artikeljanuar2024

Wechselwirkungen in Organisationen

// Autor: Rolf Balling //
©Rolf Balling
1. Einleitung und Rahmung
Was wirkt wie in einer Organisation? Das fragen sich Manager, Mitarbeiter, Eigentümer, Betriebsräte, Gesetzgeber und Beraterinnen schon immer. Viele Wenn-dann-Regeln sind dazu in den letzten Jahrzehnten empfohlen worden. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, diese „wenn A, dann B“ Ratschläge durch die Analyse der Wechselwirkungen zwischen A und B zu erweitern. Denn nur im verweilenden Blick auf Wechselwirkungen zeigen sich prozesshafte Phänomene wie Verstärkung, Abschwächung, überraschende Nebenwirkungen, Kipppunkte, oder auch Verhakungen.

In der Transaktionsanalyse hat die Analyse von Wechselwirkungen eine bereits von Eric Berne im Transaktionskonzept begründete Tradition. Da geht die Person A mit dem EL-Ichzustand auf B zu und B erwidert mit dem K-Ichzustand. Bei beiden aktivieren sich alte Muster, die im Weiteren einen stabilen EL - K Transaktionsaustausch generieren. Der Anfangsanlass wird dann zunehmend unbedeutend. Man könnte die so entstehende Figur auch als Kommunikationsstrudel bezeichnen, weil sie im lebendigen Fluss von Kommunikation einem stabilen Wasser-Strudel gleicht.

Auch die von Berne beschriebenen Psychologischen Spiele zeichnen sich durch Stabilitätsphasen mit parallelen Transaktionen aus. Doch wenn dort die innere Spannung zu groß wird, folgt der Kipppunkt mit der Endauszahlung. Hier hat Eric Berne eine komplette Wechselwirkungs-Prozessanalyse durchgeführt. Dies ist deshalb möglich, weil die beteiligten Skriptmuster – die selbst immer etwas Mechanistisches haben – diese Wechselwirkung vorhersehbar machen. Kommunikations-Prozesse in voller, lebendiger Wechselwirkung bleiben kreativ und immer wieder überraschend. Man kann diese Prozesse allerdings rahmen und damit gestalten, auch darum geht es im weiteren Text.

Im Folgenden werde ich mich beispielhaft mit verschiedenen Wechselwirkungen in Organisationen beschäftigen. Mein Anspruch dabei ist nicht Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, sondern zum Wechselwirkungsblick zu ermutigen. Denn mit diesem Blick zeigt sich vieles zwar in fordernder Komplexität, aber wenn man in dieser Perspektive bleibt, wird vieles klarer. Man bleibt dann nicht in einer Beschreibung des „Ping – Pong“ zwischen A und B stecken, sondern kann eine weite Metaperspektive einnehmen, die übergeordnete Zusammenhänge erkennbar macht.



2. Das Doppel-Spagat-Modell als Strukturierung des Geschehens in Organisationen
Um das Denken in Wechselwirkungen beispielhaft zu zeigen, gehe ich von meinem Doppelspagat-Modell aus, das einen großen Teil der Betrachtungslandschaft „Organisation“ einschließt. Beim Doppelspagat wird zwischen Person und Organisation unterschieden, und bei diesen jeweils zwischen Denk-/Fühl-Mustern und Basis-Fakten. So entstehen zwei „Spagate“, die sich gegenüberstehen und die spezielle Wechselwirkungsfelder entstehen lassen. Mein Modell stellt bereits eine Reduktion dar, denn es fokussiert nicht auf die Wechselwirkungen mit Organisations-Zielen und Strategien, und auch nicht auf Wechselwirkungen mit Märkten, Technologien oder gesellschaftlichen Entwicklungen.
Unter „Persönlichkeit“ verstehe ich: Unsere gewohnten Muster im Denken/Fühlen/Verhalten, etwa beim Lösen von Problemen, oder bei der Gestaltung von Beziehungen; generell unseren persönlichen „Frame of Reference“.

Unter „Organisationskultur“ verstehe ich: Gewohnte Muster beim Lösen von Problemen, beim Bewerten von Leistung, beim Umgang mit Konflikten, oder beim Stil wie kooperiert und konkurriert wird. Weiterhin das Verständnis von Führung, Standard-Strategien zur Krisenbewältigung und der Umgang mit Lieferanten, Konkurrenten und Gesetzen.
Unter „personalen Fakten“ verstehe ich: Alter, Geschlecht, körperliche Merkmale, Nationalität, Ausbildungen, Zertifikate, biografische Daten, usw.

Unter „Organisationsstruktur“ verstehe ich: Rechtsform, Aufbau-Organisation, vorgegebene Prozesse, Definitionen von Funktions-Rollen, Betriebsvereinbarungen, Eigentümerstruktur, Beteiligungen.
©Rolf Balling Professionalisierung

3. Beispiele zu den Wechselwirkungsfeldern, die zwischen den Positionen im Doppel-Spagat-Modell entstehen


3a. Zwischen Persönlichkeit und Organisationskultur
Häufig werden in Organisationen bei der Besetzung wichtiger Funktionen Personen ausgewählt, die für eine Aufgabe die richtige Kompetenz mitbringen, die aber vorher in ganz anderen Kontexten gearbeitet haben. Werden die Neuen anwachsen? Werden diese die vorhandene Organisations-Kultur beschädigen? Hier sind Prognosen riskant, denn im lebendigen Wechselwirkungsprozess des Onboardings können kleine Aktionen große Richtungsänderungen hervorrufen, die später kaum noch zu korrigieren sind.

