Thema

Was soll der Staat tun? Was wird besser privat angeboten?

Von der Gesundheitsversorgung über Pflege und Straßenbau bis Breitband und Kinderbetreuung
Gesundheit, Bildung, soziale Maßnahmen sind einige der größten Posten im Landeshaushalt. In diesem Bereich greift die öffentlich Hand helfend und unterstützend für die Bürgerinnen und Bürger ein.
Vieles, was der Staat macht, ist selbstverständlich. Und oft haftet diesen Leistungen das Vorurteil von bürokratisch, zu teuer, es ginge schneller und günstiger und besser an. Vor allem im Gesundheitswesen sind in den vergangenen Jahren die privaten Praxen und Kliniken wie Pilze aus dem Boden geschossen. Auch in der Bildung (Schule und Kindergarten) und in der Pflege lässt sich dieser Trend hin zum Privaten feststellen.
Die Aufteilung, was Aufgabe der öffentlichen Hand ist und was von Privaten angeboten wird, hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Abgenommen hat auch die Wertschätzung für öffentliche Angebote, da meist nur die Kosten gesehen werden. Und diese werden wiederum mit der Höhe der Steuern in Verbindung gebracht. Dabei würde ohne die funktionierenden und guten öffentlichen Angebote der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, gar nicht existieren.
Eine für alle zugängliche, gute Bildung
Werner Steiner,
KVW Landesvorsitzender
Wir unterscheiden zwischen öffentlichen und privaten Gütern. Grundsätzliche sind alle Menschen daran interessiert, dass es öffentliche Güter gibt. Diese stehen allen zur Verfügung und niemand kann von deren Nutzung ausgeschlossen werden. Die Bildung ist ein solches öffentliches Kulturgut. In unserem Kulturkreis herrscht Bildungspflicht und wir sind zur Nutzung dieses Kulturgutes verpflichtet. Die Finanzierung erfolgt über Steuermittel, es können aber auch noch zusätzliche Gebühren zur Kostendeckung eingefordert werden. Im Unterschied dazu stehen private Bildungsträger. Diese arbeiten stark kundenorientiert und bemühen sich durch attraktive Angebote am Markt präsent zu sein.
Als KVW sehen wir die Notwendigkeit von öffentlichen Bildungseinrichtungen. Bildung ist auch in unserer Zeit ein wesentlicher Faktor zum sozialen Aufstieg. Aber auch die Veränderungen der Arbeitswelt wurden immer wieder durch Bildung kompensiert. Arbeitsplätze mit niedrigem Bildungsgrad werden schneller von Maschinen und Robotern wegrationalisiert. Gut ausgebildete Fachkräfte, die auch zu einem lebenslangen Lernen bereit sind, werden immer bessere Chancen in der Arbeitswelt haben als andere. Deswegen ist es uns ein Anliegen, den Wert einer allen zugänglichen und guten Bildung zu unterstreichen und von einer Privatisierung in diesem Sektor Abstand zu nehmen.
TEXT: Werner Steiner
Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung
Dori Passler Mair,
KVW Bezirksausschuss Pustertal
Als Mitglied im Südtiroler Monitoringausschuss und als Genesungsbegleiterin für psychisch kranke Menschen habe ich sehr viel Einblick in den gelebten Alltag von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Trotz zahlreicher Betreuungsangebote führen viele von ihnen ein Schattendasein am Rande unserer Gesellschaft. Auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben stoßen sie nämlich auf viele sichtbare und unsichtbare Barrieren, die eine echte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verhindern. Die Beseitigung von architektonischen Hindernissen und die Schaffung von ausreichend begleiteten Arbeits- und Wohnmöglichkeiten müssen laut UN-Konvention von 2008 politisch organisiert werden. Der Abbau von Vorurteilen muss jedoch in den Köpfen der einzelnen Menschen stattfinden.
Wenn Anderssein als Vielfalt und Chance gesehen wird und wenn es gelingt. betroffene Menschen so zu integrieren, dass sie von Anfang an dazugehören, dann kann Inklusion zu einem großen Mehrwert für unsere Gesellschaft werden.
