Aktuell

Ohne Pflegepersonal kann die Sanitätnicht existieren

Interview mit der Präsidentin der Krankenpflegekammer Bozen, Frau Dr.in Liliana Favari
v.l.n.r. Alexander Wurzer (Pressearbeiter im ASGB), Andreas Dorigoni und die Präsidentin der Krankenpflegekammer Bozen, Frau Liliana Favari
ASGB: Wir steuern, wie auch unsere Nachbarländer, auf einen Pflegemangel zu. Welche Maßnahmen umzusetzen, erachten Sie als Kammerchefin sinnvoll, um eine Verschlechterung der Situation in Zukunft zu vermeiden?
Liliana Favari: Ich möchte vorausschicken, dass der Beruf des Krankenpflegers generell ein toller Beruf ist, der für viele auch Berufung ist. Den Patienten zu helfen ist motivierend und erfüllend. Fakt ist aber auch, dass in der Öffentlichkeit vielfach nicht wahrgenommen wird welche Verantwortung und auch Ausbildung vonnöten ist, um als Krankenpfleger zu arbeiten. In den Augen vieler sind Krankenpfleger simples Hilfspersonal der Ärzte. Die Realität sieht aber komplett anders aus: Es ist ein Beruf, der sehr viel Autonomie, Kompetenzen und auch Entscheidungskraft erfordert. Die Notwendigkeit, dem Berufsbild Krankenpfleger ein besseres Image zu geben und damit diesen für Berufseinsteiger attraktiver zu machen, besteht also definitiv. Die Außenwirkung des Berufsbildes zu verbessern, erachte ich deshalb als eine der prioritären Maßnahmen, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Dazu gesellen sich noch viele weitere Punkte, wie z.B. die Gehaltsdebatte – die in erster Linie auf nationaler Ebene zu führen ist.
ASGB: Weniger Berufseinsteiger, die sich für den Pflegeberuf entscheiden, dafür immer mehr Pflegekräfte, die mit dem Gedanken spielen, Beruf zu wechseln. Anscheinend ist der Pflegeberuf aktuell nicht mehr so attraktiv wie ehemals. Welche Maßnahmen werden generell benötigt, um den Pflegeberuf aufzuwerten?
Liliana Favari: Höhere Gehälter und mehr Freizeit wären wichtig, um Berufseinsteiger anzusprechen. Aber auch die Organisationsmodelle müssen überdacht werden und den geänderten Bedürfnissen der heutigen Generation angepasst werden. Diesbezüglich möchte ich nicht ins Detail gehen, das wäre die Aufgabe der heutigen Entscheidungsträger, die die genauen Dynamiken kennen. Aber auch über Wohnmöglichkeiten muss diskutiert werden: Diejenigen, die nicht in der Umgebung des Arbeitgebers wohnen, tun sich vor allem in den Städten schwer, angemessenen Wohnraum zu finden.
ASGB: Die politischen Verantwortungsträger haben insbesondere anlässlich der Covid-19-Krise die Krankenpfleger fleißig beklatscht. Bei Gehaltserhöhungen sind sie hingegen zögerlicher. Was sagen Sie zu dieser Haltung der Entscheidungsträger?
Liliana Favari: Ich habe oft den Eindruck, dass nicht verstanden wird, dass ohne Pfleger die Sanität nicht existieren kann. Mehr Wochenstunden und ein nicht angemessenes Gehalt – so funktioniert es halt nicht.
Kritik übe ich an die politischen Verantwortungsträger aber hauptsächlich deshalb, weil sie mit uns als Berufskammer nicht das Gespräch suchen. Jeder spricht über die Krankenpfleger, deren Bedürfnisse kennt aber kaum einer. Es gibt zum Beispiel keinen Arbeitstisch, der dazu dient, die Probleme in diesem Sektor zu besprechen – dafür fehlt ganz klar der Wille der Politik.
Als Berufskammer haben wir deshalb ein Forschungsprojekt initiiert, welches im Herbst vorgestellt wird und welches dazu dient, natürlich anonymisiert, die Stimmung der Krankenpfleger im Hinblick auf die Arbeit in Südtirol zu erheben. Mit diesen konkreten Daten erhoffen wir uns dann, eine fundierte Diskussionsgrundlage mit den Verantwortungsträgern im Südtiroler Gesundheitswesen zu haben.
Ich beobachte aber auch die Tatsache, dass der Stellenwert der öffentlichen Anstellung gesunken ist und viele Krankenpfleger in die Privatwirtschaft wechseln. Auch dies sollte der öffentlichen Verwaltung doch zu denken geben.
ASGB: Der ASGB fordert kontinuierlich Maßnahmen zur Aufwertung der Pflegeberufe – selten mit Erfolg gekrönt. Wie sollten die Gewerkschaften Ihrer Meinung nach agieren, um von der Politik ernster genommen zu werden?
Liliana Favari: Ich habe den Eindruck, dass die Interessenvertreter der Krankenpfleger abgestimmter und kompakter auftreten müssten. Außerdem verstehe ich eine Sache nicht: Es gibt zwei Sanitätsberufe – Ärzte und Krankenpfleger. Während die Verträge der Ärzte gesondert verhandelt werden, werden jene der Krankenpfleger mit den anderen Berufsbildern im Gesundheitswesen, wie z.B. Köche, Elektriker usw., gemeinsam verhandelt. Daraus resultiert ein noch nie dagewesener Gehaltsgap zwischen Ärzten und Krankenpflegern. Ich stelle bewusst die Frage: Warum werden die Verträge der Sanitätsberufe nicht gemeinsam verhandelt?
ASGB: Wie sieht Ihre Zukunftsprognose für den Beruf des Krankenpflegers aus, sollte sich am Status quo nichts ändern?
Liliana Favari: Dies ist eine schwierige Frage – leider bin ich keine Prophetin. Ich tendiere dazu, das Glas immer halb voll zu sehen, vor allem, weil die Wahl für das Berufsbild Krankenpfleger in den meisten Fällen eine bewusste Entscheidung aus Berufung ist. Natürlich muss ich bei allem Optimismus zugeben, dass der epidemiologische Notstand Covid-19 viele Krankenpfleger an die Grenze des Leistbaren gebracht hat und damit das gesamte Berufsbild gelitten hat. Wir müssen aus gemachten Fehlern lernen und prinzipiell vieles ändern. Dabei geht es weniger um den Beruf an sich als um die Verwaltung der Tätigkeiten. Sinnvoll wäre es auch, wenn wir als Berufskammer vor Entscheidungen zumindest informiert würden und die Zusammenarbeit mit uns von den Institutionen generell gesucht würde. Ich möchte aber nicht alles madig reden – der Sanitätsbetrieb gibt uns ja auch viele Möglichkeiten, wie z.B. Weiterbildung usw.

