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Georg Pardeller

Zurück zur Solidarität

In den letzten Jahren hat die Gesellschaft immer öfter gelangweilt abgewinkt, wenn die Gewerkschaften auf den Plan traten. Wozu braucht es die Gewerkschaften noch? empörte sich mancher. Es gibt Gesetze genug, welche sicherstellen, dass das Soziale nicht zu kurz kommt. Den Wohlstand garantiert sowieso die freie (liberale) Wirtschaft, sagten sie. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Der Neoliberalismus, die breit angelegten Privatisierungen auch von Grundstrukturen der Gesellschaft (Gesundheit, Energie, Verkehr), die Überheblichkeiten unersättlicher Raffer haben zur weltweiten Finanz- und Wirtschaftskatastrophe geführt, die Spekulation hat das Sparvermögen von unzähligen Millionen Menschen zerstört. Niemand hat mehr gelenkt, auch nicht die Regierungen, die Verantwortung für das Wohlergehen der Bürgerinnen Bürger tragen sollten. Sie haben den Dingen freien Lauf gelassen. Aus der steuerlosen Gesellschaft ist ein Schrotthaufen von Spekulanten geworden. Jetzt wird der Ruf immer lauter, dass der Staat, die öffentliche Hand, eingreift und das Steuer in die Hand nimmt, um zu retten, was noch zu retten ist. Diejenigen, die sich am allerwenigsten um soziale Solidarität gekümmert haben, verlangen jetzt für sich Solidarität, sind aber noch immer nicht bereit, auch Solidarität zu geben. Solidarität bedeutet nicht Gewinne privatisieren und Verluste sozialisieren; Solidarität bedeutet, gemeinsam allen Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen. Daraus ergibt sich zwingend die Gewerkschaftsidee. Wo der Mensch in Not ist – das trifft heute mehr denn je zu – braucht es Einrichtungen, die sich zur gemeinsamen Hilfe bekennen und dafür eintreten, die dem Egoismus der Gruppen entgegentreten, also Einrichtungen, für die Menschlichkeit, Recht und Würde etwas bedeuten. Eben starke Gewerkschaften. Die Neoliberalen haben ihre Chance gehabt; sie haben sie sträflich verspielt. Jetzt braucht es die Rückkehr zum globalen sozialen Denken und Handeln. Auch bei uns in Südtirol. Nicht nur in Amerika.
Georg Pardeller
Vorsitzender des ASGB

