Thema

Soziale Brennpunkte in Südtirol

Florierende Wirtschaft kommt nicht allen zugute
Südtirol hat das Potential Impulsgeber für wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt zu sein. Vorausgesetzt, im Land verfällt man nicht einem fremdenfeindlichen Ausgrenzungsmechanismus oder, nicht minder schlimm, wirtschaftsliberalen Begehrlichkeiten.
Josef Stricker,
geistlicher Assistent des KVW
In ganz Europa hat das Prinzip der freien - von sozialen Bindungen weitgehend abgekoppelten - Marktwirtschaft an Boden gewonnen. Das Gleichgewicht von öffentlicher Verantwortung für solidarisches Handeln hat sich in den letzten Jahrzehnten zugunsten der Privatisierung von Risiken und Lasten verschoben. Südtirol bildet da keine Ausnahme. Die gängige Meinung, wonach eine florierende Wirtschaft automatisch sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt nach sich zieht, hat sich längst als Irrtum erwiesen. Das Gegenteil trifft zu. Die Armutsgefährdung ist gewachsen, niedere bis mittlere Einkommen stagnieren seit Jahren, Wohnungs- und Bodenpreise fallen in zunehmendem Maße der Spekulation zum Opfer.
Das „Soziale“ ist mehr als nur eine Nebenwirkung der Wirtschaft und des Marktes. Der Markt an sich ist sozial und ökologisch blind. Der wichtigste Grund, warum sozialer Fortschritt vom wirtschaftlichen Fortschritt nicht zu trennen ist. Anders ausgedrückt: die Entwicklung einer Gesellschaft hängst von der Fähigkeit und dem Weitblick der Politik ab, Wirtschaft, Soziales und Umwelt zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen. Sozialpolitik hat eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Veränderungen im Auge zu behalten und sich ihnen offensiv zu stellen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich auf drei Brennpunkte näher eingehen.
Grundsicherung
Südtirol ist wohlhabend und reich genug, um sich ein Instrument gegen Armut leisten zu können. Das Landesgesetz über das Lebensminimum aus dem Jahr 1973 ist eine gute Ausgangsbasis. Anders als bei der Vorsorge hat Südtirol in Sachen Fürsorge gesetzgeberische und verwaltungstechnische Befugnis und könnte somit Nägel mit Köpfen machen. Es würde genügen an einigen Stellschrauben zu drehen. Nachdem Regierung und Parlament selbst eine Grundsicherung planen, von der bis dato niemand weiß, wie sie konkret aussehen wird, gilt es die dortige Entwicklung im Auge zu behalten, um eventuell Zweigleisigkeiten zu vermeiden.

