Begegnungen schätzen, wie mit den Menschen der Krebshilfe, Tipps annehmen. Gratitudine ist ein so schönes Wort. Und Humor, das ist wichtig. Alles nicht so ernst nehmen!
Helga Wielander, Vorsitzende des Bezirks Vinschgau
Nach meinem dritten Kind kam die Diagnose Brustkrebs, ich war 36 Jahre alt. Ich habe es damals selbst gemerkt, bei der Eigenuntersuchung. Ich wurde nur operiert, eine Chemo war nicht notwendig. Dann, nach zwei weiteren Kindern, mit 42 hat man mir einen Gebärmutterkrebs diagnostiziert. Aber es ist alles gut gegangen. Ich bin dankbarer geworden durch diese Erfahrung. Mein Glauben hat mir sehr geholfen. Für mich ist das Leben ein Geschenk. Jeder Tag auf´s Neue. Und jetzt werde ich bald 69. Ich freue mich an meiner großen Familie, den fünf Kindern und den sechs Enkeln. Meine Kinder sind zwischen 46 und 28 Jahre alt. Ich habe 43 Jahre gearbeitet, zuletzt 22 Jahre als Religionslehrerin in der Grundschule und bin zwei Jahre früher in Pension, um meine Mama zu pflegen, aber sie ist nur vier Tage danach gestorben und wenig später auch meine Schwiegermutter. Aus Dankbarkeit für meine Heilung habe ich bei der Caritas eine Ausbildung zur Hospizbegleiterin abgeschlossen. Nachdem ich in Pension war, sind verschiedene Vereine an mich herangetreten und mir schien es richtig, aus Dankbarkeit, Zeit zu schenken. Die Krebshilfe ist für mich eine große Bereicherung. Es ist ein Geschenk mitzuerleben, welche Lebensfreude und welche Kraft Menschen entwickeln, wenn sie dem Tod nahe sind. Es ist traurig, viele Male Abschied zu nehmen, aber es gibt auch viel. Ich habe in all den Jahren gelernt, zuzuhören, gemeinsam zu schweigen und füreinander da zu sein. Aber ich habe auch gelernt, dass ich auf mich selbst schauen und aufpassen muss.
25 Jahre Weltkrebstag und viele Ziele
Vor 25 Jahren wurde der Weltkrebstag auf dem Weltgipfeltreffen gegen Krebs beschlossen, seit 2006 wird er in aller Welt begangen, 2008 stand er erstmals unter einem Motto: „I love my smoke-free childhood“ – „Kinder mögen es rauchfrei“. 2010 und 2011 lautete das Motto „Together let´s do something“ – Lasst uns gemeinsam etwas tun“. 2013 „Cancer Myths – Get the Facts“ – Krebs Mythen – Halten wir uns an Fakten“. 2015: „Not Beyond Us“ – „Nicht über unsere Köpfe“. 2016 – 2018 gab es zum ersten Mal eine Dreijahres-Devise: „We can. I can.“ „Wir können – Ich kann“. 2019 - 2021 hieß es „I am and I will“ - „Ich bin und ich werde“, 2021 – 2024 war es „Close the Gap“ – „Lücken schließen.“

Aktuell

Wollen wir das? Brauchen wir das?

Künstliche Intelligenz in der Diagnose – Längst keine Zukunftsmusik mehr
Foto: pixabay


Künstliche Intelligenz ist längst keine Zukunftsmusik mehr, sondern wird immer mehr zu einem täglich genutzten Instrument. Sie ist unglaublich schnell, schöpft aus einer unvorstellbaren, kontinuierlich wachsenden Fülle von Daten, beschleunigt Prozesse, perfektioniert sie auch. Was KI nicht kann und vor allem nicht soll, ist den Menschen, die Expertise von Fachkräften ersetzen. Auch in der Medizin hat sich KI längst ihren Platz erobert. Wir sind der Frage nachgegangen, ob und wie KI in der Diagnose hilft und haben dazu mit einer Pathologin, einem Onkologen, einer Radiologin und einem Radiotherapeuten gesprochen.
In den USA hat ein Arzt für Aufsehen gesorgt, der ausgehend von einer eigenen, seltenen Erkrankung, als er noch Medizinstudent war (Morbus Castleman, ein gutartiger Lymphknoten-Tumor) damit begonnen hat, bereits existierende Medikamente auf neue, unkonventionelle Wirkungsrichtungen zu untersuchen. Er konnte sich erfolgreich mit einem Medikament behandeln, das eigentlich Transplantierten gegen die Abstoßung des Organs verschrieben wird und so erhob Dr. David C. Fajgenbaum dieses Thema zu seinem Forschungsgebiet an der Pennsylvania University. Er verfeinerte die Suche nach neuen Wirksamkeiten bereits bestehender Medikamente mithilfe von KI und hat damit gerade im Bereich seltener Erkrankungen schon erstaunliche Therapie-Erfolge erzielt. Therapien, die nicht auf extrem kostspieligen neuen Forschungen, sondern auf Datenvergleich beruhen. Ein Datenvergleich, den ein Mensch allein nicht leisten kann, bzw. nicht in so kurzer Zeit leisten kann.
