artikeldezember2020

Wie uns ein kleiner Antreiber das Leben ganz schön schwer machen kann.

Autor: Dr. Angelika Marighetti – Wer möchte nicht perfekt sein? Auch wenn wir wissen, dass die Fotos, die in den sozialen Netzwerken gepostet werden, inszeniert und retuschiert sind: wir sind doch fasziniert von den perfekten Gesichtern, den perfekten Körpern und dem perfekten Leben, das uns da entgegen lächelt und uns auffordert, genauso zu sein. Und dann setzen wir uns hin und bearbeiten unser Selfie so lange, bis es auch perfekt aussieht. Während wir das tun, hören wir immer wieder eine kleine Stimme im Ohr die Sätze sagt wie „Komm, das geht noch besser!“ oder „Ja, schon ziemlich gut – aber da am Kinn ist die Linienführung noch nicht optimal.“ Oder „Schau mal nach, ob es mit einem anderen Filter nicht noch besser aussieht.“

Bei manchen von uns ist diese Stimme ganz schön laut und kann dazu führen, dass wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, bis wir auch den minimalen, fast unsichtbaren Farbunterschied auf der Stirn oben links ausgeglichen haben.
Einige Menschen würden uns fragen, warum wir diesen Aufwand betrieben haben, wenn das eh keinem auffällt, aber wir sind überzeugt, dass es jedem aufgefallen wäre und der Aufwand gerechtfertigt ist.
Die Stimme in unserem Ohr macht sich in vielen Situationen bemerkbar. Sie führt oft dazu, dass wir uns das Leben schwerer als nötig machen, dabei jedoch überzeugt sind, dass unser Tun notwendig und unverzichtbar ist. Die meisten von uns haben mehr als eine dieser Stimmen im Ohr – je nach Situation. Wir nennen sie unsere „Inneren Antreiber“, die seit unserer frühesten Kindheit unser Verhalten beeinflussen1. Bei den Antreibern handelt es sich um Botschaften, die uns als Kinder verbal oder nonverbal eingeschärft wurden und die sich in unseren Denk- und Verhaltensmustern widerspiegeln, ohne dass sie uns bewusst sind.
Die Transaktionsanalyse hat fünf Antreiber identifiziert, auf die wir Menschen uns in besonders herausfordernden Situationen verlassen.

Sie heißen:
„Sei stark!"
„Streng dich an!“
„Sei perfekt!“
„Sei anderen gefällig!“
beziehungsweise
„Mach’s allen Recht!““
„Beeil Dich!“
Die „Inneren Antreiber“ sind mit spezifischen Verhaltensweisen verbunden.


Im positiven Sinne motivieren und unterstützen uns diese Antreiber, unsere Ziele zu erreichen und ein glückliches Leben zu leben. Wenn einer oder mehrere von ihnen jedoch zu dominant sind, sitzen sie uns wie fiese kleine Sklaventreiber im Nacken und machen uns das Leben schwer. Denn wir können gar nicht anders, als ihnen in problematischen Situationen oder unter Stress fast automatisch zu folgen und merken nicht, dass sie uns auf Dauer nicht guttun.
Die Frage ist natürlich, wie solche Antreiber entstehen. Wie die meisten psychologischen Schulen geht auch die Transaktionsanalyse davon aus, dass wir uns unsere grundlegenden Verhaltensmuster in den ersten 3-6 Lebensjahren aneignen. Ab dem Zeitpunkt unserer Geburt wirken unsere Eltern und Bezugspersonen durch ihr bewusstes und unbewusstes Verhalten auf uns ein. Die Aktionen und Re-Aktionen unserer Eltern stellen für uns einen Referenzrahmen dar, an dem wir unser eigenes Handeln ausrichten. Wir bilden Grundüberzeugungen über uns selbst, die anderen Menschen und die Welt im Allgemeinen. Das geschieht in einem Alter, in dem wir noch nicht reflektieren können, deshalb nehmen wir sie unhinterfragt als Wahrheit an. Unsere Eltern und Bezugspersonen wollen in der Regel nur das Beste für uns, möchten, dass es uns gut geht und dass wir gut auf das Leben vorbereitet sind. Dazu loben und ermutigen sie uns und geben uns viele positive Rückmeldungen. Andererseits schärfen sie uns auch bestimmte Verhaltensweisen ein durch Sätze wie:
„Trödel doch nicht so!“
„Das geht aber noch besser!“
„Streng Dich an, dann kriegst
Du es hin!“
„Jetzt reiß Dich mal zusammen!“
„Nimm Dich nicht so wichtig!“
Oft reichen dazu auch kritische Blicke oder eine missbilligende Körpersprache.
So lernen wir als Kinder, dass wir dazugehören und geliebt werden, wenn wir diese Einschärfungen befolgen. Wenn wir das nicht tun, werden wir getadelt oder beschämt und fühlen uns unzulänglich und letztendlich minderwertig. Um diese Gefühle und die durch sie entstandenen seelischen Verletzungen zu vermeiden, machen wir uns die Anweisungen zu eigen. Dadurch entsteht in uns eine Art innere Landkarte, an der wir uns unser Leben lang orientieren. Sie bestimmt in hohem Maße unsere Wahrnehmung, unser Empfinden, Denken und Handeln, ist jedoch zum Glück durch Erfahrungen, Lernprozesse und Selbstreflexion veränder- und erweiterbar.
Um unsere innere Landkarte zu verändern oder durch eine neue zu ersetzen, ist zuallererst einmal die Selbstreflexion wichtig. Um herauszufinden, welcher meiner inneren Antreiber mir das Leben schwer macht, gibt es mehrere Möglichkeiten:

