artikelnovember2020

Perfekt oder schnell: Wem gehört die Welt

Autor: Armin Ziesemer – Dieser Artikel betont die Notwendigkeit der Reflexionsfähigkeit von Führungspersonen in einer Zeit, in der psychosoziale Belastungen stetig zunehmen. Die Transaktionsanalyse als psychologische Methode beschreibt mit der Idee des Antreiberverhaltens unbewusste lösungsuntaugliche Verhaltensmuster unter erhöhtem Stress.
Dieser Artikel empfiehlt, die Fantasie als Ressource in Gestaltungsprozesse zu integrieren. Dabei wirkt die Arbeit mit Märchen und Geschichten inspirierend, um neue Zugänge für heute unbekannte Lösungen in der Organisationsgestaltung und der Führungsentwicklung zu finden.
Als Entwicklungsziel für Menschen in Organisationen wird abschliessend eine «bezogene Autonomie» vorgeschlagen.
Für die Unternehmensentwicklung gelten heute langfristige, planorientierte Strategieansätze als Mittel der Wahl. Rational und perfekt sollen sie wirken. Dagegen beginnen sich zunehmend aktivitätenorientierte Methoden in die ökonomische Logik zu integrieren. In agilen Organisationen spricht man vom Konzept «Fail fast» (sinngemäss: Untaugliches frühzeitig erkennen und schnell abbrechen). Hier wird spielerisch experimentiert und das Verhalten schnell adaptiert. Dies bedingt eine Kultur, die offen mit Fehlern umzugehen und sie als Lernerfahrung zu verstehen weiss, um rasch vorwärtszukommen. Kurzum: Die Anforderungen an Organisation und Führung wandeln sich. Es scheint, die Perfekten haben ausgedient und den Schnellen gehört die Welt. Für Führungskräfte bedeutet dies, lösungsorientiertes Verhalten neu zu gestalten.
Die Transaktionsanalyse kennt «Sei perfekt!» und «Beeil dich!» als Antreiberverhalten: Von Taibi Kahler, dem amerikanischen Psychologen und Transaktionsanalytiker, stammt die Beobachtung, dass Menschen in Stresssituationen immer tiefer in ein Schlamassel geraten, während sie sich selbst als lösungsorientiert wahrnehmen1.
Als Ausdruck von Antreiberverhalten haben Sie vielleicht schon einmal beobachtet, wie Ihr Mitarbeiter mit einer Arbeit nicht weiterkommt. Termine werden immer wieder verschoben, weil das Ergebnis noch nicht perfekt genug erscheint. Nur schon das Email zur Verschiebung – ein Zweizeiler – dauert Stunden bis zum Versand, weil die richtige Formulierung gesucht wird. Oder jemand spricht sehr schnell und hört gleichzeitig nicht richtig zu, weil er in Gedanken bereits schon wieder woanders ist. Ein solch sprunghaftes Verhalten macht es schwer, wirkliche Nähe zu anderen zu erleben. Von aussen betrachtet wirkt der Anspruch, den diese Mitarbeitenden an sich selbst stellen, übermässig. Wirkliche Lösungen werden nicht gefunden. Neben einer latenten oder offenen Frustration entsteht der Wunsch, diesen Menschen zu sagen: «Befrei dich von dieser fremden, bedrängenden Macht!»
Bereits als Kind kreieren wir Gestalten für psychische Energien, mit denen wir unser Erleben ausdrücken können. Später unterstützen Modelle Erwachsene, passende Worte für Gutes wie Hinderliches im Leben zu finden. Das Volksmärchen kennt für das Gute stille Helfer. Es kennt auch die Widersacher, die die Heldin oder den Helden an der Entwicklung hindern. Antreiberverhalten ist hinderlich und zeigt sich in existenziell und emotional bedrängenden Situationen. Wir meinen, alte, früh erlernte Verhaltensstrategien lassen uns Probleme «wie früher» gut lösen. Doch funktioniert das meist schlecht. Neben einer als anstrengend erlebten oder gar verfehlten Problemlösung liegt darin eine Not. Daraus resultieren inneres Leid, Konflikte oder krankheitsbedingte Absenzen.
Coaching- und Personalentwicklungsmassnahmen unterstützen idealerweise eine integrale Selbstwerdung und fördern eine erlebte psychologische Sicherheit. Antreiberverhalten betreffen über das Verhalten hinaus, so die praktische Erfahrung, emotionale, gedankliche und entwicklungspsychologische Dimensionen. Es ist unbewusst begleitet von einer tiefen Sehnsucht, in der Welt angenommen zu sein. Coachees beschreiben diese oft mit dem Gedanken: «Wenn ich mir noch mehr Mühe geben würde, dann würde ich endlich geschätzt und anerkannt werden.»
In Organisationen werden Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» oder «Beeil dich!» belohnt und damit verstärkt. Hier bewusst hinzuschauen, birgt Potenzial in der Personalentwicklung; denn der Grat zwischen einer gesunden Leistungsbereitschaft und einem ungesund überhöhten Selbstanspruch ist schmal.
Führungspersonen sind in ihren Rollen besonders mit den eigenen Antreiberverhalten konfrontiert. Ihnen gilt für gesundheitsförderliche Organisationen in einer sich rasant verändernden Umwelt hohe Aufmerksamkeit. Sollen Führungsstile diese Aspekte integrieren, sind neue Kompetenzen und Modelle gefragt.
New Work: Fantasie als Ressource
Über den Begriff «New Work» herrscht ein uneinheitliches Verständnis. Frithjof Bergmann, der Begründer des Begriffs, versteht darunter, den Freiheitsbegriff in die Arbeit einzuführen und sich von «versklavender Lohnarbeit» loszulösen und sich selbst in der Arbeit zu verwirklichen. In einem Interview kritisiert er die heutigen Entwicklungen:
«Ich habe mir diese ‘Neue Arbeit’ schon anders vorgestellt, als sie heute zelebriert wird. Mir geht es um grundlegende Dinge, darum, dass Menschen sich nicht in Lohnarbeit, zu der sie keinen inneren Bezug haben, erschöpfen und am Lebensende feststellen, dass sie gar nicht richtig gelebt haben.»2
In der Praxis beschreibt New Work oftmals die Digitalisierung der Arbeitswelt, welche zu Effizienzgewinnen und Einsparungen von Personalkosten führt. Ich selbst schliesse mich einem Verständnis von Arbeit an, das den Menschen in die Bedeutungszumessung von Arbeit in seinem Lebensplan und unter Berücksichtigung einer digitalen Transformation miteinbezieht.
