Thema

Solidarität ist politisch zu organisieren

Gegen ein Auseinanderdriften der Gesellschaft
Der barmherzige Samariter sieht den Menschen in einer Notlage und handelt, dies ist Hilfe von Mensch zu Mensch. Solidarität in Form von Sozialpolitik sollte – bildlich gesprochen – den Weg von Jerusalem nach Jericho sicherer machen. - FOTO: Vincent van Gogh, Der barmherzige Samariter, Coll. Kröller-Müller Museum, Otterlo, Niederlande
Josef Stricker,
geistlicher Assistent des KVW
Schlagzeilen dieses Jahres – Flüchtlingskrise, Klimaerwärmung, Terror, drohender Handelskrieg, unsichere Zukunft - diese und ähnliche Meldungen sind allesamt dazu angetan, den Einzelnen zu überfordern und im schlimmsten Fall die ganze Gesellschaft zu lähmen. Das Jahres­thema des KVW möchte – jedenfalls so wie ich es verstehe – das Gegenteil davon, nämlich das Bewusstsein stärken, dass wir etwas ändern können, dass wir Phantasie und Kraft aufbringen, Gegenwart und Zukunft gut zu gestalten.
Das Thema soll helfen, Mut zu machen, Ängste zu nehmen. Ich glaube, dass sehr viele Menschen nicht immer nur hören wollen, wie schrecklich unsere Welt doch ist, sondern auch wissen möchten, was sie selbst zum Gelingen einer besseren Gesellschaft beitragen können. Anders ausgedrückt: es geht um Fragen wie: Worauf kommt es an? Was ist tatsächlich wichtig in Südtirol, in Italien, in einer zusammenwachsenden Welt?
Das europäische Projekt durchlebt eine tiefe Vertrauenskrise. Den Apparaten in Brüssel und Straßburg wird nicht mehr viel zugetraut. Die Finanzkrise von 2008 und ihre Folgen, die Not der Flüchtlinge machen deutlich: Es sind Zeiten des Umbruchs. Wie wir diesen Umbruch gestalten, liegt an uns. Es geht auch um die Einsicht, dass die Welt außerhalb der Grenzen Europas etwas mit uns zu tun hat. Wenn 20 Prozent der Weltbevölkerung 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen und für 70 Prozent der Treibhausgase verantwortlich sind, dann ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Da nützt es wenig, nach nationalen „Antworten“ zu rufen. Historische Vorurteile und nationalistisches Geschrei erweisen sich als Sackgassen. Es genügt auch nicht, „mehr Europa“ oder „mehr Solidarität“ zu fordern. Wir brauchen eine Antwort darauf, wie wir mit mehr Europa und mehr Solidarität konkrete Probleme lösen können.
Belastbare Solidarität
Aus der Sozialgeschichte wissen wir, Solidarität ist die Bereitschaft eines Bürgers sich mit gewissen persönlichen Opfern für das Wohlergehen entweder eines einzelnen Schwächeren oder einer benachteiligten Gruppe einzusetzen. Belastbare Solidarität nennt man das. Es geht um die Bereitschaft zusammen zu stehen und die Schwachen nicht zu vergessen. Neben dem Engagement des Einzelnen, braucht es auch politisches Handeln – individuelle und strukturelle Solidarität. In den Menschen gibt es Gott sei Dank mehr Bereitschaft, Gutes zu tun, als wir ihnen oft zutrauen. In meinen Augen hat das Jahresthema des KVW „Macht euch solidarisch“ eine dreifache Aufgabe: Es soll anstiften zur Menschlichkeit, anstiften zur Hoffnung, anstiften zum politischen Handeln.
Anstiftung zur Menschlichkeit
Wie müssen wieder auf die Ränder der Gesellschaft schauen, sagt Papst Franziskus. Die Ränder der Gesellschaft sind Orte, an denen das Leben und die Gesellschaft insgesamt Brüche aufweisen. Orte, an denen man sehen kann, wie ein Leben im Abseits aussieht. Orte, an denen auch die nicht materiellen Formen von Armut greifbar werden: Einsamkeit, sozialer Ausschluss, die Sehnsucht nach Sinn. Orte, an denen deutlich wird, dass unser soziales Netz grobmaschiger geworden ist. Diese Orte finden wir nicht nur an Bahnhöfen, in Parkanlagen, auf entlegenen Bergweilern, sie können überall sein, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Sie