Entweder beobachte ich mich selbst und reflektiere meine
eigenen Muster
oder
ich frage mir nahestehende
Personen, welche Muster sie
an mir wahrnehmen
oder
ich mache einen online-
Antreiber-Test
oder
ich arbeite mit einem Coach
oder Therapeuten.


Noch einmal: unsere Antreiber tun uns sehr gute Dienste! Wenn sie allerdings zu „Sklaventreibern“ mutieren, ist es Zeit, hinzuschauen und ihnen diese Rolle zu entziehen!

© Pixabay Gerd Altmann
Da es in diesem Artikel um den Antreiber „Sei perfekt!“ geht, seien hier zuerst die positiven Seiten des Antreibers genannt:
Wenn bei uns dieser Antreiber gut ausgeprägt ist, motiviert er uns, mehr zu lernen und besser zu werden. Wir fordern uns zu Höchstleistungen heraus und haben einen hohen (Qualitäts-) Anspruch an uns selbst. Wir sind gut darin, die Konsequenzen unseres Handelns schon im Voraus mit zu bedenken. Wir haben einen Blick für’s Detail und bemerken mühelos Fehler oder Unstimmigkeiten. Das sind ganz wunderbare Fähigkeiten, die besonders im beruflichen Kontext sehr geschätzt werden.
So ist es sehr von Vorteil, wenn der Mechaniker, der mein Auto repariert, einen gut ausgeprägten „Sei perfekt!“-Antreiber hat, denn dann kann ich sicher sein, dass der Fehler dauerhaft behoben ist. Auch freue ich mich, wenn mein Zahnarzt einen Hang zum Perfektionismus hat, weil sich dann die Füllungen von der Farbe her optimal an die natürliche Farbe und Form anpassen.
Zeigt sich dieser Antreiber aber als Sklaventreiber, so führt er dazu, dass wir Entscheidungen verzögern und Aufgaben nicht abschließen, weil wir nicht alle Informationen haben oder nicht genug in die Tiefe gegangen sind. Auch ist unser Wunsch, detaillierte Informationen zu geben und zu erhalten, oft zeitraubend für andere. Wir wenden viel Energie für Details auf und vernachlässigen dadurch die wichtigen Aufgaben.
Für alle Beteiligten wäre es allerdings schwierig, wenn der Zahnarzt mehrere Stunden für eine einzige Füllung bräuchte, um die perfekte Farbschattierung zu erhalten. Denn dadurch würde der Patient eine Kiefersperre bekommen und die Zahnarztpraxis wäre finanziell nicht überlebensfähig.
Neben diesen sehr generellen Beispielen möchte ich Beispiele mit dem Antreiber „Sei perfekt!“ aus meiner Praxis teilen. Dabei ist auffallend, dass mir mehr weibliche Führungskräfte mit diesem Antreiber begegnen als männliche. Deshalb schildere ich ein typisches Beispiel anhand einer Coaching-Klientin.
Frau Katharina Wagner2 leitet seit 3 Jahren eine Abteilung mit 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einem internationalen Konzern. Sie ist verheiratet und hat 3 Kinder zwischen 7 und 12 Jahren. Ihr Mann ist ebenfalls Führungskraft. Frau Wagner kam zu mir ins Coaching, weil sie – wie sie es ausdrückte - ihre „individuellen Baustellen in einem geschützten Raum bearbeiten“ wollte: sie fühle sich auch nach 3 Jahren immer noch nicht souverän genug als Führungskraft. Auch hatte sie immer wieder Zweifel, ihrer Familie und da besonders den Kindern gerecht werden zu können. Zudem machten sich körperliche Symptome wie Schlafstörungen und „Gedankenkarusselle“ bemerkbar. Alles in allem wollte sie das Coaching nutzen, um zu reflektieren, ob sie die Führungsposition beibehalten oder besser abgeben sollte. Während unserer Coaching-Sitzungen wurde bald deutlich, dass Frau Wagner vom „Sei perfekt!