Die «neue Arbeit» führt zu einem neuen Verständnis von Arbeit. Wir suchen mehr Sinnstiftung. Dieser hohe Selbstverwirklichungswert lädt uns zunehmend ein, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. In einer Welt, die als unsicher, unberechenbar und mehrdeutig erlebt wird, wird das Selbstvertrauen in die eigene Wahrnehmung zu einem Pfeiler für Entscheidungen.
Zusätzlich entsteht in Arbeitsbeziehungen mehr Nähe und Transparenz. Die alte Arbeitswelt trennte Arbeit und Privates. Bei neuen Arbeitsmodellen verschwimmt die Work-Life-Balance, was sich auf unser soziales Miteinander auswirkt. Wir teilen in der Arbeit mehr Privates. So sehen auch Schnell & Schnell3 in der Definition von New Work, dass sie das Miteinander beim Arbeiten fordere, indem die Vermenschlichung und gemeinschaftliche Interaktion gefördert werde.
Nach Rifkin4 benötigt die Entwicklung eines neuen Arbeitsbegriffs einen «Quantensprung der menschlichen Fantasie». Fantasie gilt als Produktionskraft des Bewusstseins und als besondere Verarbeitungsform der Wirklichkeit5. Welche Geschichten wir über uns erzählen, ist von den Vorstellungen abhängig, wie wir uns selbst sehen. Beispielswiese in Beratungen mit Stellensuchenden zeigen sich gerne festgefahrene Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» und «Beeil dich!», die Dämonen gleich, Transformationen im Weg stehen. Ja. Es ist eine heldische Herausforderung, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und bewusst an den gegebenen Kontext anzupassen.
Mit der Analyse des Antreiberverhaltens und den damit verbundenen Verhaltensweisen lernen Führungspersonen ihre Beziehungen neu zu gestalten. Das Mehr an individueller Bewusstheit trägt dazu bei, dass Organisationen spontaner werden und sich gesundheitsförderlicher entwickeln.
In Organisationsentwicklungen stelle ich fest, dass der Rationalität ein hoher Stellenwert zugemessen wird. Darüber hinaus ist neben dem Erspüren der eigenen Körpersignale, dem impliziten Wissen, die Intuition «überlebenswichtigt, weil wir darüber Entscheidungssituationen vereinfachen.»6 Die Intuition gilt als Quelle der Fantasie. Ihre Akzeptanz erweitert das Blickfeld und ermöglicht treffende Eingebungen. Andererseits gebären wir mit der Fantasie wiederholt dieselben hohlen Gespenster. Wir erfahren so gelegentlich, dass wir in wiederkehrenden und stereotypen Mustern verharren.
In Transformationsprozessen entdecken wir immer wieder Muster des «Mehr desselben». Einem Hamsterrad gleich erkennen wir, wie wir uns in Antreiberverhalten festgefahren erleben. Im einen Fall kann es dauernd «nicht perfekt genug sein» oder im andern «nicht schnell genug gehen». Das Empfinden einer stimmigen, gesunden Qualität, die ein leichtes «Genau so» fühlen lässt, fehlt.
Der Entwurf fantasievoller Handlungsalternativen anstelle einer fixierten Wahrnehmung schafft Entwicklungsoptionen. Damit werden unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. Der persönliche Erlebnisraum wird vergrössert und wir nehmen differenzierter wahr. Und es lassen sich Konsequenzen gedanklich vorwegnehmen.
Begegnung: Innerer Dialog als Lernerfahrung
Verständigung lediglich auf sprachlicher Ebene zu suchen, greift zu kurz. Es geht mehr darum, einander zu verstehen, als miteinander zu reden. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung darüber, was Perfektion oder Eile für ihn bedeuten. Wir tragen Prägungen und Bilder in uns, die den Begriffen eine ureigene Bedeutung verleihen. Solche Bedeutungszumessungen abzugleichen schafft offene Lernprozesse für eine gemeinschaftliche Realität in unseren Beziehungen.
Unsere inneren Stimmen hindern uns oftmals, einen Realitätscheck zu wagen. Wir bauen in uns geistige Konstrukte, wie die Welt draussen ist und suchen danach, diese auch laufend zu bestätigen. Als soziale Wesen streben wir immer wieder neu nach Beziehungen, auf die wir existenziell angewiesen sind. Wenn wir es zulassen und offen sind, entstehen in der Begegnung Möglichkeitsräume. In solchen Momenten erfahren wir, wie wir Realität im Hier und Jetzt gemeinsam gestalten können und erweitern damit unseren Horizont. Die Bilder unserer Mitmenschen und von uns selbst verändern sich dadurch laufend.
Die stetige Erneuerung unseres Selbstbildes erfordert ein Lassen und ein Handeln im Moment. Wir selbst haben die Wahl, auf welche inneren Stimmen wir hören. Doch die Vielzahl innerer Stimmen erschwert es uns oft, spontan treffend zu wählen. Denn sobald mehrere Stimmen in unser Denken und Fühlen treten, entstehen innere Konflikte. Dadurch verlieren wir die Fähigkeit, ambivalenzfrei zu leben. Wir können diese inneren Konflikte ignorieren oder wir schöpfen daraus Lernerfahrungen.
Basierend auf der Transaktionsanalyse und gestalttherapeutischen Techniken entwickelten Mary McClure und Bob Goulding in den 60er Jahren die Neuentscheidungstherapie. Sie geht davon aus, dass der innere Dialog vergleichbar unter Feen, Hexen und Geistern als «Kopfbewohner»7 unser Selbsterleben bestimmt. Ein Teil unserer «Kopfbewohner» strebt danach, dass unsere Weltsicht dominiert und ich bestimmend bin. Ein anderer Teil dieser inneren Stimmen, sucht nach Integration und Kooperation. Aus dieser inneren Zerrissenheit heraus in ein bewusstes Handeln zu kommen, benötigt Arbeit mit und an sich selbst. Lebendig und frei zu handeln, während wir unseren inneren Dialog und unser Leiberleben bewusst wahrnehmen, setzt voraus, dass wir unsere zerstörerischen, dunklen Seiten kennen.