In einer Bank, die stolz auf ihre faktenbasierte Entscheidungskultur war, wurde ein für seine gute Intuition bekannter Bondsmanager eingestellt, denn man wollte diese Fähigkeit gerne in Entscheidungsprozessen dabeihaben. Der Bondsmanager nervte dann seine Kollegen mit „Bauchgefühlen“ und entwickelte selbst Frust wegen „wenig Vertrauen“ und „kognitiver Agitation“. Kurz vor einem Abbruch in der Probezeit, lernte der Bondsmanager – mit Unterstützung eines Coaches - zumindest vage Begründungen für seine intuitiven Einschätzungen zu kommunizieren, und die Fakten-Fans lernten die Intuitionen des Neuen als bedenkenswert ernst zu nehmen. Auf dieser Basis – nach anstrengender Wechselwirkung – gelang tatsächlich eine erste Integration der neuen Kompetenz.

3b. Zwischen personalen Fakten und Organisationskultur
Ich erinnere mich an eine Gruppe hervorragender Ingenieure, die aus ihrem Selbstverständnis heraus Forderungen zur Terminverpflichtung als übergriffige Anmaßung ansahen. Nach dem Eintritt von massiven Lieferverzögerungen wurde ihnen ein Projektmanager zur Seite gestellt. Meine Aufgabe als dessen Coach bestand in den ersten Wochen eher darin, den Projektmanager zur Geduld mit der Situation zu ermutigen, da er subtil abgeblockt wurde. Erst, als eine – auch für den Bestand des Teams – bedrohliche Vertragsstrafe drohte, öffnete sich ein Fenster für dessen Kompetenz. Am Ende, nach eingehaltenem Abgabetermin, in einem Prozess wechselseitiger Auseinandersetzung, verstand der Projektmanager mehr von den Unwägbarkeiten in Entwicklungsprozessen und die Ingenieure akzeptierten die Planungslogik des Managements. Das Team ließ sich dann - ohne Begeisterung aber gutwillig – in ein Projektmanagement eingliedern. (Hier kann man diskutieren, wieweit das Faktum „Entwicklungsingenieur“ mit den beschriebenen Persönlichkeitsmerkmalen korreliert.)

3c. Zwischen Organisationskultur und Organisationsstruktur
In einem Konzern legte man großen Wert auf Planungs-Sicherheit und auf das Vermeiden von Investitionsrisiken. Der Vorstandsvorsitzende proklamierte: „I want this company to be organized, that even Mikey Mouse could run it”. Das Planungs-/Entscheidungssystem galt in der Branche als beispielhaft. Auch in der Firmen-Kultur war dieses System weitgehend akzeptiert. Allerdings entwickelte sich im Entwicklungsbereich eine Subkultur, in der spannende Entwicklungs-Projekte an der Planung vorbei als „U-Boote“ durchgeführt wurden. Dies aus der Angst, dass die Controller diese Entwicklungs-Ideen nicht genehmigen würden. War ein solches U-Boot allerdings erfolgreich, konnte es auftauchen, und den Entwicklern wurde verziehen. Bei Erfolglosigkeit wurden die Kosten heimlich – durch mitspielende Controller - auf genehmigte Projekte verschoben. Hier versuchte eine Organisations-Controllingstruktur die Organisations-Kultur der Entwicklung zu bestimmen, was offensichtlich nicht wirklich gelang. Es dauerte allerdings einige Jahre mit intensiver Wechselwirkung zwischen Kultur- und Struktur-Vertretern, bis ein neues Planungssystem verabschiedet wurde, das ausdrücklich 10% vom Budget für riskante Entwicklungs-Projekte vorsah.

In einer gemeinnützigen GmbH wurde ein Controllingsystem eingeführt, das dann die schlechte Performance eines Geschäftsbereiches offensichtlich machte. Diese Situation zu diskutieren oder durch Personal-Austausch zu ändern, war zunächst nicht möglich, weil die Organisations-Kultur dies als „unsozial“ bewertet hätte. Erst nach einer Wechselwirkungsphase, in der die Organisations-Kultur lernte, Gewinnerzielung als legitimen Wert zu sehen, und auf der anderen Seite das Controlling lernte, Margenvorgaben nach Marktsituationen zu differenzierten, konnte damit ein neues Level von Effizienz und Zukunftsfähigkeit erreicht werden.

Predigt ein Vorstand die Wichtigkeit von Kooperation und zahlt aber Boni nur für individuelle Zielerreichung, dann lädt das die Mitarbeiter dazu ein, ein Jahr im Voraus sicher erreichbare personale Ziele zu verhandeln, die dann – ohne das Risiko hoher Kooperationsabhängigkeit - abgeliefert werden können. Wie man trotzdem ein „Kooperationsimage“ aufbaut, lernen Manager schnell, wodurch wiederum ein Erfolg der Vorstandspredigt vorgespielt wird. Auch das Initiieren von risikoreichen Projekten wird sich ein Mitarbeiter unter diesen Bedingungen genau überlegen, wenn am Ende nur das Projekt-Gelingen bonusrelevant wird, und nicht der bei einem Scheitern erzielte Lerngewinn. Eine solche – dysfunktionale – Rahmung der Wechselwirkung zwischen
Leistung und Entlohnung kann den Erfolg einer Organisation beträchtlich schmälern.

Wechselwirkung in Aktion lässt sich ebenfalls gut bei Teams beobachten, die mit agilen Methoden arbeiten, und denen dabei flexible Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Mit der Erlaubnis, ihren Raum mit Arbeitsplätzen und Arbeitsmitteln je nach Bedarf zu strukturieren, spürt das Team schnell, wie eine konkrete Ausprobier-Konstellation auf sie wirkt. Es entwickelt dann die Kompetenz, je nach persönlichen Vorlieben und einer momentanen Projektsituation, mit den Strukturen zu experimentieren und in Wechselwirkung stimmige Arbeits-Landschaften einzurichten.

4. Organisationsstrukturen als Rahmung und Initiierung von Wechselwirkungsprozessen
Ein Verein tickt anders als eine AG, und ein freies Forschungsinstitut - als GmbH aufgestellt - folgt anderen inneren Leitlinien als eine konzerneigene Forschungsabteilung. Denn in der AG geht es um Planerfüllung und um das interne Image, in einer GmbH auf freiem Markt geht es vordringlich um Projekt-Akquisition und Kosteneffizienz.