TEXT: Dori Passler Mair
Sanität: ein Dienst, den wir uns leisten wollen
Heinrich Fliri,
KVW Bezirksvorsitzender im Vinschgau
Die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung ist ein Grundpfeiler des modernen Sozialstaates. Auf jeden Fall muss garantiert werden, dass in allen Bereichen eine öffentliche, medizinische Versorgung sichergestellt bleibt. Der Rückgriff auf private Initiativen darf nur ergänzender Natur sein. Das öffentliche Gesundheitssystem muss so gestärkt werden, dass eine zeit- und wohnortnahe Behandlung möglich ist, damit das öffentliche Angebot genutzt werden kann. Um einem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, sollen die Gesundheits- und Sozialberufe durch gerechte Entlohnung und attraktive Arbeitsbedingungen aufgewertet werden. Auch die Dienste im nicht medizinischem Bereich z.B. der Reinigungsdienst, dürfen nicht privatisiert werden. Gerade im „Niedriglohnbereich“ sind die Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst vor allem in der Peripherie von großer sozialer und wirtschaftlicher Bedeutung.
Ich wünsche mir ein flächendeckendes, für alle zugängliches System. Alle haben ein Recht auf eine gute und wohnortnahe medizinische Versorgung, denn Gesundheit ist die wichtigste Voraussetzung für ein gutes Leben. Die gesundheitliche Versorgung ist eine lebenswichtige Dienstleistung, die wir uns leisten wollen.
TEXT: Heinrich Fliri
Differenzieren: Verwaltung und Privatwirtschaft
Josef Bernhart,
KVW Bezirksausschuss Vinschgau
Ich bin gegen Schwarz-Weiß. Die öffentliche Verwaltung hat in den letzten Jahrzehnten viel vereinfacht. Beispiel Eigenerklärungen. In der Südtiroler Landesverwaltung gibt es diese schon seit 1993 und damit vor den staatlichen Bassanini-Reformen. Damit werden amtliche Bescheinigungen durch persönliche Erklärungen der Bürger ersetzt. Ob bei Meldedaten oder anderen Informationen wie Studientitel, Berufsbefähigungen, es genügt eine „autocertificazione“. Auch private Dienstleister wie Banken und Versicherungen können dem Bürger das Leben erleichtern, wenn sie ihre vielgepriesene Kundenorientierung wirklich ernst nehmen. Wie das geht? Der Bürger ermächtigt sie direkt die notwendigen Informationen beim Amt einzuholen, wo sie aufliegen.
Und anderswo? Schon im fernen Jahre 1994 hat DER SPIEGEL zur Servicekultur in Deutschland getitelt „Maul halten, zahlen“. Gemeint sind nicht etwa öffentliche Verwaltungen, sondern Flughäfen oder Telefonanbieter. Dies gilt mehr denn je: Wenn Firmen zu groß und anonym werden, steht der Kunde nicht mehr im Mittelpunkt, sondern im Weg. Vertrauen wir also jenen heimischen Anbietern, die Kundinnen und Kunden wirklich ernst nehmen-und behilflich sind, auch beim Bürokratieabbau. Differenzierung ist gefragt und nicht: böse Verwaltung, gute Privatwirtschaft.
TEXT: Josef Bernhart

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Markt oder Staat - öffentlich oder privat:

Eine lange und spannende Diskussion
Wie eine Gesellschaft organisiert werden sollte, was Aufgabe der einzelnen Person, was der Familie, der kleinen Gemeinschaft oder des Staates sein soll, zieht sich als Frage durch die gesamte Geschichte der Philosophie. Unterschiedliche Zeiten und Gesellschaften haben darauf sehr verschiedene Antworten gefunden. Vergleicht man was in der Schweiz als Aufgabe der Gemeinde angesehen wird und was in Spanien oder Italien finden wir extrem unterschiedliche Regelungen.
Gottfried Tappeiner, Professor am Institut für
Wirtschaftstheorie, -politik und -geschichte in Innsbruck
Seit den 70er Jahren konzentriert sich die Diskussion (und später auch die politische Praxis) auf den Kernpunkt: welche Aufgaben soll der Staat übernehmen und was soll man besser den Selbstregulierungskräften des Marktes überlassen? Obwohl es hier immer unterschiedliche Auffassungen geben wird, weil die Antwort von Werturteilen abhängt, die man nicht einfach als richtig oder falsch einstufen kann, haben die praktischen Erfahrungen der letzten 50 Jahre die Diskussion deutlich weiter gebracht.