aktuell
Die Wirtschaftskrise breitet sich aus

Südtirols Sozialkraft ist gefordert

Mit dem langjährigen Inseldasein Südtirols ist es endgültig vorbei. Auch unser Land verspürt die weltweite Wirtschaftskrise. Arbeitsplätze werden abgebaut, die Lohnausgleichskasse wird stärker in Anspruch genommen, Kurzarbeit und ähnliche Maßnahmen kommen auf die Arbeiterschaft zu. Wir sind erst am Anfang. In den nächsten Monaten wird es noch dramatischer werden. Vor allem die Bauwirtschaft wird darunter leiden, aber auch andere Bereiche. Überall dort, wo die Kaufkraft der Bevölkerung gefragt ist – wo ist sie das nicht? – kriselt es.
Keine hausgemachte Krise
Dass diese Krise nicht hausgemacht ist, ist kein großer Trost. Südtirols wirtschaftliche und soziale Infrastruktur ist in den letzten Jahrzehnten stark verbessert und auch „krisenresistenter" gemacht worden, im Hinblick auf schwierigere Zeiten. Diese Zeiten sind jetzt angebrochen. Auch unsere Bevölkerung, im Besonderen unsere Arbeiterschaft, wird mit dieser Krise zurecht kommen müssen. In ein bis zwei Jahren, sagen die Experten, wird es wieder aufwärts gehen. Aber in Situationen, wo Zehntausende von Familien sozusagen von der Hand in den Mund leben, was auch in Südtirol der Fall ist, ist es kein großer Trost zu hoffen, dass es wahrscheinlich schon wieder einmal besser gehen wird.
Südtirols Volkswirtschaft und Sozialgefüge braucht die Maßnahmen gegen die Krise jetzt, sofort, massiv und gezielt. Für alle notwendigen politischen und sozialpolitischen sowie auch wirtschaftlichen Maßnahmen müssen vor allem die politischen Vertretungen der lohn- und gehaltsabhängigen Bevölkerung eintreten, die Arbeitnehmer?-bewegungen, die Gewerkschaften, die Verantwortlichen aller politischen Richtungen, welchen das Schicksal der in Bedrängnis gekommenen Bevölkerungsschichten wirklich am Herzen liegt. In den letzten Wochen sind viele Vorschläge gemacht worden, wie die Krise bekämpft werden kann. Sie klingen in der Theorie alle gut. Aber über die Theorie ist man auch in Südtirol bisher nicht hinaus gekommen. Dabei ist es höchste Zeit, mit konkreten Eingriffen zu beginnen.
Kaufkraft festigen
Da Löhne und Gehälter auch bei uns an Kaufkraft verloren haben, müssen diese Formen des Einkommens breiter Schichten verstärkt werden. Es stimmt nicht, dass die Krise alle Unternehmen und Strukturen erfasst hat. Es gibt in unserem Land zahlreiche Betriebe, die wegen ihres hohen technischen Standards gut weiter kommen. Sie sollen sich nicht hinter der großen Masse jener verstecken, die derzeit begründet sagen, dass sie höhere Löhne und Gehälter nicht anbieten können. Dort, wo es nur irgendwie möglich ist, sollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich an den gemeinsamen Tisch setzen – auch im einzelnen Betrieb – und über die eigene, gemeinsame, Zukunft beraten. Die Krise lässt sich sicher nicht lösen, wenn die Sozialpartner aneinander vorbeireden und jeder versucht, seine eigene Haut zu retten. Eine Krise dieser Art wird entweder gemeinsam oder überhaupt nicht überwunden.
Allgemein muss in einer sozialen Marktwirtschaft, zu der sich Südtirol ja bekennt, wo immer es möglich ist, mehr Lohn und Gehalt für die Menschen ermöglicht werden, vereinbart zwischen den Sozialpartnern und in Absprache mit der Politik.
Also: Gesunde Betriebe – und solche gibt es zum Beispiel in den Sektoren Energie, Innovation, Mobilität – müssen Zusatzverträge zu den nationalen Kollektivverträgen in enger Abstimmung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbaren, um damit die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken. Sie müssen in gemeinsamer Absprache die bestehenden Arbeitsplätze absichern und, wo es möglich ist, neue schaffen. Die leistungsfähige Wirtschaft darf nicht stehen bleiben, sie soll auch nicht den Mut verlieren.
Gezielte Förderung mit Steuermitteln
Die öffentliche Hand soll mit gutem Beispiel vorangehen. Sie kann mit den Steuermitteln ihres Haushalts die Konjunktur ankurbeln, indem sie gezielt Förderungen gibt, mit welchen Arbeit und Produktion gestärkt werden. Der ASGB hat seit Jahren gefordert, dass die öffentliche Hand ihre Wirtschaftsbeiträge auch unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Wirksamkeit geben soll. Um es noch konkreter zu sagen: Beiträge aus Steuergeldern sollen in erster Linie jenen Betrieben, Unternehmen und Strukturen zufließen, wo die Sozialpartner auch auf Betriebsebene gemeinsam beraten und entscheiden, wo also Betriebsführungen gegenüber den Mitarbeitern offen sind und man gemeinsam nach den besten Wegen für die Zukunft sucht. Es handelt sich um Unternehmen, die in der Lage sind, dauerhafte und familienfreundliche Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, die auch bereit sind, mit den Mitarbeitern zu teilen. Es muss in den Betrieben zwischen Unternehmensführung und Betriebsräten mehr geredet werden. Das schafft nicht nur Solidarität, sondern auch bessere klimatische Bedingungen. Die autonome Landesverwaltung hat im Haushalt 2009 erhebliche Mittel für Investitionen ausgewiesen. Das lässt sicher einen Konsolidierungseffekt erwarten.