Man kann das Organigramm einer Organisation auch als „intuitive Aufstellung“ dazu sehen, welche Themen aktuell Aufmerksamkeit haben und deshalb in eigenen, hochrangigem „Organisations-Kästchen“ platziert werden.

Nun kommen viele Berater*innen in Organisationen - von ihrer Ausbildung her - aus der Beratung von Personen. Die Berater sind es deshalb gewohnt, mit der Persönlichkeit eines Klienten zu arbeiten, und dessen personalen Basisfakten als gegeben anzusehen. Diese Aufmerksamkeits- und Denkgewohnheit führt häufig dazu, dass die Strukturen einer Organisation ebenfalls als gegeben -und für eine Interventionsstrategie als nicht verfügbar - eingeschätzt werden. Für die Mächtigen sind allerdings Änderungen in den Organisations-Strukturen meist durchaus möglich, man muss die Entscheider nur von dem Nutzen einer Struktur-Änderung überzeugen.

Hierzu ein Beispiel wie ein solcher Prozess (hier eher unbewusst gestaltet) ablaufen kann:
Vor einiger Zeit wurde im industriellen Kontext die Idee, dass die Qualität von Produkten bereits im Fertigungsprozess mehr Beachtung finden sollte, forciert. Es entstanden dann in vielen Organisationen Qualitätsabteilungen auf hohem hierarchischem Niveau, die - mehr oder weniger geschickt - begannen in die Fertigung hineinzuwirken. Tatsächlich scheiterten solche Change-Ideen häufig im Machtkampf gegen die bereits etablierten Funktionen. Wenn es allerdings gelang, eine echte Auseinandersetzung – also Wechselwirkung - einzuleiten, in der die Qualitäts-Promotoren mit den Fertigungs-Spezialisten um weitgehendere Qualitäts-Sicherungen rangen, wirkte die hohe hierarchische Positionierung des Q.-Anliegens als Rückenwind. Als das neue „Qualitätsbewusstsein“ in der Fertigung nach einigen Jahren gut integriert war, konnte man die zunächst gleichrangigen Qualitätsabteilungen wieder auflösen, oder als beratende – nicht entscheidende - Kompetenzzentren weiterführen.



5. Systemische Sichtweisen und Wechselwirkungen in einer Organisation
Der Systemische Beratungsansatz hat in der Beratung von Organisationen weite Verbreitung gefunden. Er ist mit dem Wertesystem der Transaktionsanalyse vereinbar und methodisch effektiv kombinierbar. Hier einige Beispiele systemischen Denkens:

Da man komplexe Systeme nicht wie eine mechanisch determinierte Maschine exakt verstehen kann (und soziale Systeme sind immer komplex), und da sich komplexe Systeme auch aus sich selbst heraus – in intransparenten internen Wechselwirkungen - verändern (emergieren), macht eine aufwändige (mechanistische) Diagnose wenig Sinn. Man arbeitet hier besser mit vorläufigen (intuitiven) Hypothesen, die dann in diagnostischer Wechselwirkung überprüft und aktualisiert werden.
Eine – für einen Beratungserfolg wichtige - Wechselwirkung entsteht zwischen Berater- und Klientensystem. Die Berater erfahren niemals die Klienten „an sich“ da sie diese nur in Wechselwirkung mit sich - dem Beratersystem - erleben. Dieses Faktum muss adäquat bei Diagnosen und Interventionen berücksichtigt werden. Klient- und Beratersystem bilden zusammen ein neues Beratungssystem. Zu diesem Thema benutzt die TA – der Psychoanalyse folgend – unter anderem das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung.
Beim Anspruch an einen Vorstand, die Gesamtorganisation zu steuern, ist zu bedenken, dass dies nur soweit möglich ist, als sich die Wechselwirkungen innerhalb der Organisation – in einem Parallelprozess – im Vorstand spiegeln. Diese Erkenntnis zeigt, welche hohe Integrierungs-Kompetenz im Vorstand erforderlich ist, um effektiv arbeiten zu können. Oder auch, welcher Schaden möglich wird, wenn Vorstand und Rest-Organisation sich durch Gräben trennen und die lebendige Wechselwirkung zwischen ihnen verkümmert.
Das Prozessdesign für Veränderungsprojekte in einer Organisation ist mehr als eine Hülle für Einzelinterventionen (Workshops, Großgruppen, Arbeitsgruppen, Coachings, Reflexion). Wenn sich im Prozessdesign (Struktur) – und im Prozessstil (Kultur) das angestrebte Ergebnis bereits spiegelt, werden sich die Einzelmaßnahmen gegenseitig verstärken. Erscheint der Prozess insgesamt allerdings als widersprüchlich, schwächt dies die Effektivität des Change-Projektes. Dazu ein Beispiel: Die Neustrukturierung in einem Geschäftsbereich will eine Firma mit einem Change-Prozess begleiten, in dem nicht nur die neuen Schnittstellen gelernt werden, sondern gleichzeitig die Wechselwirkung zwischen den Hierarchieebenen verbessert werden soll. Um dies zu erreichen, wird man in allen Workshops die Vertreter der verschiedenen Hierarchieebenen in eine übende Wechselwirkung bringen. Im Stil wird man auf Transparenz und respektvolle Kommunikation achten. Mit allen Beteiligten wird man dann regelmäßig die im Prozess gemachten Erfahrungen diskutieren, und Leitlinien für die gewünschte Organisations-Kultur besprechen.



6. Wechselwirkungen in Dilemmata
Ein Problem ist lösbar, ein Dilemma nicht. In Organisationen gibt es vermutlich mehr Dilemmata als Probleme. Probleme – gelöst – sind erledigt. Bei Dilemmata findet man vielleicht eine situativ angemessene Balancierung, aber das prinzipielle Dilemma bleibt bestehen.