Von der Grandiosität zu bezogener Autonomie


Antreiberverhalten geht mit Selbstabwertungen einher. Solche destruktiven «Kopfbewohner» anerkennen wir im äussersten Fall als so gültig wie das Gesetz der Schwerkraft. Gedanken wie «Ich muss mich immer dafür entschuldigen, dass ich es schon wieder nicht vollkommen hinbekommen habe» oder «Es tut mir immer leid, dass ich zu wenig Zeit für alles habe», können zu paradoxem Erleben führen: Irgendwann geht es nicht mehr perfekter; nicht mehr schneller.
Positive oder negative Überhöhungen eines Aspekts der Realität bezeichnet die Transaktionsanalyse als Grandiosität. Wir über- oder minderbewerten Aspekte unserer Selbstwahrnehmung. So geraten wir in Situationen, in denen uns das Alltagserleben vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt. Ebenso tut es das Märchen: In einer einzigen Nacht sollen Berge abgetragen, Schlösser gebaut oder ein Diadem aus Morgentau hergestellt werden.
Was im Märchen am Ende meist gelingt, ist vorgängig oft mit grossen Aufgaben verbunden. Nicht selten steht auf das Verfehlen einer Aufgabe gar eine grausame Todesstrafe. Diese Märchenmotive drücken symbolisch die zu tragende Last solcher Selbstabwertungen aus. Sie wirken nicht lustbezogen lebendig, sondern destruktiv. Das Empfinden, nie gut genug zu sein oder nie Zeit vergeuden zu dürfen, staut den Fluss der Lebensenergie.
Hören wir sklavisch auf diese Botschaften, schränken wir uns in unseren Handlungsmöglichkeiten ein. Womöglich haben «Kopfbewohner», die lohnende Handlungsalternativen für das Hier und Jetzt anbieten, just in diesem Moment zu schweigen? Neue zu entdecken, kommt dem märchenhaften Zauber gleich, in dem Märchenheldinnen und -helden Zugang zu stillen Helfern finden. Es kommen wie bei Aschenputtel beispielsweise Tauben und legen «die rechten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen». So ist die Aufgabe wie von selbst gelöst und es reicht doch noch zum Tanz auf dem Ball im Königsschloss.
Schön wär’s. Nur: Das Volksmärchen ist in seiner Struktur selbst perfektionistisch. Es fällt ihm leicht, das Extreme zu suchen, die hohen Grade zu übertreffen oder verbotene Türen zu öffnen. Was sich immer in einem Märchen auch zu erkennen gibt: Es wird in der Fantasie wirklich und wahr; denn Märchen sind «Träger von Wirklichkeit und Dichtung»8.
Im Denken, Fühlen und intuitiven Erspüren entwickelt der Mensch als Held seiner biographischen Erzählung im Heranwachsen sein Lebensdrehbuch.
In der Beratung erfahre ich immer wieder, wie aktivierend die Fähigkeit zum magischen Denken auf das Verhalten Erwachsener wirkt. In ihm findet sich die für das Erfassen der Wirkkraft des Märchens notwendige Imaginationsfähigkeit. Märchen beschreiben den Weg, wie Not überwunden werden kann in ihrer eigenen Weise. Als zertifizierter Erzähler schätze ich seine Wirkmechanismen sehr. Sie betonen nicht Flucht oder Kampf als Leitstern zum Handeln, sondern die Perspektive wandelt sich «zum freien, bejahenden Kind»9.
Diese Energie fördert im Antreiberverhalten Ressourcen, die zu beeindruckenden Leistungen beflügeln können. So ist die Stärke von «Sei perfekt!» eine «beeindruckende Gründlichkeit und Genauigkeit»10. Menschen mit bevorzugtem Antreiberverhalten «Beeil dich!» können in kurzer Zeit sehr viel schaffen. «Sie sind besonders gut für Aufgaben geeignet, in denen Tempo und Dynamik gefragt sind» (ibid)11.
Von Grandiosität und abwertenden Verhaltensweisen in eine bezogene Autonomie zu gelangen wird im Antreiberverhalten durch den Glaubenssatz «ich bin nur OK, wenn …» verhindert. Die «bezogene Autonomie» kann als das Entwicklungsziel der Transaktionsanalyse betrachtet werden. Sie drückt das Paradox aus, dass wir uns hingeben und gleichzeitig abzugrenzen suchen. Den Glauben an diese «Nur-Wenn»-Annahme haben wir in uns oder möglicherweise in einem Gründermythos bei Organisationen verinnerlicht. In Stresssituationen greifen wir darauf zurück.
Das Lassen der «Nur-Wenn»-Annahme fällt in einem angstfreien, vertrauensvollen Umfeld leichter. Dabei sind Erlaubnisse hilfreich. Erlaubnisse ermutigen, neue Denk- und Verhaltensmuster auszubilden. Manchmal gelingt es uns, uns selbst Erlaubnisse zu geben. Für die Entwicklung einer bezogenen Autonomie kann es zusätzlich unterstützend wirken, eine Beratung oder gar therapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen. In der Literatur finden wir zahlreiche Varianten von Antithesen. Gührs und Nowak12 haben in ihrer Arbeit wesentliche gesammelt (siehe Kasten S. 5).