Gezielte Solidarität
In Südtirol ist es in den letzten Jahren vor lauter Globalisierung und Liberalismus sozial kälter geworden. Unser Land muss deshalb wieder zu mehr Solidarität aller mit allen zurück finden. Es hat sich erweisen, dass überzogener Liberalismus und Spekulation ins Verderben führen, wobei es immer die schwächeren Schichten der Bevölkerung sind, welche die Folgen zu tragen haben. Solidarität entsteht durch Dialog, durch Einwirken der Politik, durch Verantwortung auf allen Ebenen der Gemeinschaft. Alle müssen wieder daran glauben, dass es einem Unternehmen nur gut gehen kann, wenn es Arbeitgebern und Arbeitnehmern gut geht. Wenn eine Seite auf der Strecke bleibt, schlägt sich das schnell auf die Gesamtentwicklung nieder.
Gezielte Preiskontrolle
Die Inflation ist in den letzten Monaten zurückgegangen. Dennoch leidet auch unser Land an immer neuen Preiserhöhungen, meist „schleichender" Natur. Es gibt immer Schichten, die aus solchen Situationen Vorteile zu ziehen versuchen, weil ihnen jeder Sinn für Solidarität und soziale Ausgewogenheit abgeht. Hier muss gemeinsam versucht werden, einen Weg zu finden, damit die Kaufkraft breiter Schichten nicht weiter strapaziert wird. Dazu braucht es auch eine starke Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Verbraucherschutz, dies mit politischer Stützung und Förderung.
Öffentliche Kontrolle
Andernorts, zum Beispiel im liberalen Amerika (USA) ist in dieser Krise der Ruf nach Eingreifen der öffentlichen Hand übermächtig geworden. Die Amerikaner, die unter Präsident Bush die Überzeugung vertraten, dass der Private alles regeln kann und soll, haben umgedacht. Jetzt wünschen auch sie, dass der Staat eingreift, wo der Private versagt hat. Der Private hat in manchen Bereichen schwer versagt, etwa im Bankenwesen, im Energiesektor (mit seiner ungeheuren Spekulation), im Finanzsektor ganz besonders. Die öffentliche Hand muss einfach stärker kontrollieren. Wo der Private alles entscheidet, gibt es Fehlverhalten und Fehlentwicklungen. Es muss wieder das gesunde Gleichgewicht zwischen Öffentlich und Privat gefunden werden. Auch in Südtirol sollte die öffentliche Hand sich wieder mehr um strategische Dienste und Ressourcen kümmern und nicht zulassen, dass sie der Spekulation anheim fallen.
Sozialpartnerschaft
Südtirol war im italienischen Staatsgebiet einmal, und das ist gar nicht so lange her, die Wiege der Sozialpartnerschaft. Arbeitgeber und Arbeitnehmern haben sich an einen Tisch gesetzt und gemeinsame Richtlinien entwickelt, wie sozialer Frieden erhalten, sozialer Fortschritt gefördert und wirtschaftliche Weiterentwicklung gemeinsam erreicht werden kann. Das Modell hat gut funktioniert, bis der Globalisierungswahn um sich gegriffen und weltweit ein neuer Liberalismus eingesetzt hat – übrigens gefördert auch von einer politisch halb blinden Europäischen Union. Da glaubten manche auch bei uns, es brauche keine Partnerschaft mehr, der freie Markt regle das alles von sich aus. Das war die größte Täuschung, der auch die Europäer auf den Leim gegangen sind. Die Folgen kennen wir. Also heißt es jetzt: Zurück zur sozialen Marktwirtschaft im sozialpartnerschaftlichen Sinn; es soll heißen: neuer Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, auch auf der kleinen Betriebsebene bis hinauf auf Landesebene. Südtirol befindet sich nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise, sondern auch in einer Phase des Umbruchs. Was wir daraus machen, hängt auch von uns allen ab. Der Weg in eine gefestigte und sozial orientierte Zukunft ist ein gemeinsamer Weg, nicht ein getrennter Weg. Diese Einsicht bildet Voraussetzung für die Überwindung der gegenwärtigen großen und noch wachsenden Schwierigkeiten. Und noch ein letztes: Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren etwas den Mut verloren, öffentlich und stark aufzutreten. Sie müssen diesen Mut wieder finden, denn sie sind an erster Stelle Garanten für eine sozial aufgeschlossene Entwicklung. Sich dafür einzusetzen, ist ihre Pflicht. Wenn sie es nicht tun, wer soll es dann tun?