Häufige Fragen und Antworten

1. Können Krankheiten allein durch verbesserte hygienische, gesundheitliche und soziale Zustände einer Bevölkerung ausgerottet werden?

Zuweilen wird behauptet, bestimmte Krankheiten wie Poliomyelitis (Kinderlähmung) und Diphtherie seien in den Industrieländern nicht durch Impfungen, sondern dank besserer Lebensbedingungen verschwunden.
Sicherlich haben die verbesserten Lebensbedingungen den Gesundheitszustand der Bevölkerung der Industrieländer stark beeinflusst.
Eine genauere Betrachtung der Geschichte der Kinderlähmung führt jedoch zu einem überraschenden Ergebnis: Verbesserte Hygiene- und Gesundheitsstandards haben die Verbreitung von Poliomyelitis sogar begünstigt. Vor dem 20. Jahrhundert traten Kinder meist in den ersten Lebensmonaten mit dem Polio-Virus in Kontakt, wobei sie noch durch die während der Schwangerschaft über das Fruchtwasser übertragenen mütterlichen Antikörper geschützt waren. Dadurch entwickelten sie keine Lähmungen. Beim so genannten „Nestschutz“ handelt es sich um kurzlebige Antikörper, die nach den ersten Lebensmonaten zurückgehen und schließlich verschwinden.
Was passierte also im 20. Jahrhundert? Durch die verbesserten Hygiene- und Gesundheitsstandards traten die Kinder erst später mit dem Virus in Kontakt, und zwar meist im Schulalter: Zu jenem Zeitpunkt waren sie jedoch nicht mehr durch die Antikörper der Mutter geschützt. Aus diesem Grund brachen die Polio-Epidemien in der westlichen Welt gerade im 20. Jahrhundert so heftig aus, wüteten in den 1950er und 1960er Jahren und gingen erst mit den ersten Impfkampagnen zu Ende (De Jesus 2007).

Häufige Fragen und Antworten

2. Wie verschwand die Poliomyelitis (Kinderlähmung) in Italien und kann sie sich in einem Industrieland mit hohen Hygienestandards wieder verbreiten?