Auch im medizinischen Berufsalltag ebenso wie im Privatleben und im nicht wissenschaftlichen Bereich, hat sich Künstliche Intelligenz längst eingebürgert. Recherche, Übersetzungen, Texte anfertigen oder auf ihre grammatikalische oder stilistische Korrektheit überprüfen, Mails schreiben, Angebote erstellen, Kalkulationen…. In der regelmäßigen Anwendung treten auch die Limits und damit verbundenen, ethischen Probleme auf. Maschine gegen Mensch oder Maschine als Unterstützung? Das ist letztendlich die Grundfrage. In wissenschaftlichen Bereichen, wie auch Medizin geht es um Berechnungen, Prozentuale, Auswertungen, Daten-Vergleiche - da kann KI einen großen Beitrag leisten und vor allem zeitraubende oder auch bürokratische Tätigkeiten abnehmen, wie z. B. Berichte schreiben. Voraussetzung ist aber die Kontrolle durch den Menschen.
Dr. Christoph Leitner, Primar Abteilung für Interne Medizin und Leiter des Onkologischen Dayhospitals in Bruneck
In Bezug auf die Onkologie ist KI bereits durch Programme im Rahmen der Bild-Erfassung und anderer Bereiche in der Diagnostik im Einsatz. „KI im weitesten Sinn wird ein immer wichtigeres Hilfsmittel in der Prävention werden“, so Dr. Leitner, „z. B. durch die Smartwatches, die mit KI gestützter Analyse Daten aufzeichnen und auswerten, Vitalparameter und Risiken erfassen, die vom Lebensstil abhängen.“ KI werde in Zukunft eine Hilfe sein bei der Planung einer individualisierten Therapie. Massen an wissenschaftlichen Daten, die ein Onkologe nicht in der annähernd gleichen Zeit bewältigen könne, können analysiert und in Zusammenhang mit persönlichen Parametern von PatientInnen, Gewicht, Größe, Komorbiditäten etc. gebracht werden.
„Innerhalb Kürze werden Programme wie Chat-GPT oder andere sogenannte LLMs - Large Language Models, die noch viel besser auf die Bedürfnisse des Gesundheitsdienstes aufgebaut sein werden, behilflich sein in der Erstellung von Behandlungsprotokollen und der Extraktion und dem Vergleich von Daten. Vor allem aber wird KI für uns eine Unterstützung in der Verwaltung von Daten und im Erstellen von Dokumenten sein können, die relevant sind für Forschungen, aber auch für die Qualitätssicherung und Arbeitszeiteinsparung in der täglichen Praxis. Letzteres ein wichtiges Argument in einer Zeit großen Personalmangels!“
Was es aber braucht, um ein solches, ebenso wertvolles wie auch gefährliches (aufgrund der erfassten Datenfülle) Instrument zu nutzen, unterstreicht Leitner, ist eine ethische Diskussion, in der die Grenzen klar definiert und abgesteckt werden. „Wir dürfen uns nicht von technischen Neuheiten überrollen lassen, ohne Zeit zu haben, vorher die damit verbundenen Fragestellungen ausreichend zu klären, sich den Fragen zu stellen: Dürfen wir das? Brauchen wir das? und Wollen wir das? Gleichzeitig dürfen wir es nicht verschlafen und verpassen, rechtzeitig auf den Zug aufzuspringen. Es ist höchst an der Zeit, auch uns Ärzte in diesem Bereich zu schulen und auszubilden.“
Dr. Martin Maffei, Primar der Strahlentherapie, Bozen
Wenn er zum Zuge kommt, liegen eine Diagnose und ein Therapieplan bereits vor. Aber auch oder gerade in der Strahlentherapie ist Künstliche Intelligenz ohne Zweifel eine große Hilfe in der Definition der Risikoorgane und der Zielvolumendefinition, die darauf zielt, das Risiko und die Strahlenbelastung für umliegende Organe wie z. B. Herz, Lunge, Trachea, Speise- und Luftröhre auf ein Minimum zu reduzieren bzw. auszuschließen.