Der Markt ist unbestritten ein mächtiges Instrument, um wirtschaftliche Probleme zu lösen. Aus diesem richtigen Befund hat die neoliberale Gruppe von Theoretikern (Milton Friedman, Friedrich v. Hayek) und Praktikern (Ronald Reagan, Margreth Thatcher) den voreiligen Schluss gezogen, ein extrem schlanker Staat und für den Rest eine freie Spielwiese für den Markt, wäre die optimale Organisationsform einer Gesellschaft. Dieser Schluss ist aus mehreren Gründen falsch.
Ein Markt kann vorhandene Probleme effizient lösen, welche Probleme aber wichtig sind, kann ein Markt nicht festlegen. Dafür, das hat schon Walter Euken kurz nach 1945 festgehalten, braucht es demokratisch legitimierte Politiker*innen. Das ist der Kern dessen, was eine soziale Marktwirtschaft ausmacht. Dieser Primat der Politik muss wieder zurückgeholt werden. Diesen Vorrang braucht die Marktwirtschaft, weil ohne einen klaren Ordnungsrahmen, ohne funktionierende Zivilgerichtsbarkeit oder ein wirksames Wettbewerbs- oder Patentrecht kein Markt funktioniert.
Der zweite Irrtum ist, dass die Effizienz von Märkten nur für vollkommene Märkte ohne externe Effekte gilt. Märkte, die von wenigen Unternehmen beherrscht werden, brauchen Regeln und Kontrollen, weil es sonst, wie auch in nicht kontrolliertem öffentlichen Bereich, zu Missbrauch kommt. Dasselbe gilt bei externen Effekten, also bei der Nutzung von Gütern, für die weder Produzent noch Konsument letztlich bezahlen. Das im Moment spektakulärste Beispiel dafür sind die CO2 Emissionen und der Klimawandel. Es gilt aber auch für die Raumordnung und den Umweltschutz. Hier braucht es Eingriffe des Staates um ein soziales Optimum zu erreichen.
Der vielleicht wichtigste Mangel eines marktlichen Systems ist aber, dass es die Anfangsverteilung von Einkommen, Humankapital und anderem Vermögen nicht hinterfragt. Das war bisher ein beschränktes Problem, weil Kriege die Vermögensverteilung immer wieder gewaltig aufgemischt haben. Das große Glück einer langen Friedensperiode verstärkt aber die Bedeutung der Verteilung. Dies wird in beeindruckender Klarheit vom französischen Ökonomen Thomas Piketty herausgearbeitet. Kurz: die Rolle zwischen Markt und Staat muss neu diskutiert werden. Was bedeutet dies aber konkret: soll die öffentliche Hand weite Bereiche in „Eigenregie“ übernehmen und den Markt zurückdrängen? Sicher nicht! Es braucht aber in der Diskussion eine Beweislastumkehr: die öffentliche Hand muss nicht immer ihre Maßnahmen rechtfertigen, weil die Grundannahme lautet „Der Markt ist besser“, sondern beide Systeme, Staat und Markt ,müssen im fairen Wettbewerb ihre jeweiligen Vor- und Nachteile den Bürger*innen vorlegen, die dann über die aus ihrer Sicht überlegene Organisationsform entscheiden.
Vor- und Nachteile des Marktes
Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen (Rechtsprechung, Polizei), die unstrittig öffentliche Aufgaben sind, aber schon bei fundamentalen Fragen der Daseinsvorsorge (Trinkwasser, Schulen, Gesundheitswesen, öffentlicher Nahverkehr, Pflege) gehen die Meinungen auseinander. Man hat quer durch Europa großangelegte Experimente mit Privatisierungen oder mit Public-Privat-Partnerships gemacht. Die Ergebnisse, die man nach rund 30 Jahren doch recht zuverlässig beurteilen kann, sind durchwachsen. Bei der Einordnung dieser Ergebnisse sollte man sich vor Augen führen, dass die Fähigkeit des Marktes darauf beruht, dass er Preissignale als Maß für die Knappheit eines Gutes unglaublich effizient verarbeiten kann. Seine Schwäche liegt darin, dass er dort, wo Eigentumsrechte unklar definiert sind (Raum, Umwelt, Rohstoffe) zu Überausbeutung führt und dass er einen kurzen Zeithorizont hat. Der Markt muss daher von einem klaren politischen Konzept begleitet werden, das die Richtung und die Ziele einer Gesellschaft festlegt.
