Thema

Wie wohnt Südtirol im neuen Jahrtausend?

Text: Stefan Perini
Südtirol ist ein kleines Stück einer großen, sich immer schneller drehenden Welt. Moderne Lebensweisen und neue Verhältnisse brechen sich Bahn. Das merkt man auch beim Wohnungsbedarf in Südtirol. Zum einen wächst die Bevölkerung, zum anderen ist der qualitative Aspekt bestimmend.
Grafik des AFI, Frühjahr 2017


In den letzten vierzig Jahren hat die Bevölkerung Südtirols um rund ein Fünftel zugenommen. In der Volkszählung 1971 wurden 414.041 Ansässige gezählt, im Jahr 2011 waren bereits 504.643 Menschen in Südtirol wohnhaft. Die Haushalte haben sich im selben Zeitraum sogar verdoppelt – von 111.176 (1971) auf 204.416 (2011). Daran erkennt man die Auswirkungen der modernen Lebensweisen. Steigende Trennungs- und Scheidungsraten führen dazu, dass zusätzliche und kleinere Wohnungen nachgefragt werden. Die vielen Patchwork-Familien haben andere Wohnbedürfnisse als traditionelle Familien. Die Jungen gründen erst spät eine eigene Familie und ältere, oft verwitwete Menschen leben nach dem Auszug ihrer Kinder noch sehr lange in der angestammten Wohnstätte. Von den Jüngeren fordert umgekehrt der Wechsel von Beruf, Arbeitsstätte oder Wohnort eine neue Flexibilität des Wohnens. Insgesamt werden die Familien kleiner und die Single-Haushalte nehmen unaufhaltsam zu. Die Stadt und die Ballungsräume sind das bevorzugte Umfeld, in dem die modernen Südtirolerinnen und Südtiroler leben wollen. Alle diese Entwicklungen schlagen sich beim neu gebauten Wohnraum nieder – einmal in der durchschnittlichen Größe und Zimmeranzahl der Wohnungen, aber auch im Rechtstitel, das heißt ob Miete oder Eigentum.
Die Wohnpolitik der Südtiroler Landesregierung war ab dem zweiten Autonomiestatut 1972 darauf ausgelegt, allen Südtiroler Familien den Weg zum Eigenheim zu ebnen. Im Jahr 2011 sind 69 Prozent des Wohnbestandes Eigentum und nur 25 Prozent gemietet. Aber auch der Anteil an Mietwohnungen ist zwischen den letzten zwei Volkszählungen deutlich gewachsen. Ob das Eigenheim noch den versprochenen Schutz bietet oder ob der Nachteil einer „lebenslänglichen Bindung“ überwiegt, das wird zurzeit hitzig diskutiert.
Eigentumswohnung ist wichtig

Die jüngsten AFI-Umfragen belegen deutlich, dass die Eigentumswohnung bei den Südtirolern immer noch einen hohen Stellenwert hat. 61 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen darin eine Investition in die eigene Zukunft, 57 Prozent sehen es als Hinterlassenschaft an die Kinder. Für weitere 45 Prozent ist es ein Schutz für die Familie. Auch gibt es einen harten Kern an „Ultraskeptikern“ für die das Mieten, überspitzt ausgedrückt, unter keinen Umständen vorstellbar ist. Zehn Prozent der Arbeitnehmer sehen das so.
Andererseits geht aus dem AFI-Barometer auch hervor, dass knapp die Hälfte der Befragten sich für die Miete entscheiden würden, wenn es darum geht, neuen Job-Angeboten folgen zu können. 48 Prozent würden mieten, um die Wohnsituation leichter an neue familiäre Bedürfnisse anpassen zu können. Obwohl die sinkende Kaufkraft der Familien, normale Löhne und steigende Immobilienpreise immer weniger zusammenpassen, sehen 60 Prozent der Südtiroler Arbeitnehmerschaft noch zu wenig Vorteile bei einer Mietwohnung.
So kommt es, dass die Südtiroler bis zum heutigen Tag mehrheitlich Wohneigentum kaufen. Das zeigen die Zahlen der Wohnbauförderung ebenso wie die Kreditdaten der Banken. Dies, obwohl das Mieten immer besser zu den heutigen soziodemografischen Trends passen würde. In Nordeuropa und besonders in Skandinavien – also Länder, die vorbildlich in Chancengleichheit, sozialer Mobilität und Wohlstand sind – ist der Anteil an Mietwohnungen sehr hoch und die Verschuldung der Familien aufgrund des Kaufs von Wohnungseigentum sehr niedrig.



Kommentar

Voucher abgeschafft – Was nun?