Erlaubnisse zu «Sei perfekt!»
- Du darfst Fehler machen, ohne dich unzulänglich zu fühlen, und kannst daraus lernen. - Du darfst dich so zeigen, wie du bist, und deinen eigenen Stil entwickeln. - Du darfst die Zusammenarbeit mit anderen geniessen.
Erlaubnisse zu «Beeil dich!»
- Du darfst dir Zeit nehmen und herausfinden, was du selbst willst. - Du darfst nachdenken, bevor du es auf deine Art tust. - Du hast das Recht auf eine eigene Meinung.
Wem gehört nun die Welt
Die zunehmende Beschleunigung wandelt Arbeitsbeziehungen und digitale Arbeitsmodelle bergen die Gefahr zur Entfremdung. Gängige Rezepte sind nach wie vor im «Mehr desselben» zu finden. Beschleunigung und Perfektion heizen unter dem Deckmantel von Begriffen wie «New Work» oder «Digitaler Transformation» Organisationen auf, was die psychosoziale Belastung erhöht. Führungspersonen tragen die Verantwortung darüber, ob sie Arbeitsbeziehungen abwertend oder wertschätzend gestalten. Dafür ist es wesentlich, welchen «Kopfbewohnern» wir das Zepter überreichen. In klassisch hierarchischen Strukturen wird der Mut zur Eigenverantwortung unterbunden und Dialog auf Augenhöhe gemieden. Der Regent sitzt auf dem Thron und die Untertanen passen sich an – das Bild eines grandiosen Herrschers. Eine Transformation hin zu einer bewussten Gestaltung konstruktiver Arbeitsbeziehungen erfordert neue Kompetenzen und Fantasie, Arbeit schliesslich als sinnstiftende Lebenszeit neu verstehen zu lernen.
Im Märchen finden sich viele Motive, solche neuen Wege zu suchen. Gerade das Bild der Königin resp. des Königs im Märchen lohnt sich, erforscht zu werden. Denn der Weg zur Herrschaft, liegt nicht darin, möglichst schnell oder perfekt zu sein. Wahres Königtum liegt darin, das eigene Leben frei, spontan, in Beziehung und unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts zu gestalten. Sich zu erlauben, sich selbst lebendig und authentisch im Hier und Jetzt auszudrücken; darin liegt der Königsweg. Auf diesem ist es eine heldische Tat, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und sich selbst als Mensch mit seinen wahren Bedürfnissen zu entdecken.
Fußnoten
1. https://inkovema.de/blog/das-antreiber-konzept-der-transaktionsanalyse-als-diagnose-und-interventionskonzept-fuer-die-mediation/ [17.07.2020]
2. https://blog.derbund.ch/berufung/index.php/35779/es-gibt-sehr-viele-arten-das-leben-zu-verpassen/ [17.07.2020]
3. Schnell, N. et Schnell, A. (2019: 16): New work hacks. Springer. Berlin.
4. Rifkin, J. (2011: 26): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert. 3. aktualisierte Auflage. Fischer Taschenbuch. Berlin.
5. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/phantasie/11488 [16.07.2020]
6. Korpiun, M. et al. (2017: 97): Vom Ich zum Wir – Warum wir ein neues Menschenbild brauchen. In Relation Publication No. 2. Books on Demand. Norderstedt.
7. Goulding, M. (2011: 17): «Kopfbewohner» oder: Wer bestimmt mein Denken?
8. durchgesehene Auflage. Junfermann. Paderborn
8. Lüthi, M. (2004: 115): Märchen. 10. Auflage. J. B. Metzler. Stuttgart. Weimar.
9. Rosenkranz, H. (2016: 50): Wie wir aus Stroh Gold machen können – Wertorientierte Erfolgsstrategien durch Gruppendynamik, Transaktionsanalyse und systemische Organisationsentwicklung. Team Dr. Rosenkranz. Gräfelfing.
10. Gührs, M. et Nowak, C. (2014: 112): Das konstruktive Gespräch – Ein Leitfaden für Beratung, Unterricht und Mitarbeiterführung. Christa Limmer. Meezen.
11. ibid: 110
12. ibid: 115 ff
Armin Ziesemer
Verfügt als zertifizierter Märchenerzähler über ein tiefes Wissen von den Wirkmechanismen der Volksmärchen. Er verbindet dieses als Betriebsökonom mit der Transaktionsanalyse (Praxiskompetenz/ unter Supervision) im Feld Organisation, in der Organisationsentwicklung und im Coaching.

www.synop-sys.ch, info@synop-sys.ch

artikeldezember2020

Wie uns ein kleiner Antreiber das Leben ganz schön schwer machen kann.