Typische Dilemmata in Organisationen sind:

Was ist uns wichtiger, eine große Führungsspanne und damit eine flache Hierarchie, oder eine kleine Führungsspanne, in der engere Führungsbeziehungen möglich werden?
Investieren wir den Jahresgewinn in Zukunftsprojekte, oder halten wir uns durch gute Ausschüttungen einen stabilen Aktionärsstamm?
Maximieren wir den Fabrik-Ausstoß und bedienen damit die derzeitig gute Nachfrage, oder bleiben wir kompromisslos bei unseren hohen Qualitätsstandards, auch wenn wir damit potentielle Käufer verprellen?
Erwarten wir bei neuen Produkten eine positive Rentabilität innerhalb von zwei Jahren, oder ertragen wir auch fünf Verlustjahre in der Hoffnung, dass der Markt dieses Produkt doch noch - wie erhofft -akzeptiert?


Ein effektiver Umgang mit solchen Dilemmata erfordert lebendige Wechselwirkungsprozesse, da hier eine triviale Verfolgung von harten Prinzipien allenfalls suboptimale Ergebnisse erzeugt. Doch hier zeichnet sich allerdings das nächste Dilemma ab, da Wechselwirkungsprozesse aufwendig und zeitintensiv sein können. Letztendlich muss man auch bei deren Gestaltung einen situativ angemessenen Weg zwischen Kosten und Ertrag finden.

Bei der Gestaltung eines Wechselwirkungsprozess in Dilemmata sind folgende Leitfragen wichtig:

Welche Personen können die hier relevanten Aspekte kompetent vertreten?
Bekommt dieser Kreis einen klaren Auftrag mit Entscheidungsfreiheit für eine konkrete Situation?
Sind diese Personen in der Lage mit Widersprüchlichkeiten reif umzugehen und - kreativ - zur Situation vertretbare Entscheidungen zu treffen?
Können diese Personen sich innerlich einem kreativen Wechselwirkungsfeld überlassen und gleichzeitig den von ihnen vertretenen Aspekt engagiert vertreten?

Mit diesen Kriterien wird deutlich, dass sich an Prinzipien fest gebundene und in Machtpositionen denkende Personen in solchen Prozessen schwer tun werden.

Eine reife Organisationskultur, die es den Beteiligten erleichtert, engagiert und gleichzeitig pragmatisch Konflikte auszutragen, ohne sich dabei gegenseitig auf personaler Ebene abzuwerten, wird wesentlich zum Gelingen von Wechselwirkungsprozesse beitragen.

In vielen Organisationen werden solche Dilemmata von unteren Hierarchieebenen bis zum Vorstand nach oben durchgereicht, der dann situative Lösungen finden muss. Eine agile Organisationskultur erkennt man auch daran, wie dilemmakompetent bereits auf Teamleiter und Spezielistenebene pragmatische Entscheidungen getroffen werden.



7. Zur Gestaltung von Wechselwirkungsprozessen
Zunächst müssen Strukturen geschaffen werden, die effektive Wechselwirkungen rahmen und fördern können.
Gleich wichtig ist die innere Haltung der Beteiligten. Abgesehen vom legitimen Interesse, in der Kommunikation Wirkung zu erzielen, bedarf es der inneren Zustimmung zum Beeinflusst-Werden. Das geht über Schlauer-Werden hinaus, denn das kann die Veränderung der eigenen Position und des eigenen Wertesystems bedeuten.
In schwierigen, konfliktären Situationen ist eine kompetente Moderation hilfreich. Speziell mit einem guten Gespür dafür, ob ein Wechselwirkungsprozess noch im lebendigen Pfad fortschreitet - der auch mal um den roten Faden herum mäandern kann - oder ob es so weit ist, ein Verzetteln abzubrechen.
Sich einem lebendigen Wechselwirkungsprozess anzuvertrauen, braucht Vertrauen. Vertrauen wird durch Transparenz bei Informationen, und Endscheidungs-Prozessen gefördert. Wenn dieses Ideal einmal nicht eingehalten wurde, muss das noch keinen Absturz bedeuten. Denn wird ein Missgeschick eingestanden – und folgt eine eventuell angemessene Entschuldigung – wirkt das meist vertrauensbildender als ein insgesamt steril-glatter Kommunikationsstil.



8. Schlussbetrachtung
Wechselwirkungen finden statt, immer und überall. Auch wenn wir unsere Biografie betrachten, sehen wir dort vielfältige Wechselwirkungen, in denen wir uns entwickelt und erprobt haben. Wechselwirkung kann man als lebendiges Geschehen sehen, das nicht in trivialem Ursache-Wirkungsdenken adäquat beschrieben werden kann. Unser personales Skript reduziert zwar Komplexität, aber meist mit dem Preis von Lebendigkeit.

Organisationen brauchen in spezieller Weise eine klare strukturelle Verknüpfung ihrer Strukturen, denn eine zuverlässige Leistungserstellung ist nur mit stabilen Prozessen möglich. Allerdings hängt der nachhaltige Erfolg einer Organisation genauso davon ab, wie lebendige Wechselwirkungen zwischen den relevanten Funktionen organisiert und gelebt werden. Sich ständig diesen Wechselwirkungen engagiert und kompetent zu stellen, ist eine zentrale Aufgabe der beteiligten Personen und der Organisations-Kultur. Da eine Organisation auch in immerwährender Wechselwirkung mit ihren - sich verändernden - Umwelten steht, kommt ihrer Wechselwirkungskompetenz eine entscheidende Bedeutung zu, um zukunftsfähig zu bleiben.