Die folgende Grafik zeigt auf der linken (senkrechten) Achse die Anzahl der Polio-Fälle, die in Italien jährlich gemeldet wurden; die untere (waagrechte) Achse stellt den Zeitraum zwischen 1939 und 1995 und später dar (Daten der obersten italienischen Gesundheitsbehörde, Istituto Superiore di Sanità). Ab Frühling 1964 wurde die Impfung bei allen Kindern durchgeführt (Assael 1995). 1963 waren noch 2.830 Menschen an Polio erkrankt; 1964 war die Anzahl auf 842 gesunken, 1965 waren es 254 und 1966 nur noch 148, wobei die Anzahl konstant sank, bis ab den 1980er Jahren gar keine Polio-Fälle mehr verzeichnet wurden.
Wie aus der Grafik hervorgeht, ist die Anzahl der Polio-Fälle in nur zwei Jahren um das Zehnfache zurückgegangen (von 2.830 im Jahr 1963 auf 254 im Jahr 1965). Die Impfkampagne begann im Frühjahr 1964. Wenn die Krankheit aufgrund der verbesserten Lebensbedingungen in Italien verschwunden wäre, dann wäre die Anzahl der Erkrankungen schrittweise und nicht abrupt zurückgegangen. Die epidemiologischen Daten zeigen, dass die Kinderlähmung in Italien nicht aufgrund besserer hygienischer Bedingungen, sondern durch die 1964 eingeführte Impfkampagne verschwunden ist. In vielen Grafiken wird die Impfkampagne erst ab 1967 angesetzt, um damit anzugeben, dass die Krankheit bei der Einführung der Impfungen aufgrund der besseren Hygienezustände bereits im Rückgang war. Die Impfkampagne begann jedoch wie gesagt bereits 1964: Innerhalb eines Jahres wurden 7 Millionen Kinder geimpft (Assael, 1995).
1967 - erst drei Jahre später - wurde die gesetzliche Impfpflicht gegen Poliomyelitis eingeführt, aber zu jenem Zeitpunkt waren schon Millionen Kinder geimpft worden. Dies erklärt den starken Rückgang der Polio-Erkrankungen zwischen 1964 und 1967: Die Kinderlähmung ist nicht von allein verschwunden.
Kann sich die Poliomyelitis in einem Industrieland mit hohen Hygienestandards verbreiten?
Die Antwort darauf liegt in der Polio-Epidemie von 1992 in den Niederlanden. Dort weigerten sich die Mitglieder einer kleinen Glaubensgemeinschaft, ihre Kinder impfen zu lassen. 1992 erkrankten mehrere Kinder und einige Erwachsene an Poliomyelitis: 2 der insgesamt 72 Betroffenen starben, 59 erlitten eine bleibende Lähmung (Oostvogel 1994).
Das die Epidemie auslösende Virus kam entweder durch asymptomatische Träger (Menschen, die das Virus in sich tragen, aber keine Krankheitszeichen zeigen) oder durch Nahrungsmittel nach Holland, beide aus Ländern, in denen Poliomyelitis als endemisch galt (vermutlich Indien). Bei der restlichen niederländischen Bevölkerung, die nicht zu jener Glaubensgemeinschaft gehörte, gab es lediglich einen Fall, da in den Niederlanden fast 100% der Kinder geimpft waren.
Lebte jene Glaubensgemeinschaft unter prekären Hygienebedingungen? Dazu sehen wir uns die Verteilung der Gemeinschaftsmitglieder in den Niederlanden an.
Eine Studie über diese Epidemie (Conyn-van Spaendonck 1996) enthält eine Karte mit der Verteilung der Mitglieder obiger Glaubensgemeinschaft auf dem gesamten niederländischen Staatsgebiet. Besagte Karte kann aus urheberrechtlichen Gründen nicht kopiert werden, aber der Artikel von Conyn-van Spaendonck und ihren Mitarbeitern ist im Internet frei unter folgendem Link abrufbar: aje.oxfordjournals.org/content/143/9/929.long.
Bei der Betrachtung der Karte erscheint es als kaum nachvollziehbar, dass im Jahr 1992 in derart weitläufigen Teilen der Niederlande schlechte hygienische Bedingungen herrschten. Oostvogel, einer der Epidemiologen, der sich damals mit der Polio-Epidemie in den Niederlanden befasste, schreibt 2014:


„Es gibt keine Hinweise darauf, dass der betroffene Bevölkerungsteil unter anderen hygienischen Verhältnissen lebt als die restliche Bevölkerung der Niederlande. Die Ausbreitung dieser Epidemie geht auf die Tatsache zurück, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft sowohl in den Niederlanden als auch außerhalb (z.B. in Kanada) untereinander enge soziale Kontakte pflegen: In der Regel besuchen sie vorrangig dieselben Schulen, nehmen an denselben Versammlungen teil, heiraten untereinander und treffen sich zu bestimmten Feierlichkeiten.
Die einzige Ursache für die Epidemie liegt in der fehlenden Immunisierung einer breiten Bevölkerungsgruppe. Die Verweigerung der Impfungen aus religiösen Gründen stellt in den Niederlanden immer noch ein Problem für die öffentliche Gesundheit dar, wie auch die jüngst registrierten Masern-Herde zeigen. Wir überwachen das potentielle erneute Aufkommen des Polio-Wildvirus, vor allem in dieser Gemeinschaft“.
Welche Lehre können wir aus der Epidemie in den Niederlanden ziehen?
Polio-Viren können in Bevölkerungen mit hohen Gesundheits- und Hygienestandards erneut ausbrechen und zu Epidemien führen, falls die Anzahl der Geimpften (die sogenannte Durchimpfungsrate) unter einem bestimmten Niveau liegt. Je ansteckender eine Krankheit ist, desto höher muss die Durchimpfungsrate sein, um Epidemien zu vermeiden.
Die Kinderlähmung gilt noch nicht als ausgerottet, obwohl die Anzahl der Erkrankungen seit 1988 um über 99% gesunken ist. Dieser Rückgang ist dem globalen Bestreben zur Ausrottung der Krankheit zu verdanken. Heute gilt die Poliomyelitis nur in 3 Ländern als endemisch: Nigeria, Pakistan und Afghanistan. Seit 2014 gilt Indien nach einem intensiven Impfprogramm als poliofrei.
Doch trotz dieser Fortschritte gilt die Poliomyelitis noch nicht als weltweit ausgerottet, solange auch nur ein einziges Kind durch das Virus infiziert wird.
Das Polio-Virus kann auf einfache Weise in ein von dieser Krankheit freies Land wieder eingeführt werden und sich rasch unter der nicht immunisierten Bevölkerung verbreiten.
Gibt es die Möglichkeit einer potenziellen Rück­kehr des Polio-Virus?
In Europa sind 11,5 Millionen Kinder und junge Menschen nicht gegen Poliomyelitis geimpft. In der nachstehenden Tabelle sind sie nach Alter aufgelistet (ECDC 2013):
Bei einem kleinen Teil davon wurde die Impfung sicher aufgrund spezifischer Gegenanzeigen nicht durchgeführt, aber der Großteil wurde höchstwahrscheinlich nicht geimpft, weil die Eltern dagegen waren. Die Skepsis gegenüber Impfungen ist bekanntlich in verschiedenen Ländern verbreitet.
Bis vor Kurzem galt das Risiko einer Rückkehr der Kinderlähmung in Europa als sehr gering, doch aufgrund zweier Ereignisse musste die Wissensgemeinschaft ihre Ansicht darüber ändern.
Das erste Ereignis ist die Rückkehr des Polio-Virus in Israel. Das Polio-Wildvirus Typ 1 (WPV1) wurde in zahlreichen Abwasserproben nachgewiesen, die 2013 in verschiedenen Gebieten Israels entnommen wurden (Manor 2014).Der Großteil der WPV1-positiven Proben stammte aus dem Süden des Landes. Sämtliche Viren wurden ausschließlich in Abwasserproben isoliert, wobei keine Fälle paralytischer Poliomyelitis festgestellt wurden.
Die Genuntersuchungen ergaben Analogien zwischen dem in Israel isolierten Polio-Virus und dem Virus, das 2012 in Ägypten in der Kanalisation nachgewiesen wurde, auf. Letzteres entspricht wiederum jenem, das in Pakistan vorzufinden ist. Dort gilt die Poliomyelitis wie in Nigeria und Afghanistan noch als endemisch.
Das zweite Ereignis ist eine Häufung akuter schlaffer Lähmungen durch das Polio-Wildvirus, das in der syrischen Stadt Deir ez-Zor zu 36 Erkrankungen zwischen 2013 und 2014 führte (http://www.emro.who.int/polio/countries/syrian-arab-republic.html).
Dabei waren vor allem Kinder unter zwei Jahren betroffen, die wahrscheinlich wegen der unsicheren Lage und des Bürgerkrieges nicht oder unvollständig geimpft waren. Die Durchimpfungsrate in Syrien war von 2010 bis 2012 von 91% auf 68% gesunken.
Polio-Viren sind hoch ansteckend. Die infizierten Personen übertragen die Erreger auf zweierlei Weise: über den Stuhl und über die oberen Atemwege (Schleimhaut des Nasen-Rachen-Bereichs). Ersteres betrifft vor allem Entwicklungsländer, die zweite Variante hingegen besonders Länder mit hohen Hygienestandards.
In Europa ist die Durchimpfungsrate nicht flächendeckend auf einem optimalen Stand, da in allen Ländern größere oder kleinere Bevölkerungsschichten nicht geimpft sind (ECDC 2013). Zudem werden Polio-Viren in Europa allgemein unzureichend überwacht. Dadurch gibt es ganze Gebiete, in denen sich Polio-Viren eine bestimmte Zeit lang verbreiten könnten, bevor sie entdeckt werden würden.