Autor: Dr. Angelika Marighetti – Wer möchte nicht perfekt sein? Auch wenn wir wissen, dass die Fotos, die in den sozialen Netzwerken gepostet werden, inszeniert und retuschiert sind: wir sind doch fasziniert von den perfekten Gesichtern, den perfekten Körpern und dem perfekten Leben, das uns da entgegen lächelt und uns auffordert, genauso zu sein. Und dann setzen wir uns hin und bearbeiten unser Selfie so lange, bis es auch perfekt aussieht. Während wir das tun, hören wir immer wieder eine kleine Stimme im Ohr die Sätze sagt wie „Komm, das geht noch besser!“ oder „Ja, schon ziemlich gut – aber da am Kinn ist die Linienführung noch nicht optimal.“ Oder „Schau mal nach, ob es mit einem anderen Filter nicht noch besser aussieht.“

Bei manchen von uns ist diese Stimme ganz schön laut und kann dazu führen, dass wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, bis wir auch den minimalen, fast unsichtbaren Farbunterschied auf der Stirn oben links ausgeglichen haben.
Einige Menschen würden uns fragen, warum wir diesen Aufwand betrieben haben, wenn das eh keinem auffällt, aber wir sind überzeugt, dass es jedem aufgefallen wäre und der Aufwand gerechtfertigt ist.
Die Stimme in unserem Ohr macht sich in vielen Situationen bemerkbar. Sie führt oft dazu, dass wir uns das Leben schwerer als nötig machen, dabei jedoch überzeugt sind, dass unser Tun notwendig und unverzichtbar ist. Die meisten von uns haben mehr als eine dieser Stimmen im Ohr – je nach Situation. Wir nennen sie unsere „Inneren Antreiber“, die seit unserer frühesten Kindheit unser Verhalten beeinflussen1. Bei den Antreibern handelt es sich um Botschaften, die uns als Kinder verbal oder nonverbal eingeschärft wurden und die sich in unseren Denk- und Verhaltensmustern widerspiegeln, ohne dass sie uns bewusst sind.
Die Transaktionsanalyse hat fünf Antreiber identifiziert, auf die wir Menschen uns in besonders herausfordernden Situationen verlassen.

Sie heißen:
„Sei stark!"
„Streng dich an!“
„Sei perfekt!“
„Sei anderen gefällig!“
beziehungsweise
„Mach’s allen Recht!““
„Beeil Dich!“
Die „Inneren Antreiber“ sind mit spezifischen Verhaltensweisen verbunden.


Im positiven Sinne motivieren und unterstützen uns diese Antreiber, unsere Ziele zu erreichen und ein glückliches Leben zu leben. Wenn einer oder mehrere von ihnen jedoch zu dominant sind, sitzen sie uns wie fiese kleine Sklaventreiber im Nacken und machen uns das Leben schwer. Denn wir können gar nicht anders, als ihnen in problematischen Situationen oder unter Stress fast automatisch zu folgen und merken nicht, dass sie uns auf Dauer nicht guttun.
Die Frage ist natürlich, wie solche Antreiber entstehen. Wie die meisten psychologischen Schulen geht auch die Transaktionsanalyse davon aus, dass wir uns unsere grundlegenden Verhaltensmuster in den ersten 3-6 Lebensjahren aneignen. Ab dem Zeitpunkt unserer Geburt wirken unsere Eltern und Bezugspersonen durch ihr bewusstes und unbewusstes Verhalten auf uns ein. Die Aktionen und Re-Aktionen unserer Eltern stellen für uns einen Referenzrahmen dar, an dem wir unser eigenes Handeln ausrichten. Wir bilden Grundüberzeugungen über uns selbst, die anderen Menschen und die Welt im Allgemeinen. Das geschieht in einem Alter, in dem wir noch nicht reflektieren können, deshalb nehmen wir sie unhinterfragt als Wahrheit an. Unsere Eltern und Bezugspersonen wollen in der Regel nur das Beste für uns, möchten, dass es uns gut geht und dass wir gut auf das Leben vorbereitet sind. Dazu loben und ermutigen sie uns und geben uns viele positive Rückmeldungen. Andererseits schärfen sie uns auch bestimmte Verhaltensweisen ein durch Sätze wie:
„Trödel doch nicht so!“
„Das geht aber noch besser!“
„Streng Dich an, dann kriegst
Du es hin!“
„Jetzt reiß Dich mal zusammen!“
„Nimm Dich nicht so wichtig!“
Oft reichen dazu auch kritische Blicke oder eine missbilligende Körpersprache.
So lernen wir als Kinder, dass wir dazugehören und geliebt werden, wenn wir diese Einschärfungen befolgen. Wenn wir das nicht tun, werden wir getadelt oder beschämt und fühlen uns unzulänglich und letztendlich minderwertig. Um diese Gefühle und die durch sie entstandenen seelischen Verletzungen zu vermeiden, machen wir uns die Anweisungen zu eigen. Dadurch entsteht in uns eine Art innere Landkarte, an der wir uns unser Leben lang orientieren. Sie bestimmt in hohem Maße unsere Wahrnehmung, unser Empfinden, Denken und Handeln, ist jedoch zum Glück durch Erfahrungen, Lernprozesse und Selbstreflexion veränder- und erweiterbar.
Um unsere innere Landkarte zu verändern oder durch eine neue zu ersetzen, ist zuallererst einmal die Selbstreflexion wichtig. Um herauszufinden, welcher meiner inneren Antreiber mir das Leben schwer macht, gibt es mehrere Möglichkeiten:

Entweder beobachte ich mich selbst und reflektiere meine
eigenen Muster
oder
ich frage mir nahestehende
Personen, welche Muster sie
an mir wahrnehmen
oder
ich mache einen online-
Antreiber-Test
oder
ich arbeite mit einem Coach
oder Therapeuten.


Noch einmal: unsere Antreiber tun uns sehr gute Dienste! Wenn sie allerdings zu „Sklaventreibern“ mutieren, ist es Zeit, hinzuschauen und ihnen diese Rolle zu entziehen!