Weitere Aufsätze vom Autor sind zum Download auf seiner Homepage unter www.balling-professionalisierung.de verfügbar
Literaturverzeichnis
Diagnose von Organisationskulturen, Rolf Balling, Zeitschrift für Transaktions­analyse, Jahrgang 22, Heft 4, Junfermann-Verlag, 2005, (auf der Homepage der DGTA verfügbar)
Das DGTA-Anwendungsfeld Organisation, Rolf Balling in: Transaktionsanalyse, Gudrun Jecht/Georg Pelz, Belz-Verlag, 2022

Rolf Balling
Rolf Balling ist Diplom-Kaufmann und Lehrender Transaktionsanalytiker (TSTA-O). Er arbeitet freiberuflich als Supervisor für Führungskräfte, Unternehmensberatungen und Management-Coaches. Erfahrungen sammelte er als Leiter des Managementtrainings und der Organisationsentwicklung in einem Konzern, und als Geschäftsführer/Lehrtrainer einer Akademie für Berater:innen in und von Organisationen. Für die Transaktionsanalyse engagierte er sich in der Theorieentwicklung, als Beirat der TA-Zeitschrift und als Vereins-Vorstand. Er ist Autor vieler Artikel in Fachzeitschriften und Büchern.

mail@balling-professionalisierung.de


artikelfebruar2024

Keine Zukunft mehr und ein miserabler Zeitgeist?

// Autor: Günther Mohr //
Können da Heimat und Arbeit helfen?
©Günther Mohr
Karl Valentins Aussprach »Früher war auch die Zukunft besser« war lange ein Witz, heute ist es common sense. Da gilt es also einmal nachzuschauen, was passiert ist und was jetzt los ist. Im folgenden Beitrag geht es zunächst kurz um zwei wesentliche Aspekte der Zeit, nämlich Zukunft und Zeitgeist. In einem zweiten Teil werden dann zwei Faktoren für das Erfahren der Zeit dargestellt: Heimat und Arbeit. Beide Kontextfaktoren lassen Zeit spezifisch erleben. Also zweimal zwei ist die Struktur des Beitrages.

»Es ist Zeit« war der Titel des deutschsprachigen TA-Kongresses 2023 in Lindau. Die Zeit ist eine nicht greifbare Dimension, die wir aber in der Praxis dazu nutzen, die Abfolge von Ereignissen zu erfassen. Sie wird oft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterteilt und gerne als Pfeil dargestellt. Auch in der Physik wird die Zeit als eine lineare Richtung betrachtet, während Philosophen und Wissenschaftler sich mit Fragen über die Natur und Qualität der Zeit beschäftigen. Zeit kann ökonomisch auch als ein begrenztes Gut betrachtet werden, das effektiv genutzt werden sollte. Man sieht schon, Zeit ergibt bei genauer Betrachtung sehr unterschiedliche Perspektiven.

Zukunft
Gerade für die systemisch-transaktionsanalytische Beratung ist die Zukunft wichtig. Als Vertreter dieser Richtung bin ich nicht so vergangenheitsorientiert. Die Zukunft bezieht sich auf den Zeitraum, der nach der Gegenwart kommt. Sie ist von Natur aus ungewiss und kann von unseren Entscheidungen, Handlungen und Umständen beeinflusst werden. Die Zukunft ist ein Raum für Potenzial, Hoffnungen und Pläne. Menschen verwenden verschiedene Ansätze, um die Zukunft zu gestalten, wie z.B. Zielsetzung, Planung, strategisches Denken. Es ist wichtig anzumerken, dass niemand die Zukunft genau vorhersagen kann. Wir können jedoch versuchen, uns auf die Zukunft vorzubereiten, indem wir verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen, unsere Fähigkeiten und Kenntnisse erweitern und uns anpassungsfähig und flexibel halten. Florence Gaub (2023) hat für die Zukunft eine »Bedienungsanleitung« vorgelegt. Der Zukunft werde heute häufig ängstlich begegnet, aber Zukunft sei auch nüchtern zu betrachten. Dazu lädt Gaub mit verschiedenen Thesen ein, hier einige davon:
1. Wir beschäftigen uns zu wenig mit Zukunft. Alle sind konzentriert auf die Bewältigung der Gegenwart und die wird nah den Kategorien der Vergangenheit erlebt.

2. Es gibt nicht »die eine« Zukunft, sondern Zukünfte mit sehr unterschiedlichem Zeithorizont. Es gibt die nächste Sekunde, den nächsten Tag, das nächste Jahr, das, was ein Mensch in seinem Leben noch erleben kann und das über sein Leben Hinausgehende. Diese verschiedenen Zukünfte lassen uns unterschiedlich fühlen. Und Menschen unterscheiden sich vielleicht auch dadurch, wieweit ihr Horizont geht.

3. Menschen in Gegenden mit weniger Wohlstand sind optimistischer bezüglich der Zukunft. Da gibt es einerseits noch was zu erreichen. Da ist noch »Luft nach oben«. Andererseits scheint Wohlstand nicht unbedingt Zufriedenheit und Glück zu garantieren. Man hat auch mehr zu verlieren.

4. Wir haben alle eine unterschiedliche Beziehung zur Zukunft. Wie schon bei den ins Auge gefassten Zeiträumen beschrieben, ist auch die emotionale Tönung von Zukunft unterschiedlich. Zieht man einmal Berne's Skriptprozessmuster heran, so wird ein Mensch mit einem Erst-wenn-Muster ein anderes Gefühl als der mit dem Danach-Skriptmuster haben. »Erst-wenn…« bedeutet, dass man eine Erfüllung immer an bestimmte noch zu erfolgende Bedingungen knüpft. »Erst wenn das Haus abbezahlt ist«. »Erst wenn die Kinder aus dem Haus sind«…..hier gibt es verschiedene angenommene Schwellen. Beim Danach-Skriptmuster droht das Damoklesschwert einer Rechnung, die es irgendwann für aktuelles Wohlergehen noch zu bezahlen gelte, vielleicht weil man über seine Verhältnisse lebt oder weil es einem nach dem eigenen persönlichen unbewussten Lebensplan gar nicht gut gehen darf.