In Südtirol ist es mittlerweile Mode geworden, die Erhöhung der Mindestrenten als Alternativmodell zur Grundsicherung feilzubieten. Da werden aber Kraut und Rüben durcheinandergebracht. Die Rente setzt die Einzahlung von Beiträgen voraus und kann folglich nur Personen zugutekommen, die über einen längeren Zeitraum Beiträge an das Renteninstitut eingezahlt haben. Die Rente ist auf den jeweiligen Bezieher ausgestellt, will heißen vom Einkommen der übrigen Familienmitglieder unabhängig.
Anders die Ausgangslage bei der Grundsicherung. Sie ist eine Sozialleistung. Als solche wird sie aus dem Steuertopf gezahlt. Maßstab für die Gewährung einer Grundsicherung ist die Bedürftigkeit eines einzelnen bzw. einer Familie. Im Gegensatz zur Rente ist eine Grundsicherung ein universal angelegtes Instrument, das alle bedürftigen Personen bzw. Familien als Zielgruppe erfasst und nicht nur Mindestrentner. Das Lebensminimum hat in der öffentlichen Meinung einen schlechten Ruf. Man denkt sofort an Armenfürsorge, an Missbrauchsfälle. Von daher der schale Beigeschmack. Ich finde zu Unrecht. Grundsicherung ist ein Recht und hat folglich weder mit Bettelei noch mit Almosen etwas zu tun. Sie aufzuwerten und als Instrument zur Armutsbekämpfung krisenfest zu machen halte ich für einen wichtigen sozialpolitischen Auftrag des KVW.
Löhne und Gehälter
Wer erinnert sich noch an die Teuerungszulage? Bis zum Jahre 1992 gab es einen im ganzen Staatsgebiet geltenden Automatismus einer teilweisen Anpassung von Löhnen und Gehältern an die Inflation. Er trug den klingenden Namen „Scala mobile“ - übersetzt Teuerungszulage. Seit einem Vierteljahrhundert ist die automatische Anpassung von Löhnen und Gehältern an die Inflation Geschichte. Die alte, viele Jahre geltende Regelung wurde 1993 durch ein Abkommen zwischen Regierung, Gewerkschaften, und Arbeitgeberverbänden abgelöst. An Stelle des Mechanismus der einstigen Teuerungszulage trat ein Zweistufenmodell aus nationaler und territorialer Verhandlungsebene. Auf römischer Ebene soll – so wurde vereinbart – alle vier Jahre der für das gesamte Staatsgebiet geltende Kollektivvertrag (z. B. Handel) ausgehandelt werden.
Neben der gesamtstaatlichen wurde eine zweite Ebene eingeführt, die territoriale. Will heißen: seit 1993 ist es in allen Provinzen Italiens rechtlich möglich, dass die örtlichen Arbeitgeberverbände und die Landesgewerkschaften Zusatzverträge aushandeln, in denen zusätzliche an die Produktivität gekoppelte Lohnelemente vereinbart werden können. Im öffentlichen Dienst gelten etwas andere Spielregeln. Das Instrument Zusatzvertrag ist hierzulande bis heute mehr schlecht als recht genutzt worden. Statt ein allgemeines Lamento über Kaufkraftschwund in der Öffentlichkeit anzustimmen, sollten Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften den Karren Landeszusatzverträge endlich flott machen, um Arbeiter und Angestellte am Aufschwung teilhaben zu lassen. Ich finde, in dieser wichtigen Frage müssten sich die Gewerkschaften einen Ruck geben und Initiativen starten.
Sanität
Das öffentliche Gesundheitswesen ist die dritte große Baustelle im Land. Die Problemliste in der Sanität ist ellenlang. Ich beginne bei den von den Bürgern am stärksten empfundenen Engpässen: Lange Wartezeiten bei Facharztvisiten, überforderte Erste-Hilfe-Abteilungen in den Schwerpunktkrankenhäusern, Ärztemangel. Hinzu kommen strategische Weichenstellungen. Die Sanität muss flächendeckend aufgestellt sein, hat aber auch der Spezialisierung Rechnung zu tragen. Ein Spannungsverhältnis, das in den zurückliegenden Monaten zu heftigem Streit zwischen der „Peripherie“ und dem „Zentrum“ geführt hat. Die Bezirke verlangen zu Recht, dass die Reform, wie immer sie am Ende aussehen mag, nicht auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Die ländlichen Gebiete haben ohnehin einen schweren Stand bei ihren Bemühungen, sich gegen die zunehmende Urbanisierung und Zentralisierung zur Wehr zu setzen.
Bei aller Liebe zu den autonomen Zuständigkeiten darf nie vergessen werden, in der Medizin gibt es nun einmal nationale und internationale Vorgaben. Standards, die auf jeden Fall einzuhalten sind. Und noch etwas, bei den vielen Wünschen und Erwartungen, die in Richtung Politik angemeldet werden, muss die öffentliche Verwaltung immer auch die Finanzierbarkeit des ganzen Systems im Auge behalten. Die Balance zwischen gegensätzlichen Interessen und Bedürfnissen zu finden, gleicht wohl der sprichwörtlichen Quadratur des Kreises. Für einen Sozialverband wie den KVW bleibt ein wetterfest aufgestelltes öffentliches Gesundheitssystem eine unabdingbare Voraussetzung, damit die einfachen, mit mäßigen Einkommen ausgestatteten Bürger Zugang zu allen medizinischen Leistungen haben, ohne auf die teure Privatmedizin zurückgreifen zu müssen.
TEXT: Josef Stricker