© Pixabay Gerd Altmann
Da es in diesem Artikel um den Antreiber „Sei perfekt!“ geht, seien hier zuerst die positiven Seiten des Antreibers genannt:
Wenn bei uns dieser Antreiber gut ausgeprägt ist, motiviert er uns, mehr zu lernen und besser zu werden. Wir fordern uns zu Höchstleistungen heraus und haben einen hohen (Qualitäts-) Anspruch an uns selbst. Wir sind gut darin, die Konsequenzen unseres Handelns schon im Voraus mit zu bedenken. Wir haben einen Blick für’s Detail und bemerken mühelos Fehler oder Unstimmigkeiten. Das sind ganz wunderbare Fähigkeiten, die besonders im beruflichen Kontext sehr geschätzt werden.
So ist es sehr von Vorteil, wenn der Mechaniker, der mein Auto repariert, einen gut ausgeprägten „Sei perfekt!“-Antreiber hat, denn dann kann ich sicher sein, dass der Fehler dauerhaft behoben ist. Auch freue ich mich, wenn mein Zahnarzt einen Hang zum Perfektionismus hat, weil sich dann die Füllungen von der Farbe her optimal an die natürliche Farbe und Form anpassen.
Zeigt sich dieser Antreiber aber als Sklaventreiber, so führt er dazu, dass wir Entscheidungen verzögern und Aufgaben nicht abschließen, weil wir nicht alle Informationen haben oder nicht genug in die Tiefe gegangen sind. Auch ist unser Wunsch, detaillierte Informationen zu geben und zu erhalten, oft zeitraubend für andere. Wir wenden viel Energie für Details auf und vernachlässigen dadurch die wichtigen Aufgaben.
Für alle Beteiligten wäre es allerdings schwierig, wenn der Zahnarzt mehrere Stunden für eine einzige Füllung bräuchte, um die perfekte Farbschattierung zu erhalten. Denn dadurch würde der Patient eine Kiefersperre bekommen und die Zahnarztpraxis wäre finanziell nicht überlebensfähig.
Neben diesen sehr generellen Beispielen möchte ich Beispiele mit dem Antreiber „Sei perfekt!“ aus meiner Praxis teilen. Dabei ist auffallend, dass mir mehr weibliche Führungskräfte mit diesem Antreiber begegnen als männliche. Deshalb schildere ich ein typisches Beispiel anhand einer Coaching-Klientin.
Frau Katharina Wagner2 leitet seit 3 Jahren eine Abteilung mit 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einem internationalen Konzern. Sie ist verheiratet und hat 3 Kinder zwischen 7 und 12 Jahren. Ihr Mann ist ebenfalls Führungskraft. Frau Wagner kam zu mir ins Coaching, weil sie – wie sie es ausdrückte - ihre „individuellen Baustellen in einem geschützten Raum bearbeiten“ wollte: sie fühle sich auch nach 3 Jahren immer noch nicht souverän genug als Führungskraft. Auch hatte sie immer wieder Zweifel, ihrer Familie und da besonders den Kindern gerecht werden zu können. Zudem machten sich körperliche Symptome wie Schlafstörungen und „Gedankenkarusselle“ bemerkbar. Alles in allem wollte sie das Coaching nutzen, um zu reflektieren, ob sie die Führungsposition beibehalten oder besser abgeben sollte. Während unserer Coaching-Sitzungen wurde bald deutlich, dass Frau Wagner vom „Sei perfekt!“-Antreiber dominiert wird: Sie hat nicht nur die üblichen Führungskräfte-Schulungen besucht, sondern auch viele Fachbücher zu diesem Thema gelesen und hält sich in Bezug auf neue Entwicklungen auf dem Laufenden. Ihre Kommunikations- und Meetingkultur ist vorbildlich: sie hat mit ihren 3 direct reports regelmäßig individuelle Gespräche und Teammeetings, dazu Feedback- und Zielgespräche. Hinzu kommen zweimal jährlich Offsites zu strategischen Themen, die auch dem Teamgeist dienen. Sie kommuniziert wertschätzend und transparent – auch in schwierigen Situationen. Wenn irgend möglich, bezieht sie alle Betroffenen in Entscheidungen mit ein und erläutert die getroffenen Entscheidungen. Die Atmosphäre in der Abteilung ist ihr wichtig; sie möchte, dass sich die Leute wohl fühlen und sie achtet darauf, dass sie für die Mitarbeitenden nahbar ist. Jedes Jahr findet ein Teambildung-Event für die gesamte Abteilung statt und ihre Tür steht immer offen.
Frau Wagner setzt alles daran, den Ansprüchen, die sie durch eigene Erfahrungen und durch Fachliteratur an sich stellt, gerecht zu werden und die perfekte Führungskraft zu sein. So bereitet sie sich beispielsweise akribisch auf Gespräche und Meetings vor, besonders auf kritische Unterredungen und auf Konfliktgespräche. Für alle Unterlagen, die an den Bereichsleiter oder Vorstand gehen, macht sie höchstpersönlich die Qualitätssicherung. An manchen Abenden sitzt sie noch bis kurz vor Mitternacht vor dem PC, um sicherzustellen, dass alles berücksichtigt wird, sich keine Fehler eingeschlichen haben und auch, weil sie einige Passagen neu formuliert oder die Visualisierungen austauscht. Sie hat eine genaue Vorstellung davon, wie die Ergebnisse auszusehen haben und investiert gerne Zeit, um das zu erreichen. Denn es ist ihr wichtig, dass ihre Abteilung einen optimalen Eindruck abgibt.