5. Philosophie beschäftigt sich erst seit ca. 300 Jahren mit der Zukunft (vielleicht nicht zufällig mit dem Auftreten von Aufklärung und Kapitalismus). Solange die Welt und ihre Taktung sehr stark durch die Religion bestimmt war, gab es für die Zukunft auch einen klaren Plan. Viel im lebendigen Leben zu erreichen, war nicht unbedingt so von Nöten.

6. Psychologien haben nach Gaub meist Erklärungen aus der Vergangenheit (Lerntheorie, Psychoanalyse). Aus meiner Sicht bilden moderne systemische und lösungsorientierte Ansätze hier Ausnahmen. Sie fußen nicht zentral auf der Vergangenheit, als Beispiel der Ansatz von Steve de Shazer.

7. Man kann sein eigenes Zukunftsdenken beeinflussen und ändern. Das ist sicher ein interessanter Punkt und gerade für Menschen mit oben angedeuteten Skriptprozessmustern ein notwendiger Schritt. Aber auch generell gilt in einer krisengeschüttelten Zeit, dass Menschen auch den Dialog untereinander brauchen, um Hoffnung und Zuversicht aufzubauen.

Zeitgeist
Die aktuelle Zeit ist sehr stark durch Krisen gezeichnet. Manchmal bekommt man das Gefühl einer Vorabendstimmung, als wenn ein größerer »Bang« noch bevorsteht. Krisen sind herausfordernde Situationen, die das Leben beeinflussen können. Sie können persönlicher, zwischenmenschlicher oder globaler Natur sein. Sie erfordern oft Entscheidungen und Maßnahmen, um damit umzugehen und daraus zu lernen. Das ist im Übrigen auch eine nutzbare Resilienzdefinition.

Der Zeitgeist gibt eine gedankliche und emotionale Tönung der aktuellen Phase wieder. Zeitgeist ist eines der deutschsprachigen Wörter, die auch den Einzug in den englischsprachigen Raum gefunden haben. Zeitgeist umfasst bestimmte aktuell gerne besprochene Themen, Handlungsweisen, vielleicht auch äußere Ausdrucksstile genauso wie eine bestimmte häufigere Emotion, was von Aufbruchstimmung bis zu Verzweiflung gehen kann.

Gesellschaftliche Veränderungen
Die Gesellschaft zeigt Anfang der 2020er Jahre interessante Entwicklungen. Von soziologischer Seite werden bestimmte Entwicklungen attestiert. Die Stichworte sind Singularisierung (Reckwitz, 2018) und objektiver Narzissmus (Charim, 2017). Singularisierung bedeutet eine zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft, die sich gleichzeitig in einzelnen gesellschaftlichen Gruppen auch in einem gesteigerten individuellen Selbstdarstellungsbedürfnis zeigt, Charim (2022) sieht dies in einer Veränderung psychologischer Grundmuster, die Menschen betreffen. So habe sich in psychoanalytischen Termini formuliert, die Orientierung der Menschen weg vom Über-Ich, einer gesellschaftlich bestimmten Normen gebenden Instanz hin zu einer Orientierung am Ich-Ideal, einer individuell selbstkonstruierten Instanz, verändert. Der Zeitgeist lässt sich gut anhand einzelner Themenbereiche betrachten. Ich habe einmal zwei Zeitgeistthemen herausgenommen: Heimat und Arbeit. Diese Themen sollen im Folgenden exemplarisch in einem aktuellen Zeitbezug betrachtet werden.

Heimat
Zunächst zur Heimat. »Das Thema ist nicht den Rechten zu überlassen«, so Teilnehmer im Workshop beim DGTA-Kongress in Lindau 2023. Es ist ein zutiefst psychologisches Thema. Heimat bezieht sich oft am Anfang auf den Ort, an dem man aufgewachsen ist oder zu dem man eine enge emotionale Bindung hat. Heimat steht für Geborgenheit, Zugehörigkeit und Identität. Es ist ein individuelles Empfinden, das mit Erinnerungen, Kultur und sozialen Beziehungen verbunden ist. Gerade bei großen Flüchtlingsbewegungen in der Welt ist das Heimat- und Beheimatungsthema wieder sehr zentral.

Heimat als Zugehörigkeit
Das »need for recognition« (Berne, 1966) ist definiert als ein Bedürfnis gesehen zu werden. Daraus wird auch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit abgeleitet (Mountain/Davidson, 2011) also dass man auch zu einer Gruppe dazu gehört, dort eine Rolle spielt, dort wichtig ist. Heimat ist ein spannender Begriff, der lange Zeit ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, aber durch die vielen Flüchtlinge doch wieder ein sehr sehr interessantes Thema geworden ist. Nach dem Krieg, nach 1945 durch die Flüchtlinge in Deutschland, hatte man auch sehr stark mit dem Heimathema zu tun. Die sogenannten Vertriebenen wie es damals hieß, haben sich sehr dafür eingesetzt, wieder irgendwann zurückgehen zu können. Diese Orientierung war eine Zeit lang sehr virulent. Ständig trafen sich irgendwelche Verbände. Aber man merkte, wie den Menschen dieses Thema am Herzen lag. Das ist dann irgendwann ruhiger geworden, so in 70er Jahren. Heute ist durch die Flüchtlingsthematik das Thema Heimat wieder sehr interessant geworden. Deshalb beschäftigen wir uns auch damit.