Kommentar

Ein gleicher Steuersatz für
alle Einkommen ist nicht gerecht

Die Berechnung der Steuer darf kompliziert sein
Im September fand in Triest ein nationaler Kongress der Acli statt, in dem es um die sozialen Agenden ging. Ein wichtiger Punkt dabei waren die Steuern, es wurde diskutiert, warum ein einkommensunabhängiger Steuersatz (Flat Tax) nicht eine gerechte Lösung ist.
In der italienischen Verfassung steht: „Jedermann ist verpflichtet, im Verhältnis zu seiner Steuerkraft zu den öffentlichen Ausgaben beizutragen. Das Steuersystem richtet sich nach den Grundsätzen der Progressivität.“ So steht es im Artikel 53 der italienischen Verfassung und so gilt es seit 1971.
Die verfassungsmäßig vorgeschriebene Progressivität der Steuer wurde durch einen mathematischen Mechanismus garantiert: der zu entrichtende Steuerbetrag erhöhte sich mit steigendem Einkommen, so wie der Prozentsatz stieg. Teilweise sah das Steuersystem bis zu 32 Stufen vor, wobei der höchste Prozentsatz für die Besteuerung bei 72 lag.
Weg von einer progressiven Steuer
Was blieb von der in den 70er Jahren eingeführten Progressivität der Steuer?
Im Laufe der Jahre wurde das System auf fünf Einkommensstufen reduziert, der Höchstsatz der Besteuerung ist von den 72 Prozent auf 43 Prozent gesenkt worden.
In der Tat zeigte der Gesetzgeber 1974 einen viel breiteren Überblick und regelte die Besteuerung von 1 bis 500 Millionen Lire (das 500fache).
Heute startet die Besteuerung bei der Mindestschwelle von 7.500 Euro und geht bis 75.000 Euro (bis zum 10fachen). Der zweite Aspekt der Progressivität, die Steuersätze, liegen heute zwischen 23 und 43 Prozent. Bei der Einführung war der Höchststeuersatz 72 Prozent.
Der Verfassungsgrundsatz der Progressivität (Artikel 53) sollte durch eine Neuformulierung der Berechnungstabellen nicht nur beibehalten, sondern auf jeden Fall gestärkt werden. Die Regel: „Ich bezahle mehr, wenn ich mehr habe“ sollte unverändert bleiben. Die Einkommensklassen könnten auf mehr als fünf erhöht und ausgeweitet werden, ebenso die Steuersätze auf über 43 Prozent
Berechnung der Steuer macht die Maschine
Die wichtige Botschaft ist: die Einfachheit des Steuersystems sollte nicht mit der Leichtigkeit der Berechnung der Steuer verwechselt werden. Die bloße mathematische Berechnung darf nicht mit dem der fiskalischen Vereinfachung verwechselt werden. Die Berechnung kann durchaus komplexer werden, da sie von der „Maschine“ übernommen wird. Das spricht sicher nicht für ein Flatrate-System, also einem einheitlichen Steuersatz für alle Einkommen.
Wir können unsererseits auch die Berechnung etwas komplexer machen, aber sicherlich weniger trivial als ein Flatrate-System, da die Berechnung leicht der Technologie, der Telematik-Software anvertraut wird. Es ist nicht der Mann, der die Steuer berechnet, sondern die Maschine.
Die Idee einer Pauschalbesteuerung ist nicht neu. In Italien versuchte Berlusconi bereits 1994 mit einem Standardsatz von 33 Prozent. Seitdem hat es verschiedene Ansätze gegeben: mehr oder weniger konkrete Gesetzesvorschläge oder Studien, Veröffentlichungen und Debatten. Das Thema der „flachen“ Steuer tauchte zyklisch immer wieder auf. Jetzt erlebt das Thema zweifellos eine neue Beliebtheit.
Illusion der Vereinfachung
In jedem Fall widerspricht eine Pauschalsteuer mit höchstens zwei bis drei eng beieinander liegenden Steuersätzen dem Verfassungsprinzip der Progressivität. Wenn über die Vereinfachung der Steuersystems gesprochen wird und die Flat Tax als Lösung vorgebracht wird, wissen die Verantwortlichen wirklich, was „Vereinfachung“ bedeutet? Oder möchte sie vielleicht nur die Illusion der Vereinfachung geben, während eigentlich eine Trivialisierung erfolgt? Über 40 Jahre italienisches Steuersystem sagen (und zeigen) uns, dass nicht nur die Wirksamkeit und Effizienz der Steuern, sondern auch ihre Gerechtigkeit durch eine proportionale und gleichzeitig progressive Struktur gegeben sind. Diese Struktur sieht auch die Verfassung vor.
Die Frage lautet also: welches Steuersystem wollen wir? Ein einfaches oder ein banales?
Ein Steuersystem darf nie nur nach der Art der Berechnung der Steuer gedacht und formuliert werden. Wenn einzig die Einfachheit bei den Steuersätzen Richtlinie sein soll, ist das zu einfallslos und banal.