Der zweite blinde Fleck besteht darin, dass der Markt keine ethisch begründete Mindestversorgung kennt. Ob Wasser als Trinkwasser oder zum Bewässern von Golfplätzen dient, bestimmt ausschließlich die Kaufkraft der Nachfrager. Dieses Manko muss ebenfalls politisch ausgeglichen werden: Mindestlebensbedingungen und Mindestversorgungsstandards müssen in jeder akzeptablen Gesellschaft garantiert werden: Mindestsicherung, Mindestversorgung im Gesundheitswesen und Mindestpflege sind klar. Aber auch Versorgungsstandards mit Wasser, Abwasser, Bildung fallen hier hinein. Bald wird man darüber nachdenken, ob auch die Versorgung mit Breitbandinternet oder mit G5 Netzen dazu gehört. Festzulegen wo die Grenzen liegen, ist Aufgabe des politischen Diskurses.
Mindeststandards festlegen
Ganz zentral für eine Marktwirtschaft ist das Versprechen, dass wer sich anstrengt auch seinen Platz in der Gesellschaft finden kann: die Möglichkeiten eines Menschen müssen von ihm und seinen Fähigkeiten und nicht vom Sozialstatus seiner Familie abhängen. (Sonst wären wir im Feudalismus). Dort wo Lebenschancen vererbt und nicht erarbeitet werden, bilden sich bald extreme rechte und/oder linke Bewegungen.
Dass die Öffentlichkeit hier Verantwortung hat, bedeutet aber nicht, dass sie alle notwendigen Angebote selbst bereitstellen muss: sie kann sie beim Markt quasi „bestellen“. Dies ist bei allen Gütern und Diensten auch mehr als sinnvoll, die sich in Quantität und Qualität gut definieren lassen. Kontrakte, die komplex und unvollständig sind (und das ist schon bei komplizierteren Bauwerken der Fall), sind meist günstiger öffentlich abzuwickeln, weil sie für private nur mit sehr hohen Risikoaufschlägen übernehmbar wären.
Neben der öffentlichen Hand und dem Markt gibt es aber zumindest noch eine dritte Achse: die Einrichtungen der Zivilgesellschaft. Dies sind Vereine, Verbände und Zusammenschlüsse, die eine Vielzahl von Leistungen ohne Gewinnabsicht anbieten. Ihre Stärke liegt darin, dass sie nicht so rentabilitätsgetrieben wie Unternehmen und nicht so strikt an gesetzliche Normen gebunden sind wie die öffentliche Hand. Damit können sie einerseits in komplexen Situationen flexibel und empathisch reagieren und andererseits sind sie in der Lage, großes Engagement und Freiwilligenarbeit zu mobilisieren. Gerade in Südtirol haben solche Organisationen ihre enorme Leistungsfähigkeit seit Jahrzehnten unter Beweis gestellt.
Zivilgesellschaft: arbeiten ohne Gewinnabsicht
Es gibt daher keine Patentantwort was das beste ist: Markt, Staat oder Zivilgesellschaft. Für den großen Bereich nicht existentieller Güter und Dienste und dort, wo es um Innovation geht, sind die Stärken des Marktes. Dort, wo langfristige Ziele verfolgt werden müssen, Verteilungsgerechtigkeit und soziale Durchlässigkeit erreicht werden sollen oder Grundlagenforschung geleistet werden muss, liegt das Feld der öffentlichen Hand. Dort, wo große Flexibilität und Empathie gefordert sind, kommt niemand an die zivilgesellschaftlichen Organisationen heran.
Klare Ziele, eine beständige Überprüfung der erzielten Ergebnisse und der zugrundeliegenden Effizienz (auch wenn diese Kontrolle Ressourcen bindet), sowie die Suche nach innovativen Lösungen und neuen Wegen ist in allen drei Systemen notwendig. Verlässliche, klare, stabile und fair und konstruktiv überprüfte Regeln sind die Grundlage eines tragfähigen Gemeinsinns und der ist unerlässlich für eine erfolgreiche Gesellschaft. Auf dem Gebiet hat Italien, aber auch Südtirol noch viel Spielraum nach oben.
TEXT: Gottfried Tappeiner