Was macht denn für uns selbst Heimat aus? Auch unter dem transaktionsanalytischen Gesichtspunkt: Warum ist Heimat wichtig? Das erste, was natürlich einfällt bei Heimat, ist die Zeit oder die Region, in der wir aufgewachsen sind. Das ist oft mit Heimat verbunden. Gleichzeitig hat Heimat aber auch eine ganze Menge anderer Aspekte, die vielleicht eine Rolle spielen, insbesondere Beziehungen. Dabei hat Heimat sehr viel mit Sinnesreizen zu tun, wenn wir uns an diese Ursprungsinhalte, die wir hatten, zurückerinnern. Dann können wir uns an bestimmtes Essen erinnern, an das, was wir dort an Gerüchen hatten. Ein Beispiel aus meiner Kindheit: Wenn samstags nachmittags gebadet wurde - es gab noch keine Kanalisation in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin - gab es den bestimmten Geruch draußen auf der Straße, weil das Badewasser in den Straßen an den Seiten herunterlief und das hatte was ganz Charakteristisches. Ich weiß nicht, warum ich mir dieses zweifelhafte Geruchsbeispiel gemerkt habe. Aber von den Gerüchen her hat jeder von uns auch sicherlich die Erinnerung an ein Lieblingsessen, das er mit seinem Heimatort verbindet, was dort typisch war. Für mich als Moselaner ist natürlich auch sehr in Erinnerung, wenn die Trauben gelesen wurden, im Herbst dieser Geruch, der dann überall war, durch den Trester von den gepressten Trauben. Das lag über ein bis zwei Wochen richtig in der Luft.

Mehrere Heimaten
Heimaten, Plural, können auch ganz unterschiedliche Orte sein. Es kann etwas zu tun haben mit der eigenen Familie genauso aber auch mit einer Professionsgruppe, etwa den Transaktionsanalytikern als einer Heimatgruppe. Es kann irgendein anderer Zusammenhang sein, wo ich mit Leuten in einer bestimmten Beziehung bin und die ich gerne sehe. Wenn ich mit denen zusammen bin, dann fühle ich mich zugehörig und angekommen. Hier haben wir wieder den wesentlichen Teil dieses Themas: Zugehörigkeit. Den Zusammenhang zwischen Anerkennung und Zugehörigkeit hatten wir schon. Es hat natürlich auch mit dem Grundbedürfnis nach Struktur zu tun, dass ich irgendwie einen Ort bei mir sehe, wo ich verwurzelt bin, verankert bin.

Heimatdynamiken
Weiterhin ist es auch eine interessante Frage, welche Dynamiken bei Heimat eine Rolle spielen. Eine Dynamik ist zum Beispiel Heimweh. Sie können sich Fragen stellen wie:

Wie haben Sie schon mal Heimweh erlebt an irgendeiner Stelle in Ihrem Leben?
Wie sind sie selber mal aus einer Heimat vertrieben worden?
Wie haben sie sich mal heimatlos gefühlt?
Waren sie mal irgendwann in einem Status in der Lebensphase, wo sie sagen jetzt habe ich überhaupt keine Heimat, ich weiß gar nicht wo ich hingehöre?

Da kommen wir auch noch zu einem weiteren interessanten Punkt. Ich glaube, mit zunehmendem Alter ist gar nicht so sehr der Ort das entscheidende. Sondern da kommt die Beziehungsqualität in den Vordergrund, dass man dort beheimatet ist, wo Menschen sind, mit denen man in einer guten Beziehung ist, mit denen man gerne zusammen sein will.



Eigene Folgerungen
Also, es gibt jede Menge von Anknüpfungspunkten psychologischer Natur, die wir bei Heimat haben. Vielleicht ist das für Sie selber auch ein Anknüpfungspunkt also ein Impuls, sich selber mit dieser Frage mal zu beschäftigen, sich vielleicht eine Meditation zu gönnen und zu sagen, ich setze mich eine halbe Stunde hin und denke darüber nach: Wo sind denn meine Heimaten? Wo sind sie gewesen? Was ist die Heimat für mich? Wie viel tue ich in Solidarität für die Menschen, die ihre Heimat verloren haben oder zurzeit verlieren?

Gute Gestaltung der Arbeit übt Demokratie ein
Nun zum zweiten Punkt. Wirtschaft und Psychologie begegnen sich im Thema Arbeit. Hier zeigt Axel Honneth von der Frankfurter Schule wichtige Erkenntnisse auf. Er ist Repräsentant der dritten Generation der Frankfurter Schule nach Adorno und Habermas und hatte sich mit dem Thema »Kampf um Anerkennung« schon viele Meriten verdient. Damit hatte er für die TA mit ihrem Anerkennungsbedürfnis eine lesenswerte Ergänzung gebracht.

»Der arbeitende Souverän« bringt nun eine ganz interessante Verknüpfung. Das Credo ist: Arbeit und ihre Gestaltung sind total entscheidend dafür, wie Demokratie funktioniert. Menschen müssen an Arbeit beteiligt sein, im und am Arbeitsprozess mitwirken. Das gibt Erfahrungen für Demokratie.

Honneth hebt dazu in seiner Argumentation ganz verschiedene Aspekte hervor, die sehr wichtig sind. Der erste Aspekt ist natürlich die materielle, die wirtschaftliche Seite von Arbeit. Menschen müssen in der Lage sein, sich ihr Auskommen zu finanzieren, gesichert sein. Ein zweiter Aspekt, den er heranführt, ist das Thema der Psychologie. Es bedeutet, dass Arbeit Selbstwirksamkeit produziert. In dem Moment, wo ich arbeite, erstelle ich irgendwas, bin selbstwirksam. Ein zentraler Aspekt, den er für seine Argumentation nennt, besteht in der soziologischen Seite. In dem Moment, wenn ich Menschen in den Arbeitsprozess mit hineinnehme, kommen diese auch in Kontakt mit anderen Menschen, anderen Gruppen, anderen Kulturen. Gerade bei den verschiedenen Blasen, die es heute gibt in der Gesellschaft, stellt sich die Frage, wie kommen Menschen überhaupt noch zueinander, wo begegnen sie sich, wenn alle zu Hause sitzen in ihrem Homeoffice und nichts mehr miteinander zu tun haben?

Es wäre danach auch keine Lösung, wenn alle bedingungsloses Grundeinkommen hätten und es keine Begegnung der Menschen mehr gäbe. Da ist etwas sehr Zentrales, was Arbeit leistet. Wenn man die Menschen alle vereinzelt, innerhalb ihrer Blasen lässt, dann hat man den Aspekt des Zusammenkommens nicht mehr.