11-Stunden-Tage sind für Frau Wagner eher die Regel als die Ausnahme. Deshalb übernimmt ihr Ehemann, der einen geregelten Feierabend hat, abends den Haushalt, damit sie „quality time“ mit ihren Kindern verbringen kann, wenn sie heimkommt. Trotz der hervorragenden Arbeitsteilung mit Ihrem Ehemann in Bezug auf Haushalt und Kinder hat Frau Wagner den Anspruch, eine perfekte Mutter zu sein. Deshalb stellt sie sich auch nach einem langen Arbeitstag nach Mitternacht noch in die Küche, um ihrem Sohn einen Geburtstagskuchen zu backen. Am Wochenende bastelt oder backt sie mit den Kindern oder näht für sie Halloween-Kostüme, denn die müssen originell und selbstgemacht sein.
Mit mir als Sparringspartnerin reflektiert Frau Wagner im Coaching diese Situationen.
Dabei wird schnell deutlich, dass der „Sei perfekt!“-Antreiber bei ihr die Rolle des Sklaventreibers übernimmt. Intellektuell begreift Frau Wagner sehr rasch, dass dieser Antreiber ihr das Leben schwer macht. Gemeinsam erarbeiten wir Strategien auf der sachlich-fachlichen sowie auf der emotionalen Ebene, um ihn zu entschärfen. Dazu gehört einerseits, dass sich Frau Wagner bewusst macht, wie sie ihre Rolle als Abteilungsleiterin leben will. Welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten gehören wirklich dazu und welche wurden von ihrem Antreiber diktiert? Welches ist ihr Führungsverständnis und wie kann sie das authentisch und ohne Selbstausbeutung leben?
Sie definiert ihre 5 Prinzipien guter Führung und entschlackt ihre to-do-Liste. Das gelingt, indem bei jedem Punkt hinterfragt wird, ob er wirklich notwendig ist und – wenn ja – ob sie ihn delegieren kann. Ihr Zeitmanagement wird rigoros hinterfragt und entschleunigt. Pausen und regelmäßige Termine der gedanklichen Reflexion / Grundsatzüberlegungen / Besinnung werden feste Bestandteile ihres Kalenders. So wird der Fokus auf das Wichtige gelegt und durch die regelmäßige Reflexion auch dort gehalten. Ihre „Hausaufgabe“ besteht in den ersten Monaten darin, 2x pro Woche um 17 Uhr Feierabend zu machen. Diese sachlich-fachlichen Punkte sind für Frau Wagner nur mittlere Herausforderungen.
Es ist Frau Wagner durchaus bewusst, dass kein Mensch „perfekt“ sein kann und dass Fehler passieren. Beides gesteht sie anderen Menschen ohne weiteres zu, doch in Bezug auf sich selbst kann sie das nicht gelten lassen. Sie stellt an sich weit höhere Ansprüche als an ihre Mitmenschen. Denn der wahre Knackpunkt ist die innere Gefühlslage, die sich bei ihr einstellt, wenn der Antreiber „Sei perfekt!“ nicht bedient wird. Dann kommen Ängste und Befürchtungen hoch. Gefühle tiefen Ungenügens und der Wertlosigkeit stellen sich ein, wenn die selbst (zu hoch) gelegte Messlatte nicht erreicht wird. Als Konsequenz daraus stellt sie dann alles in Frage: trägt ihre motivierende Ansprache einem Mitarbeitenden gegenüber keine Früchte, stellt sie in Frage, ob sie eine gute Führungskraft ist. Kommt Kritik vom Vorstand an der Performance der Abteilung, bezweifelt sie, für die Rolle der Abteilungsleiterin überhaupt geeignet zu sein. Selbst wenn diese Momente meist nur kurz dauern, so sind sie doch energieraubend und schwächen das Selbstwertgefühl.
Wie geht das also, den inneren Antreiber zu entmachten und zu fühlen, dass wir human BEINGS (und nicht Human Doings) sind?
Ein erster Schritt ist, sich klar zu machen, welche positiven Aspekte und welchen Nutzen der Antreiber in unserer Kindheit hatte und welche er auch heute noch hat.
Als zweiten Schritt nutze ich gerne die Methode des Inneren Teams3, um den Ängsten und Befürchtungen eine Stimme und ein Gesicht zu verleihen und alle zu Wort kommen zu lassen.
Anschließend wird der Sklaventreiber nach und nach entmachtet, indem Frau Wagner sich auf ihre Situation zugeschnittene Erlaubnisse formuliert, die eine emotionale Reaktion bei ihr hervorrufen. Um das noch zu verstärken, hat sie sich ein Symbol gewählt, das sie an ihre Erlaubnisse erinnert. Inzwischen geht Frau Wagner gelassen und entspannt mit ihrem Antreiber um und nutzt seine motivierende Kraft, ohne sich versklaven zu lassen.
© Pixabay John Hain
Ganz grundsätzlich sei folgendes gesagt:
Wir können unsere Antreiber nicht einfach löschen oder ignorieren. Wir können sie jedoch so abmildern, dass sie wieder zu einer motivierenden Energie für uns werden. Dazu bedarf es Erlaubnisse, die wir ihnen wie einen Gegenzauber entgegenhalten.
Es gibt allgemein formulierte Erlaubnisse wie
„Ich bin gut genug!“
„Gut ist gut genug!“
„Ich bin wertvoll und liebenswert!“
„Ich darf Fehler machen!“
„Besser erledigt, als perfekt!“
„Ich habe alles, was ich brauche, um diese Aufgabe zu erledigen!“
Diese Erlaubnisse entlasten uns vom Druck, immer noch besser sein zu müssen. Wenn wir uns diese Erlaubnis in jeder Situation, in der uns unser Sklaventreiber drückt, geben, schwächen wir nach und nach seinen Einfluss. Doch oft scheint uns diese Erlaubnis nicht ganz glaubhaft und wir zweifeln daran, dass das wirklich stimmt. Wirksamer ist es meiner Erfahrung nach, die allgemeine Erlaubnis durch einen Bezug auf die konkrete Situation zu ergänzen. Das könnte dann z.B. so lauten:
„Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich erlaube mir jetzt, den Bericht abzuschließen, auch wenn noch Informationen fehlen. Denn es ist wichtiger, den Bericht fertigzustellen, als perfekt zu sein.“
Oder:
„Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich bin eine gute Mutter, auch wenn ich den Geburtstagskuchen kaufe.“
Oder:
„Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich erlaube mir, den Workshop zu moderieren, auch wenn mir noch die Schulung für das Schönschreiben am Flipchart fehlt.“
Oder
„Ich bin wertvoll und liebenswert, so wie ich bin! Auch wenn ich grade den Kaschmirpullover meiner Frau in der Kochwäsche mitgewaschen habe. Ich nehme das zum Anlass, nächstes Mal jedes einzelne Wäschestück in die Hand zu nehmen, bevor ich es in die Maschine lege.“
Oder
„Ich bin ein guter Mitarbeiter, so wie ich bin! Auch wenn ich vorhin den falschen Bericht an meinen Chef geschickt habe. Fehler sind Entwicklungshelfer.“
Oder
Durch diese individuelle Anpassung gebe ich mir gleichzeitig eine auf mein ganzes Sein bezogene Affirmation und eine spezifische, konkrete Erlaubnis. Die Erlaubnis-Sätze sollen positiv formuliert sein (also ohne die Wörter „nicht“, „kein“ etc.) und wir können sie mit einer kleinen Geste verstärken: die rechte Hand kreisen wir langsam oberhalb unseres Herzens in Richtung Schulter, atmen dabei tief in den Bauch und sprechen unsere Erlaubnis (laut oder leise) 3 Mal hintereinander. Das Kreisen der Hand beruhigt uns und die Worte dringen tiefer in uns ein. Nach und nach nimmt der Sklaventreiber dann wieder seine normale Form und Größe an und wird zu einer Energie, die uns motiviert und fordert, ohne uns zu Getriebenen zu machen.
Neben den Erlaubnissen lade ich meine Coaching- Klientinnen und Klienten ein, sich Symbole oder Bilder zu wählen, die sie an ihre Erlaubnisse erinnern oder die den Antreiber veranschaulichen. Bei „Mach es allen Recht!“ kann z.B. die Figur von Pippi Langstrumpf als Gegenbild dienen, der es egal ist, was Andere von ihr halten.
Dem „Sei perfekt!“ Antreiber könnten der liebenswert unperfekte „Donald Duck“, Forrest Gump oder Bridget Jones entgegengesetzt werden.
Manchmal passen auch ein Symbol aus der Natur oder eine geometrische Figur besser als Figuren oder Menschen. Nur wir selbst können wissen, was am besten passt.
In den letzten Jahren ist verstärkt zu beobachten, dass der Antreiber „Sei perfekt!“ immer größeren Raum in unserer Gesellschaft einnimmt. Der Druck dieses Antreibers ist überall spürbar und wird durch unsere technischen Möglichkeiten, die weltweite Vergleiche ermöglichen, noch verstärkt. Der Wunsch, ein „perfektes“ Äußeres zu haben oder zu präsentieren, zeigt sich sowohl in den durch Styling oder Schönheits-OPs optimierten Gesichtern und Körpern, als auch an den Fotos, die in den sozialen Netzwerken gepostet werden. Make-up-Spezialisten bringen uns bei, uns so zu schminken, dass unser Gesicht dem angesagten Schönheitsideal gleicht. Photoshop und Snapchat sorgen für den Rest.
Trainer weisen Männern den Weg zum ultimativen Sixpack und Schönheits-OPs nehmen weltweit bei allen Geschlechtern zu. Junge Mütter wetteifern, schon kurze Zeit nach der Geburt ihren „After Baby Body“ präsentieren zu können; Männer zeigen ihren durchtrainierten Körper in enganliegenden Hemden. Das perfekte Äußere – egal, ob es sich um den eigenen Körper, einen Kuchen oder die Wohnungseinrichtung handelt – soll auf die „innere Perfektion“ verweisen: der After Baby Body und das enge Hemd versinnbildlichen die Fähigkeit zur Disziplin. Die perfekte Wohnung, das perfekte Haus sind Zeichen für die perfekte Familie(nharmonie).
Der Sklaventreiber „Sei perfekt!“ führt dazu, dass wir uns permanent vergleichen und uns unter Druck setzen: alles könnte immer noch besser sein… Deshalb begreifen wir Fehler als persönliches Versagen und versuchen, alles, was nicht diesem Bild entspricht, zu verstecken oder – zumindest auf den geposteten Fotos – zu korrigieren.
„Sei perfekt!“ ist der Antreiber, der uns unterstützt, die beste Version unserer selbst zu werden. Nutzen wir seine motivierende Energie, ohne uns von ihr versklaven zu lassen!
Fußnoten
1. Das Konzept der „inneren Antreiber“ geht auf die Transaktionsanalyse zurück, die Eric Berne (1910-1970) begründet hat.
2. Name geändert.
3. nach Schulz von Thun
Dr. Angelika Marighetti
Marighetti Coaching & Consulting, Beraterin und Coach mit den Schwerpunkten,
Führung, (agile) Transformation / Change Management, Teamentwicklung, Kommunikation
Aus- und Weiterbildungen: Agile Culture Coach bei Synnecta, Köln – Kommunikationspsychologie / Kommunikationsberatung beim Schulz-von-Thun-Institut, Hamburg – Familien- und Systemaufstellungen bei Angelika Glöckner, Bammental
Diverse interne Weiterbildungen als angestellte Unternehmensberaterin – Beraterin und Coach beim Institut für Transaktionsanalyse und Tiefenpsychologie, Kassel. – R.O.M.P.C.-Beraterin und Coach beim Institut für Transaktionsanalyse und Tiefenpsychologie, Kassel.

www.consulting-marighetti.de | marighetti@consulting-marighetti.de