Die künstliche Intelligenz (KI), so Dr. Maffei, revolutioniert die Strahlentherapie, indem sie Prozesse optimiert, die Behandlungsgenauigkeit verbessert und die Arbeitslast reduziert. „KI-gestützte Algorithmen ermöglichen uns eine schnellere und präzisere Bestrahlungsplanung, automatische Segmentierung von Tumoren und Risikoorganen sowie adaptive Therapiekonzepte in Echtzeit.“ Besonders in Kombination mit modernen Technologien wie dem neuen Bestrahlungsgerät MRI-Linac könne KI dazu beitragen, Dosisverteilungen individuell anzupassen und dabei auch Veränderungen im Tumorgewebe während der Behandlung zu berücksichtigen. „Dies führt zu einer personalisierten, noch effizienteren und schonenderen Therapie für die Patienten.
Für die Freigabe zur Bestrahlung und die Begleitung der PatientInnen, so Maffei, wird es immer noch den Arzt und den Strahlenphysiker brauchen. „Ich persönlich bin sehr Technik-affin, aber der menschliche Kontakt ist gerade in unserer super-technologischen Sparte ungemein wichtig. Die PatientInnen, die während der Bestrahlung in einem sterilen Raum allein mit der Maschine sind, brauchen den Kontakt, wollen angeschaut werden, müssen ihre Fragen loswerden.“ Aber, so Maffei, „wir müssen uns darüber im Klaren darüber sein, dass KI im Arbeitsalltag immer präsenter sein wird und uns entsprechend vorbereiten. Damit unsere Arbeit zwar erleichtert, aber nicht so automatisiert wird, dass die Menschen allein den Maschinen überlassen sind.“
Dr.in Federica Ferro, Primarin der Radiologie Bozen
Als Radiologin mit zwanzigjähriger klinischer Erfahrung hat Dr.in Federica Ferro bereits mehrere technische „Revolutionen“ hinter sich gelassen. Die Apparate der jüngsten Generation haben in Punkto Bildqualität, Präzision und Strahlenbelastung mit jenen von vor zwanzig Jahren nur noch sehr wenig gemein. Die Primarin der Radiologie Bozen sieht in der Künstlichen Intelligenz vor allem die Möglichkeit einer enormen Zeitersparnis, eine Hilfe in Momenten der Überbelastung, wie z. B. an Wochenenden in der Ersten Hilfe zwischen 14 und 17 Uhr während der Skisaison, eine Interpretations-Hilfe für junge Radiologen, die noch am Erfahrung sammeln sind. „Die korrekte Interpretation feiner Linien etc.“
Im Bereich der Senologie macht sich der Mangel an Fachärzten besonders bemerkbar. Hier, so Dr.in Federica Ferro, kann KI z. B. bei Nicht-Übereinstimmungen von Zweitlektüren ein nützliches Instrument sein. In Italien ist wie in vielen anderen europäischen Ländern eine Zweitlektüre der Mammographien Pflicht. „Hier sehe ich die Möglichkeit, Stunden an Zeit einzusparen und dadurch die Wartezeiten zu verkürzen.“ Auch sie stellt sich ein ethisches Problem. „Wir müssen lernen, KI zu nutzen, müssen das System auch entsprechend „füttern“, damit es uns eine zuverlässige Hilfe sein kann.“ In der Endoskopie z. B. interpretiere das System CAD (computer aided design) eine kleine Ausbuchtung der Optik als verdächtiges Gewächs. „Es wird immer die Kontrolle des Menschen brauchen!“ Andererseits kann KI früher Dinge ausmachen, die das menschliche Auge nicht oder nur mit Mühe erfassen kann. Und sie sieht (noch) ein rechtliches Problem. „Es gibt diesbezüglich noch keine konkreten rechtlichen Bestimmungen. Ich denke z. B. an spezifische Nutzungsbestimmungen, die Definition von Limits, spezifischen Datenschutz…“
In Zukunft sieht sie KI als Unterstützung im Follow-Up von degenerativen Pathologien wie z. B. Multiple Sklerose. „Ein Vergleich der Dimension der Plaques, die für das menschliche Auge eine große Herausforderung ist.“ Oder auch die Möglichkeit der „texture analysis“ einer Magnetresonanz. „Das heißt, schon im Bild eine bestimmte Morphologie des Tumors auszumachen, z. B: beim Lungenkrebs, ob es sich um einen kleinzelligen oder nicht-kleinzelligen Krebs handelt, das hilft wertvolle Zeit sparen, führt schneller zu Diagnose und Therapie.“ In einer alternden Gesellschaft, der Präsenz immer neuer Pharmaka, die von entsprechenden Bildexamen begleitet werden müssen sowie der Zunahme der Präventionsmedizin, der Erhöhung der Lebenszeit, müssen wir uns vorbereiten, denn die menschliche (Arbeits)Kraft allein wird das auf Dauer nicht stemmen können.“