Das Pragmatische der Arbeit als Voraussetzung für Demokratie­prozesse
Ein weiterer Gesichtspunkt zur Arbeit ist das Pragmatische. Um Demokratie funktionieren zu lassen, braucht es auch eine bestimmte Form von Arbeit oder Arbeitsgestaltung. Das heißt, dass die Menschen tatsächlich in den Arbeitsprozessen - ist ja heute auch in den agilen und modernen Arbeitsorganisationen ein ziemlich zentraler Punkt - lernen, tatsächlich mit gemeinsamen Entscheidungsprozessen umzugehen, zu verhandeln, Einfluss zu nehmen. Man hat jetzt ja gerade wieder gehört, wie viele Großprojekte IT-mäßig wieder gescheitert sind. Das kommt ja auch nicht nur davon, dass die Leute tatsächlich dieses von der Technik her nicht hinkriegen, sondern dass sie merken, wenn die Arbeit tatsächlich so stark gesteuert ist von der IT, dann habe ich keine Beteiligungsform mehr. Da wird sich der autonome Mitarbeiter, der Gestaltungsspielraum und Freiraum haben möchte, gegen wenden. Wenn diese Komponenten zusammenkommen, dann hat man Voraussetzungen dafür, dass Leute lernen, auch in der Demokratie mitzuwirken. Es ist eine Grundlage für Demokratie, dass Gesellschaft zusammenhält und dass Menschen dann auch mitwirken können.

Kritische Wertung
Ich habe allerdings zwei Kritikpunkte am von Honneth vorgelegten Konzept. Der erste Kritikpunkt ist schon mal die Auseinanderentwicklung des Arbeitens in Unternehmen und Organisationen einerseits und dem, was im organisierten parlamentarischen Politiksystem passiert. Wenn jemand nicht aus dem Verwaltungsbereich kommt oder keine juristische Ausbildung besitzt, dann ist er Parlamentarier zweiter Klasse von vorne herein. Weil die ganzen Abläufe oder die Prozesse, die dort stattfinden mittlerweile so geregelt sind und zwar so sehr bürokratisch, ist Einflussnahme vieler Menschen kaum noch möglich. Da kann man in die Parlamente hineinschauen, wie viele Leute mit bestimmten Grundausbildungen dort sitzen und wie viele Leute aus normalen Berufen kommen oder auch Unternehmer sind. In den Parlamenten tätig ist der Berufspolitiker. Der hat sich zeitweise weit weg entwickelt von dem, was die Lebenswirklichkeit ist. So ist die Erfahrung aus Arbeitsprozessen nicht hinreichend für demokratische Prozesse. Da müssen erst einige Reformen her.
Zudem sind Arbeitsprozesse in vielen Bereichen durch die IT auch vorgegeben, dass da auch eine Transformation von Arbeitsprozessen stattfindet. Die KI kommt als besonderes Beispiel hinzu. Die Grundthese von Honneth - er hat ja die alte marxistische Grundlage auch der Kritischen Theorie in der Frankfurter Schule - ist, dass Arbeit etwas zentral Wichtiges ist, dass wir Arbeit brauchen und dass Menschen sich darin verwirklichen, beteiligen lernen und auch Gesellschaft zusammenführen. Die Frage stellt sich hier, wie sehr dies für sich anbahnende, zukünftige Arbeitswelten noch gelten wird. Dennoch finde ich »Arbeit als eine Schule der Demokratie« einen ganz wesentlichen Punkt für die Diskussion gesellschaftlicher Strukturen.

Minimalismus-Frugalismus und Arbeit
Ich bin auch ein Fan von Minimalismus und Frugalismus. Das hat auch viel damit zu tun, dass Leute eher frei arbeiten, sich nicht in Organisationen einfügen. Dennoch ich habe immer, als ich noch in meiner klinischen Arbeit war oder auch im Coaching dafür gesorgt oder Leuten empfohlen, sich wirklich in diese Prozesse der Arbeit mit anderen auch hineinzubegeben, in Teams, weil das auch für die Persönlichkeitsentwicklung eine wichtige Geschichte ist. Man entwickelt seine Persönlichkeit nicht dadurch, dass man sich zurückzieht, zu Hause sitzt und für sich was macht, selbst wenn man durch ein bedingungsloses Grundeinkommen alimentiert wäre. Das glaube ich, sollte man an der Stelle noch mal deutlich überlegen. Also Minimalismus-Frugalismus auf der einen Seite als ein sicherlich bescheidenes Leben ist für die Ökologie heute was ganz Zentrales, auch um diesen Entwicklungsoptimismus zu entwickeln. Es bezieht sich auf die positive Einstellung und den Glauben daran, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können. Optimistische Menschen neigen dazu, Schwierigkeiten als vorübergehend anzusehen und Lösungen zu suchen, anstatt sich von ihnen entmutigen zu lassen. Ein optimistischer Blick kann helfen, Herausforderungen zu bewältigen und das allgemeine Wohlbefinden zu steigern.
Literaturverzeichnis
Berne, E. (1975): Was sagen Sie, nachdem Sie »Guten Tag« gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens. München: Kindler
Charim, I. (2022): Die Qualen des Narzissmus, Wien: Paul Zsolnay Verlag
Honneth, A. (2022): Der arbeitende Souverän, Berlin: Suhrkamp.
Mountain, A. & Davidson, C. (2011): Working together, Surrey/UK: Gower.
Mohr, G. (2020): Einführung in die systemische Transaktionsanalyse von Individuum und Organisation, Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.
Mohr, G. (2022): Transaktionsanalyse für die Politik, Hamburg: Tredition.
Reckwitz, A. (2018): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Struktur­wandel der Moderne. 5. Auflage. Berlin Suhrkamp.

Günther Mohr
Dipl.-Psych. / Dipl.-Volksw., Senior Coach DBVC / Senior Coach & Supervisor BDP, Scrum-Master/ Zen-Lehrer, Psychologischer Psychotherapeut

www.mohr-coaching.de
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