zeigen eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet. Zunehmend mehr Menschen haben das Gefühl, vom Wohlstand und Reichtum nicht mehr profitieren zu können. Menschen, die gereizt und verständnislos reagieren, wenn in der öffentlichen Debatte so getan wird, Südtirol gehöre zu den wohlhabendsten Landstrichen Europas. Ihre Wahrnehmung von der Lebenswirklichkeit ist eine andere. Benachteiligte Menschen haben das Gefühl, dass ein soziales Erdbeben im Gang ist, wo der Boden auf dem sich die Menschen seit Jahrzehnten bewegen, unter den Füßen zu entgleiten droht. Wie kein anderer seiner Vorgänger lenkt Papst Franziskus den Fokus auf die Schwächen und Defizite unserer Zeit. Gleichzeitig bietet er dem Beispiel Jesu folgend die Marschrichtung an: weniger Lehre, weniger Moral, mehr Menschlichkeit.
Anstiftung zur Hoffnung
Zukunftshoffnung ist etwas anderes als Fortschrittsoptimismus. Eine Hoffnung jenseits von Fortschrittsgläubigkeit findet sich im christlichen Glauben. Sie basiert nicht auf der Vorstellung, dass alles immer besser wird und dass der Mensch aus eigener Kraft eine bessere oder gar vollkommene Gesellschaft schaffen könne. Ganz im Gegenteil. Die Grenzenlosigkeit menschlichen Begehrens stößt überall an die Grenzen der Natur. Wir brauchen eine Ethik der Vorsicht, der Akzeptanz von Grenzen. Ohne diese Fähigkeit werden wir zu Sklaven der Technik und der Wirtschaft. Das Modell des grenzenlosen Fortschritts, des permanenten Wachstums steht in diametralem Gegensatz zur christlichen Hoffnung. Christliche Hoffnung ist keine Fortschrittsutopie, sondern baut auf dem Glaubenszeugnis der Gerechtigkeit und des Respekts vor Grenzen.
Anstiftung zum politischen Handeln
Macht euch solidarisch heißt: Solidarität ist politisch zu organisieren. Wie meine ich das? Ich möchte es mit den Worten des Jesuitenpaters Oswald von Nell Breuning (1890 – 1991) sagen. Der Altmeister der katholischen Soziallehre hat das Anliegen mit bemerkenswerten Sätzen auf den Punkt gebracht: „Wir haben über die Welt nicht geistreich zu philosophieren, sondern – insofern stimmt die Lehre Jesu Christi mit der von Karl Marx vollkommen überein – sie beherzt anzupacken, sie zu verändern, gegebenenfalls umzukrempeln und vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und wenn sich dem die Welt widersetzt, genügt es nicht, ihr mit guten Worten zuzureden, dann müssen wir kämpfen und die Solidarität politisch organisieren“.
Solidarität braucht Mut und Kompetenz
Anlässlich der Landesversammlung des KVW 1998 im Bozner Waltherhaus hat der Innsbrucker Jesuit Herwig Büchele in seinem Vortrag folgende Aussagen gemacht: „Wer sich auf die Bergpredigt und Matthäus 25 einlässt, betritt gefährlichen Boden. Es gibt keinen Trick! Eine solidarische Gesellschaft kommt weder durch moralische Appelle noch durch ein kirchliches Rundschreiben, noch durch irgend einen Kniff, noch von selbst. Sie wächst allein aus der erhöhten Widerstands- und Erneuerungskraft der Menschen. Was diese Widerstandskraft ist, können wir am Leben Jesu und seinem Geschick ablesen. Jesus ist gegen falsche Anpassungen, gegen Scheinfriedensformen. Er lehnt jedes verlogene Einvernehmen, passives Kopfnicken, kritiklose Zustimmung zu bestimmten Verhaltensweisen, die die Wahrheit und die Gerechtigkeit opfern, ab. Jesus fordert Mut zum Konflikt. Dabei verzichtet er bei der Durchsetzung seiner Ziele auf jedes Mittel von Gewalt“.
Wer sich in öffentliche Angelegenheiten einmischen will, braucht Kompetenz in der Sache. Mit dem Aufsagen von frommen Sprüchen, mit moralisierendem Gerede überzeugt man heutzutage niemanden mehr. Wer glaubwürdig und vor allem überzeugend in der öffentlichen Auseinandersetzung mithalten will, der muss sich um starke Argumente bemühen.
TEXT: Josef Stricker

