Thema

Markt oder Staat - öffentlich oder privat:

Eine lange und spannende Diskussion
Wie eine Gesellschaft organisiert werden sollte, was Aufgabe der einzelnen Person, was der Familie, der kleinen Gemeinschaft oder des Staates sein soll, zieht sich als Frage durch die gesamte Geschichte der Philosophie. Unterschiedliche Zeiten und Gesellschaften haben darauf sehr verschiedene Antworten gefunden. Vergleicht man was in der Schweiz als Aufgabe der Gemeinde angesehen wird und was in Spanien oder Italien finden wir extrem unterschiedliche Regelungen.
Gottfried Tappeiner, Professor am Institut für
Wirtschaftstheorie, -politik und -geschichte in Innsbruck
Seit den 70er Jahren konzentriert sich die Diskussion (und später auch die politische Praxis) auf den Kernpunkt: welche Aufgaben soll der Staat übernehmen und was soll man besser den Selbstregulierungskräften des Marktes überlassen? Obwohl es hier immer unterschiedliche Auffassungen geben wird, weil die Antwort von Werturteilen abhängt, die man nicht einfach als richtig oder falsch einstufen kann, haben die praktischen Erfahrungen der letzten 50 Jahre die Diskussion deutlich weiter gebracht.
Der Markt ist unbestritten ein mächtiges Instrument, um wirtschaftliche Probleme zu lösen. Aus diesem richtigen Befund hat die neoliberale Gruppe von Theoretikern (Milton Friedman, Friedrich v. Hayek) und Praktikern (Ronald Reagan, Margreth Thatcher) den voreiligen Schluss gezogen, ein extrem schlanker Staat und für den Rest eine freie Spielwiese für den Markt, wäre die optimale Organisationsform einer Gesellschaft. Dieser Schluss ist aus mehreren Gründen falsch.
Ein Markt kann vorhandene Probleme effizient lösen, welche Probleme aber wichtig sind, kann ein Markt nicht festlegen. Dafür, das hat schon Walter Euken kurz nach 1945 festgehalten, braucht es demokratisch legitimierte Politiker*innen. Das ist der Kern dessen, was eine soziale Marktwirtschaft ausmacht. Dieser Primat der Politik muss wieder zurückgeholt werden. Diesen Vorrang braucht die Marktwirtschaft, weil ohne einen klaren Ordnungsrahmen, ohne funktionierende Zivilgerichtsbarkeit oder ein wirksames Wettbewerbs- oder Patentrecht kein Markt funktioniert.
Der zweite Irrtum ist, dass die Effizienz von Märkten nur für vollkommene Märkte ohne externe Effekte gilt. Märkte, die von wenigen Unternehmen beherrscht werden, brauchen Regeln und Kontrollen, weil es sonst, wie auch in nicht kontrolliertem öffentlichen Bereich, zu Missbrauch kommt. Dasselbe gilt bei externen Effekten, also bei der Nutzung von Gütern, für die weder Produzent noch Konsument letztlich bezahlen. Das im Moment spektakulärste Beispiel dafür sind die CO2 Emissionen und der Klimawandel. Es gilt aber auch für die Raumordnung und den Umweltschutz. Hier braucht es Eingriffe des Staates um ein soziales Optimum zu erreichen.
Der vielleicht wichtigste Mangel eines marktlichen Systems ist aber, dass es die Anfangsverteilung von Einkommen, Humankapital und anderem Vermögen nicht hinterfragt. Das war bisher ein beschränktes Problem, weil Kriege die Vermögensverteilung immer wieder gewaltig aufgemischt haben. Das große Glück einer langen Friedensperiode verstärkt aber die Bedeutung der Verteilung. Dies wird in beeindruckender Klarheit vom französischen Ökonomen Thomas Piketty herausgearbeitet. Kurz: die Rolle zwischen Markt und Staat muss neu diskutiert werden. Was bedeutet dies aber konkret: soll die öffentliche Hand weite Bereiche in „Eigenregie“ übernehmen und den Markt zurückdrängen? Sicher nicht! Es braucht aber in der Diskussion eine Beweislastumkehr: die öffentliche Hand muss nicht immer ihre Maßnahmen rechtfertigen, weil die Grundannahme lautet „Der Markt ist besser“, sondern beide Systeme, Staat und Markt ,müssen im fairen Wettbewerb ihre jeweiligen Vor- und Nachteile den Bürger*innen vorlegen, die dann über die aus ihrer Sicht überlegene Organisationsform entscheiden.
Vor- und Nachteile des Marktes
Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen (Rechtsprechung, Polizei), die unstrittig öffentliche Aufgaben sind, aber schon bei fundamentalen Fragen der Daseinsvorsorge (Trinkwasser, Schulen, Gesundheitswesen, öffentlicher Nahverkehr, Pflege) gehen die Meinungen auseinander. Man hat quer durch Europa großangelegte Experimente mit Privatisierungen oder mit Public-Privat-Partnerships gemacht. Die Ergebnisse, die man nach rund 30 Jahren doch recht zuverlässig beurteilen kann, sind durchwachsen. Bei der Einordnung dieser Ergebnisse sollte man sich vor Augen führen, dass die Fähigkeit des Marktes darauf beruht, dass er Preissignale als Maß für die Knappheit eines Gutes unglaublich effizient verarbeiten kann. Seine Schwäche liegt darin, dass er dort, wo Eigentumsrechte unklar definiert sind (Raum, Umwelt, Rohstoffe) zu Überausbeutung führt und dass er einen kurzen Zeithorizont hat. Der Markt muss daher von einem klaren politischen Konzept begleitet werden, das die Richtung und die Ziele einer Gesellschaft festlegt.
Der zweite blinde Fleck besteht darin, dass der Markt keine ethisch begründete Mindestversorgung kennt. Ob Wasser als Trinkwasser oder zum Bewässern von Golfplätzen dient, bestimmt ausschließlich die Kaufkraft der Nachfrager. Dieses Manko muss ebenfalls politisch ausgeglichen werden: Mindestlebensbedingungen und Mindestversorgungsstandards müssen in jeder akzeptablen Gesellschaft garantiert werden: Mindestsicherung, Mindestversorgung im Gesundheitswesen und Mindestpflege sind klar. Aber auch Versorgungsstandards mit Wasser, Abwasser, Bildung fallen hier hinein. Bald wird man darüber nachdenken, ob auch die Versorgung mit Breitbandinternet oder mit G5 Netzen dazu gehört. Festzulegen wo die Grenzen liegen, ist Aufgabe des politischen Diskurses.
Mindeststandards festlegen
Ganz zentral für eine Marktwirtschaft ist das Versprechen, dass wer sich anstrengt auch seinen Platz in der Gesellschaft finden kann: die Möglichkeiten eines Menschen müssen von ihm und seinen Fähigkeiten und nicht vom Sozialstatus seiner Familie abhängen. (Sonst wären wir im Feudalismus). Dort wo Lebenschancen vererbt und nicht erarbeitet werden, bilden sich bald extreme rechte und/oder linke Bewegungen.
Dass die Öffentlichkeit hier Verantwortung hat, bedeutet aber nicht, dass sie alle notwendigen Angebote selbst bereitstellen muss: sie kann sie beim Markt quasi „bestellen“. Dies ist bei allen Gütern und Diensten auch mehr als sinnvoll, die sich in Quantität und Qualität gut definieren lassen. Kontrakte, die komplex und unvollständig sind (und das ist schon bei komplizierteren Bauwerken der Fall), sind meist günstiger öffentlich abzuwickeln, weil sie für private nur mit sehr hohen Risikoaufschlägen übernehmbar wären.
Neben der öffentlichen Hand und dem Markt gibt es aber zumindest noch eine dritte Achse: die Einrichtungen der Zivilgesellschaft. Dies sind Vereine, Verbände und Zusammenschlüsse, die eine Vielzahl von Leistungen ohne Gewinnabsicht anbieten. Ihre Stärke liegt darin, dass sie nicht so rentabilitätsgetrieben wie Unternehmen und nicht so strikt an gesetzliche Normen gebunden sind wie die öffentliche Hand. Damit können sie einerseits in komplexen Situationen flexibel und empathisch reagieren und andererseits sind sie in der Lage, großes Engagement und Freiwilligenarbeit zu mobilisieren. Gerade in Südtirol haben solche Organisationen ihre enorme Leistungsfähigkeit seit Jahrzehnten unter Beweis gestellt.
Zivilgesellschaft: arbeiten ohne Gewinnabsicht
Es gibt daher keine Patentantwort was das beste ist: Markt, Staat oder Zivilgesellschaft. Für den großen Bereich nicht existentieller Güter und Dienste und dort, wo es um Innovation geht, sind die Stärken des Marktes. Dort, wo langfristige Ziele verfolgt werden müssen, Verteilungsgerechtigkeit und soziale Durchlässigkeit erreicht werden sollen oder Grundlagenforschung geleistet werden muss, liegt das Feld der öffentlichen Hand. Dort, wo große Flexibilität und Empathie gefordert sind, kommt niemand an die zivilgesellschaftlichen Organisationen heran.
Klare Ziele, eine beständige Überprüfung der erzielten Ergebnisse und der zugrundeliegenden Effizienz (auch wenn diese Kontrolle Ressourcen bindet), sowie die Suche nach innovativen Lösungen und neuen Wegen ist in allen drei Systemen notwendig. Verlässliche, klare, stabile und fair und konstruktiv überprüfte Regeln sind die Grundlage eines tragfähigen Gemeinsinns und der ist unerlässlich für eine erfolgreiche Gesellschaft. Auf dem Gebiet hat Italien, aber auch Südtirol noch viel Spielraum nach oben.
TEXT: Gottfried Tappeiner