Aktuell
Euregio-Studie EWCS

Nach zwei Jahren Vorarbeit wurden am 25. Mai in Innsbruck die ersten Ergebnisse der 4.500 Interviews umfassenden repräsentativen Umfrage vorgestellt. Die Veranstaltung nahm dabei körperlich und psychisch belastende Arbeitsbedingungen näher in den Blick.


Körperlich und belastende Arbeitsbedingungen in der Europaregion

Das Fazit: Bei den körperlichen Belastungen ist ein klares Nord-Süd-Gefälle erkennbar. Besonders problematisch sind allerdings die psychischen Belastungen. Sie sind nicht nur intensiver als die körperlichen Belastungen, sondern treten auch in allen drei Länderteilen gleichermaßen auf. Die Problembranchen: Gesundheits-/Sozialwesen sowie Hotellerie/Gastronomie sind in beiden Belastungsbereichen traurige Spitzenreiter, Erziehung/Unterricht nur zum Teil.
Körperliche Arbeitsbelastungen: klares Nord-Süd-Gefälle
Aus der Vogelperspektive der Europaregion betrachtet zeigt sich bei sehr vielen körperlich belastenden Messgrößen ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Das Bundesland Tirol ist beispielsweise stärker von körperlichen Arbeitsbelastungen geprägt (26 Punkte) als es die Beschäftigten in Südtirol (23) sind. Die Beschäftigten im Trentino weisen hier mit 19 Punkten den besten Wert auf, sind also beispielsweise starkem Lärm, dem Tragen von schweren Lasten oder dem Kontakt mit chemischen oder ansteckenden Stoffen weniger ausgesetzt als in den anderen beiden Landesteilen.
Psychische Belastungen: flächendeckend ein Problem
Psychisch belastende Arbeitsbedingungen wie Arbeitsverdichtung (hohe Arbeitsgeschwindigkeit, Zeitdruck usw.) und emotionsbedingte Arbeitsbelastungen (schwierige emotion­ale Situationen erleben, sich auch in der Freizeit um die Arbeit Sorgen machen müssen usw.) sind demgegenüber in der gesamten Europaregion grundsätzlich deutlich stärker ausgeprägt als die körperlich belastenden Arbeitsbedingungen. Gerade Südtirol sticht in fast allen Branchen bei psychisch belastenden Arbeitsbedingungen negativ heraus, der psychische Druck ist hier am höchsten.
Zweieinhalb Problembranchen
So richtig problematisch werden belastende Arbeitsbedingungen dann, wenn mehrere Faktoren zusammenwirken, wie es in einigen Wirtschaftszweigen ganz deutlich der Fall ist: Im Gesundheits-/Sozialwesen, in Hotellerie/Gastronomie und zum Teil in Erziehung/Unterricht erzeugen das Zusammentreffen von körperlichen und psychischen Faktoren jene Mehrfachbelastung, die auf die Dauer besonders schädlich wirkt. Der Grund: In allen drei Branchen wird mit Menschen gearbeitet: Kranke und alte Menschen, „erholungswütige“ Gäste und quirlige Kinder samt ihren Eltern fordern zusätzlichen emotionalen Tribut.
Diese Belastungen summieren sich und machen die Arbeit in diesen Wirtschaftszweigen für immer weniger Beschäftigte attraktiv, was bei der Bedeutung dieser Branchen für den Wirtschaftsstandort und die Gesellschaft der Europaregion zu einer schweren Hypothek werden kann.
Bessere Arbeitsbedingungen oder unterschiedliches Problembewusstsein?
Auffällig ist, dass das Bundesland Tirol in vielen Belangen schlechter abschneidet als das Trentino, und Südtirol sehr oft eine Mittelposition einnimmt. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Die Arbeitsbedingungen können zum einen tatsächlich unterschiedlich sein- ein Landesteil macht es schlichtweg besser als die anderen, oder aber es besteht eine unterschiedliche Problemwahrnehmung: Was von manchen Befragten bereits als belastend empfunden wird (z. B. starker Lärm oder emotional schwierige Situationen bei der Arbeit), ist für andere nicht der Rede wert. Der spannenden Frage, worauf diese unterschiedlichen Ergebnisse denn nun zurückzuführen sind - beispielsweise gelebte Arbeitskultur, Mentalität, Antwortverhalten - werden weitere Studien in den nächsten zweieinhalb Jahren auf den Grund gehen.
Tobias Hölbling
Projektkoordinator und AFI-Arbeitspsychologe