KVW Aktuell

Für Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit

Landtagswahlen als Möglichkeit der Mitbestimmung nutzen
Jeder Wahlberechtigte kann mit seiner Stimme zur Gestaltung der Gesellschaft beitragen.
Am Sonntag, 21. Oktober finden in Südtirol Landtagswahlen statt. Dabei werden die 35 Abgeordneten des Südtiroler Landtags neu gewählt.
Es ist entscheidend, dass sich die Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Prozess beteiligen und am Wahltag ihre Stimme abgeben. Das Wählen ist das Recht und die Pflicht für die Wahlberechtigten. Unter ihnen werden heuer auch einige Tausend junge Erwachsene sein, die zum ersten Mal bei den Landtagswahlen ihre Stimme abgeben dürfen. Nun haben auch sie es in der Hand, die Richtung der Landespolitik in den nächsten fünf Jahren mitzubestimmen. Wenn möglichst viele zur Wahl gehen repräsentiert das Ergebnis den breiten Willen der Bevölkerung. Stimmenthaltung bewirkt das Gegenteil.
Themen der Landespolitik
Verschiedene Parteien und Kandidatinnen und Kandidaten stellen sich am 21. Oktober der Wahl. Manch einer wird sich fragen, bei welchem Parteisymbol soll ich das Kreuzchen machen, welche Namen soll ich aufschreiben.
Dies liegt im Ermessen eines jeden einzelnen. Als KVW möchten wir aber ein paar Hinweise geben, auf was machen achten kann.
Solidarität bringt eine Gesellschaft weiter, macht sie gerechter, stellt das Gemeinwohl in den Mittelpunkt. Parteien, die mit Ausgrenzung und Angst arbeiten, statt mit Mitmenschlichkeit und Solidarität, werden unser Land nicht in eine positive, hoffnungsvolle Zukunft lenken. Deshalb Vorsicht bei Parteien und KandidatInnen, die mit einfachen Parolen Wahlwerbung machen, aber keine Lösungen anbieten.
Migration und Einwanderung werden ein beherrschendes Thema sein. Als KVW mahnen wir nach wie vor eine menschenwürdige Behandlung an. Integration muss Raum und Wichtigkeit bekommen, damit wir nicht in einigen Jahren Fehlentwicklungen ausmerzen müssen, die wir heute durch umsichtiges Handeln vermeiden können. Ausgrenzung und das Ausspielen von Menschengruppen gegeneinander ist keine Lösung.
Schutz des Sonntags
Der Schutz des Sonntags als gemeinsamer, wöchentlicher Ruhetag ist eine Wertvorstellung des KVW, für den sich der Verband den Einsatz der politischen Vertreterinnen und Vertreter wünscht.
So wie es Papst Franziskus formuliert, braucht es eine Wirtschaft die der Allgemeinheit dient. Das Präsentieren positiver Zahlen und Statistiken ist zu wenig. Es gilt genauer hinzuschauen: Wer profitiert nicht vom Wirtschaftswachstum? Wie schaut es mit gerechten Löhnen und menschlichen Arbeitsbedingungen aus? Mit der Umwelt? In Südtirol muss man sich aber auch die Frage stellen, wie viel Wachstum wollen wir und vor allem welches Wachstum wollen wir? Wann ist die Erträglichkeit erreicht?
Der demografische Wandel ist ein europäisches, westliches Phänomen. Die Menschen erreichen ein immer höheres Alter und das ist gut so. Es ist aber auch verständlich, dass dadurch die Kosten in der Sanität steigen werden. Und neue Themen tun sich auf, vor allem was den Umgang mit älteren Menschen betrifft.
Politisches Engagement des KVW
Als katholischer Verband ist der KVW nicht unpolitisch, politisches Engagement gehört zu seinem Leitbild: die Gestaltung der Gesellschaft kann ihm nicht egal sein. Dem Verband ist es ein Anliegen, dass seine Mitglieder und alle Bürgerinnen und Bürger sich einbringen und ihr Recht auf Mitbestimmung ausüben. So kann ein starkes Zeichen für Gerechtigkeit und Menschlichkeit gesetzt werden. Vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens gilt der Einsatz dem Gemeinwohl, von dem niemand ausgeschlossen wird. Am 21. Oktober kann jede und jeder ein Zeichen setzen.
TEXT: Werner Steiner