Dr.in Esther Hanspeter, Primarin der Pathologie, Bozen
In der Pathologie wird Künstliche Intelligenz in Zukunft vermutlich das Mikroskop zumindest weitgehend ersetzen. Heute ist es noch das Haupt-Arbeitsinstrument der 13 PathologInnen in der Bozner Abteilung, betont Primarin Dr.in Esther Hanspeter. „Wir sind die einzige Pathologie in Südtirol. 2024 haben wir Befunde von 48.000 PatientInnen ausgewertet, darunter Personen mit mehreren Befunden und Histologien mit zwei, drei oder mehr Materialien, 8.000 Zytologien, unterschiedliche Flüssigkeiten, Plauraergüsse…, 30.000 Paptests, 17.000 HPV-Tests! Langweilig wird uns nicht!“ Im Augenblick stünden in Europa nur drei bis vier zertifizierte KI-Pakete für die pathologische Gewebsauswertung zur Verfügung. „Für Prostatastanzen z. B., wo KI anzeigen kann, wo der Karzinomherd sitzt, die Größe berechnen kann und den Prozentsatz des befallenen Gewebes. Aber der letzte Blick ist immer derjenige des Pathologen. Jeder Befund trägt meine Unterschrift.“ Ein weiteres Paket betrifft die Auswertung von Mammakarzinomen, das die Proliferationsaktivität ausrechnen und Mikrometastasen aufspüren kann. Ein Paket für Dermoptahologie gibt es zurzeit nur in den USA. „Die Erstellung der Mitose-Rate bei Melanomen, d.h. die Bestimmung der sich aktiv teilenden Zellen pro Quadratmillimeter, Voraussetzung für das Erstellen einer Prognose, ist für das menschliche Auge eine große Herausforderung, das in der USA verwendete Paket hat bei Basaliomen eine Trefferquote von 90%.“ Voraussetzung der Verwendung von KI sei allerdings die Digitalisierung der Schnitte, so Dr.in Hanspeter.
Die Praxis heute sieht vor, dass OP-Präparate und dessen Ränder in der Pathologie zugeschnitten werden. „Das Präparat wird dann in einer Maschine prozessiert, das heißt, es wird Wasser entzogen, das Material anschließend in Paraffin gebettet. Zuletzt muss der Labortechniker einen hauchdünnen Schnitt anfertigen. Ab diesem Schritt können wir Zeit gewinnen!“ Heute sind alle Paraffinblöcke und die korrespondierenden histologischen Schnittpräparate im Archiv konserviert und müssen für Vergleiche herausgesucht werden. „Wir hoffen noch in diesem Frühjahr mit einem Projekt zur Digitalisierung der histologischen Schnittpräparate zu starten!“ Wenn alles digitalisiert ist, reicht ein Klick im Computer, um alle notwendigen Vergleichsschnitte zur Verfügung zu haben. Digitalisierung heißt, Millionen von Präparaten erfassen. „Es gibt immer weniger qualifizierte Labortechniker und auch immer weniger Pathologen, der Arbeitsaufwand hingegen nimmt zu, hier verspricht die Digitalisierung, das Einscannen der Präparate eine große Zeitersparnis und ist ein Weg zur Standardisierung.“ Gleichzeitig sind die eingescannten Präparate dann auch von KI lesbar.
Ein weiterer Arbeitsbereich der Pathologen und ein heikles Thema, die Autopsie, ist dabei, verdrängt zu werden, allerdings nicht von KI, sondern von der immer besseren Bild-Erstellung. „Das Interesse an Autopsien ist verloren gegangen, man glaubt, durch das Imaging ausreichend Informationen zu erhalten, dabei kommt es bei Autopsien immer wieder zu überraschenden Ergebnissen.“ Aber das ist ein anderes Thema…
Was ist künstliche Intelligenz?
Das Europäische Parlament hat 2020 Künstliche Intelligenz definiert:
„Künstliche Intelligenz ist die Fähigkeit einer Maschine, menschliche Fähigkeiten wie logisches Denken, Lernen, Planen und Kreativität zu imitieren.
KI ermöglicht es technischen Systemen, ihre Umwelt wahrzunehmen, mit dem Wahrgenommenen umzugehen und Probleme zu lösen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Computer empfängt Daten (die bereits über eigene Sensoren, zum Beispiel eine Kamera, vorbereitet oder gesammelt wurden), verarbeitet sie und reagiert.
KI-Systeme sind in der Lage, ihr Handeln anzupassen, indem sie die Folgen früherer Aktionen analysieren und autonom arbeiten.“
Der Vergleich von zwei MammographienFoto: pixabay