Text: Helmuth Sinn
Möglichkeiten für eine formlose Beschäftigung in Zukunft
Helmuth Sinn, Direktor der Landesabteilung Arbeit
Von einem Tag auf den anderen ist die Beschäftigungsform mittels der Wertgutscheine, der sogenannten Voucher, abgeschafft worden. Unterschiedliche Reaktionen waren die Folge. Von Seiten der Wirtschaft wird die ersatzlose Streichung der Voucher scharf kritisiert, die Gewerkschaften sind gespalten und bei den Vereinen herrscht großes Bedauern und Unsicherheit. Wie geht es nun weiter?
Die römische Regierung hat die Wertgutscheine kurzerhand abgeschafft. Dabei wäre es auch möglich, ja sinnvoll gewesen, die Regelung der Voucher zu überarbeiten, sie zu reformieren und den Erkenntnissen aus ihrer Anwendung anzupassen.
Kleine Geschichte der Voucher

Die Wertgutscheine sind mit der Biagi-Reform im Jahr 2003 erstmals in der italienischen Arbeitsgesetzgebung eingeführt worden. Es handelt sich dabei um eine unbürokratische Beschäftigungsform, die mittels Gutscheinen, den Vouchern, entlohnt wird. Die Regelung war relativ einfach: Ein Gutschein pro Arbeitsstunde im Wert von 10 Euro konnte bei der Post oder Bank für 7,5 Euro eingelöst werden. Die restlichen 2,5 Euro wurden für Renten- und Unfallversicherungsbeiträge einbehalten. Mit dieser Regelung sollte insbesondere bei Gelegenheitsarbeiten (das sind verschiedene kleinere, zeitlich befristete, nicht immer vorhersehbare und sporadisch, also gelegentlich auftretende Arbeiten) die bis dahin vielfach übliche Schwarzarbeit eingedämmt werden. Gemeint waren kleinere Haushaltsarbeiten wie bügeln, putzen, Babysitting, Gartenarbeiten, Nachhilfestunden usw. sowie die Mithilfe bei der Ernte in der Landwirtschaft durch Studenten und Rentner. Die Voucher blieben nach ihrer Einführung fast unbeachtet und wurden entsprechend ihrer Zielsetzung nur in den Familien und in der Landwirtschaft eingesetzt. Erst mit der Reform durch die Regierung Berlusconi bzw. der Ausdehnung auf alle Wirtschaftsbereiche im Jahr 2008 ist diese Beschäftigungsform auch von den Betrieben und Unternehmen entdeckt und genutzt worden. Mit der Reform durch die Regierung Monti 2012 wurde die Möglichkeit der Voucherbeschäftigung auf alle Arbeitnehmer einschließlich der Arbeitslosen ausgedehnt und 2015 wurde der Begriff Gelegenheitsarbeit gestrichen. Damit wurde für den allgemeinen Einsatz der Voucher Tür und Tor geöffnet und diese Beschäftigungsmöglichkeit entwickelte sich zu einer gängigen Anstellungsform. Die einzige Einschränkung blieb jene des Höchsteinkommens, das mit den Vouchern erzielt werden konnte: 7.000 Euro im Jahr pro Arbeitnehmer, 3.000 Euro für Arbeitslosengeldbezieher, wobei maximal 2.000 Euro beim selben Arbeitgeber verdient werden konnten.
Atypischer Einsatz der Voucher

Die Voucher wurde nun vielfach als günstige und unbürokratische Alternative zu den normalen, ordentlichen Arbeitsverhältnissen eingesetzt. So wurde z.B. die erste Zeit einer abhängigen Tätigkeit mittels Voucher entlohnt und erst zu einem späteren Zeitpunkt ein regulärer Arbeitsvertrag abgeschlossen. Für den Arbeitgeber hatte dies den Vorteil, dass die formelle Probezeit verlängert werden konnte. Außerdem entfielen für diesen Zeitraum sämtliche bürokratische Obliegenheiten, die bei einem normalen Arbeitsverhältnis zu beachten sind. Arbeitslosengeldbezieher nutzten die Voucherbeschäftigung für die Aufstockung ihrer Bezüge mit einem steuerfreien Zusatzeinkommen. Auch war die Nutzung der Voucher in einigen Bereichen grenzwertig. So sind die meisten Beschäftigten z.B. bei den Weihnachtsmärkten nur mit Voucher angestellt und bezahlt worden. Dies war gesetzlich zwar möglich, aus gesellschafts- und arbeitsmarktpolitischer Sicht aber bedenklich.
Was nun?

Es ist davon auszugehen, dass früher oder später eine neue Form der flexiblen und formlosen Beschäftigung von Studenten, Hausfrauen und Rentnern insbesondere für Gelegenheitsarbeiten vorgesehen wird. Modelle dafür gibt es in anderen europäischen Ländern. In der Zwischenzeit ist keine Gesetzeslücke vorhanden; es gibt genug alternative Formen der Beschäftigung für jene Arbeiten, die vorwiegend mit Wertgutscheinen bezahlt wurden. Erwähnenswert ist die Arbeit auf Abruf, ein Haushaltsangestelltenverhältnis, ein Teilzeit- oder ein befristetes Arbeitsverhältnis. Diese und andere Arbeitsformen sind eine Alternative zu den Vouchern, allerdings sind sie mit einem höheren bürokratischen, organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden.


Vor- und Nachteile der Voucher
Vorteile für Arbeitnehmer: steuerfrei, kompatibel mit Arbeitslosengeld und Rente, formlose Zusatzbeschäftigung.
Nachteile für Arbeitnehmer: äußerst prekäre Beschäftigungsform, Entlohnung nur für effektiv geleistete Arbeit, keine Arbeitnehmerrechte wie Urlaub, Krankengeld, Mutterschaft, geringste Rentenbeiträge.
Vorteile für Arbeitgeber: einfache und kostengünstige Beschäftigungsmöglichkeit, keine bürokratischen Auflagen, flexible Anwendung, legales Arbeitsverhältnis.
Nachteile für Arbeitgeber: keine.