Kommentar

Arbeiterloses Südtirol?

Warum es wichtig ist, den Fachkräftemangel zu verstehen
Ingrid Kofler und Harald Pechlander Eurac Research
Hohe Lebenshaltungskosten, ein geringes Lohnniveau, fehlende Karrieremöglichkeiten, hohe Immobilienpreise, die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die schlechte Erreichbarkeit: all diese Faktoren schwächen Südtirol im globalen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte. Die hohe Lebensqualität alleine kann diese Punkte nicht ausgleichen. Um die Dynamiken des zukünftigen Arbeitsmarktes nicht nur zu verstehen, sondern auch geeignete Maßnahmen zu treffen, müssen alle Bereiche der Gesellschaft zusammenarbeiten, denn: Arbeit ist ein Querschnittsthema.
Hochqualifizierte und Hochkreative leisten einen zentralen Beitrag für eine wissensbasierte Wirtschaft. Die Diskussion um diese fehlenden Arbeitskräfte, beziehungsweise der Bedarf an Fachkräften in verschiedenen Branchen ist auch in Südtirol nichts Neues. Die rasanten Veränderungen, die vor allem durch die Globalisierung, die Digitalisierung und den demografischen Wandel angetrieben werden, stellen das Land aber vor wieder neue Herausforderungen. Die Schwierigkeit, (hoch)qualifizierte Arbeitskräfte zu halten, sie ins Land zurückzuholen oder von außen in die Region zu bringen, wächst.
Wettbewerbsfähigkeit: Südtirol im europäischen Vergleich der Regionen weit abgeschlagen
Betrachtet man verschiedenste Rankings, scheint Südtirol beinahe erfolgsverwöhnt. In Sachen Lebensqualität und Wohlstand gilt es als Modellregion. Auch die Arbeitslosenquote liegt deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Der European Regions’ Talent Competitiveness Index, den das Center for Advanced Studies von Eurac Research in Zusammenarbeit mit dem WIFO der Handelskammer und IDM Südtirol im Rahmen der Studie „The best place for Talents“ berechnet hat, zeichnet jedoch ein weniger rosiges Bild. Südtirol positioniert sich in diesem Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit auf europäischer Ebene weit abgeschlagen. Dabei wurde eine Vielzahl von Aspekten herangezogen, darunter Wirtschaft, Lebensqualität, allgemeine und berufliche Bildung, Erreichbarkeit und Lebenshaltungskosten. Zwar schneidet Südtirol in den Dimensionen „anziehen“ (z.B. hohe Lebensqualität, BIP pro Kopf) und „halten“ (z.B. hohe Sicherheit) gut ab, zeigt sich aber bei „ermöglichen“ (z.B. Investitionen in Forschung und Entwicklung, keine globale Konzerne), „wachsen“ (niedrige Inskriptionsquote in Universitäten, keine Top-Universität) und „be global“ (geringer Anteil an Personen mit universitärer Ausbildung, eingeschränkter Zugang zu Passagierflügen) schwach.
Technologisierung, demografischer Wandel und Migration
Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird von drei zentralen Faktoren geprägt sein: Technologisierung, demografischer Wandel und Migration. Digitalisierung und Automatisierung werden die Berufsbilder grundlegend verändern. Bestehende Arbeitsplätze fallen weg, andere kommen neu hinzu. Bald schon könnten viele Tätigkeiten durch smarte Arbeitsformen ausgeführt werden. Der Anteil der über 50-Jährigen dominiert den Südtiroler Arbeitsmarkt. Gleichzeitig verlassen in keiner anderen Region Italiens mehr junge, hochqualifizierte Menschen das Land, als in der Provinz Bozen, was dafür sorgt, dass der Fachkräftemangel immer mehr Branchen betrifft. Dieser ließe sich durch Migration zwar ausgleichen, doch werden vorwiegend billige Arbeitskräfte – vielfach ohne fundierte Ausbildung – aus dem Ausland geholt. Das Lohnniveau bleibt dadurch tief, was wiederum einer der Hauptgründe für die Abwanderung junger Südtiroler ist und die Provinz wenig reizvoll für Talente aus dem Ausland macht.
Aus- und Weiterbildungs­maßnahmen müssen intensiviert werden
Internationale Expertinnen und Experten weisen auf eine Verschiebung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt hin. Es sind zunehmend die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bestimmen, welche Arbeit sie auswählen und welche nicht. Um Südtirols Attraktivität im Wettbewerb um Fachkräfte zu steigern, gilt es deshalb nicht nur einen Arbeitsplatz zu bieten. Es müssen Maßnahmen für leistbares Wohnen gesetzt und eine bessere Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Freizeit ermöglicht werden. Im Bereich der Aus- und Weiterbildung muss Südtirol gehörig zulegen. Die Erreichbarkeit und die Anbindung – und das ist für Südtirol ein besonders wichtiger Punkt – spielen bereits jetzt bei der Standortwahl für Talente eine zentrale Rolle und werden das in Zukunft noch viel mehr sein.
TEXT: Ingrid Kofler und Harald Pechlaner