“-Antreiber dominiert wird: Sie hat nicht nur die üblichen Führungskräfte-Schulungen besucht, sondern auch viele Fachbücher zu diesem Thema gelesen und hält sich in Bezug auf neue Entwicklungen auf dem Laufenden. Ihre Kommunikations- und Meetingkultur ist vorbildlich: sie hat mit ihren 3 direct reports regelmäßig individuelle Gespräche und Teammeetings, dazu Feedback- und Zielgespräche. Hinzu kommen zweimal jährlich Offsites zu strategischen Themen, die auch dem Teamgeist dienen. Sie kommuniziert wertschätzend und transparent – auch in schwierigen Situationen. Wenn irgend möglich, bezieht sie alle Betroffenen in Entscheidungen mit ein und erläutert die getroffenen Entscheidungen. Die Atmosphäre in der Abteilung ist ihr wichtig; sie möchte, dass sich die Leute wohl fühlen und sie achtet darauf, dass sie für die Mitarbeitenden nahbar ist. Jedes Jahr findet ein Teambildung-Event für die gesamte Abteilung statt und ihre Tür steht immer offen.
Frau Wagner setzt alles daran, den Ansprüchen, die sie durch eigene Erfahrungen und durch Fachliteratur an sich stellt, gerecht zu werden und die perfekte Führungskraft zu sein. So bereitet sie sich beispielsweise akribisch auf Gespräche und Meetings vor, besonders auf kritische Unterredungen und auf Konfliktgespräche. Für alle Unterlagen, die an den Bereichsleiter oder Vorstand gehen, macht sie höchstpersönlich die Qualitätssicherung. An manchen Abenden sitzt sie noch bis kurz vor Mitternacht vor dem PC, um sicherzustellen, dass alles berücksichtigt wird, sich keine Fehler eingeschlichen haben und auch, weil sie einige Passagen neu formuliert oder die Visualisierungen austauscht. Sie hat eine genaue Vorstellung davon, wie die Ergebnisse auszusehen haben und investiert gerne Zeit, um das zu erreichen. Denn es ist ihr wichtig, dass ihre Abteilung einen optimalen Eindruck abgibt.
11-Stunden-Tage sind für Frau Wagner eher die Regel als die Ausnahme. Deshalb übernimmt ihr Ehemann, der einen geregelten Feierabend hat, abends den Haushalt, damit sie „quality time“ mit ihren Kindern verbringen kann, wenn sie heimkommt. Trotz der hervorragenden Arbeitsteilung mit Ihrem Ehemann in Bezug auf Haushalt und Kinder hat Frau Wagner den Anspruch, eine perfekte Mutter zu sein. Deshalb stellt sie sich auch nach einem langen Arbeitstag nach Mitternacht noch in die Küche, um ihrem Sohn einen Geburtstagskuchen zu backen. Am Wochenende bastelt oder backt sie mit den Kindern oder näht für sie Halloween-Kostüme, denn die müssen originell und selbstgemacht sein.
Mit mir als Sparringspartnerin reflektiert Frau Wagner im Coaching diese Situationen.
Dabei wird schnell deutlich, dass der „Sei perfekt!“-Antreiber bei ihr die Rolle des Sklaventreibers übernimmt. Intellektuell begreift Frau Wagner sehr rasch, dass dieser Antreiber ihr das Leben schwer macht. Gemeinsam erarbeiten wir Strategien auf der sachlich-fachlichen sowie auf der emotionalen Ebene, um ihn zu entschärfen. Dazu gehört einerseits, dass sich Frau Wagner bewusst macht, wie sie ihre Rolle als Abteilungsleiterin leben will. Welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten gehören wirklich dazu und welche wurden von ihrem Antreiber diktiert? Welches ist ihr Führungsverständnis und wie kann sie das authentisch und ohne Selbstausbeutung leben?
Sie definiert ihre 5 Prinzipien guter Führung und entschlackt ihre to-do-Liste. Das gelingt, indem bei jedem Punkt hinterfragt wird, ob er wirklich notwendig ist und – wenn ja – ob sie ihn delegieren kann. Ihr Zeitmanagement wird rigoros hinterfragt und entschleunigt. Pausen und regelmäßige Termine der gedanklichen Reflexion / Grundsatzüberlegungen / Besinnung werden feste Bestandteile ihres Kalenders. So wird der Fokus auf das Wichtige gelegt und durch die regelmäßige Reflexion auch dort gehalten. Ihre „Hausaufgabe“ besteht in den ersten Monaten darin, 2x pro Woche um 17 Uhr Feierabend zu machen. Diese sachlich-fachlichen Punkte sind für Frau Wagner nur mittlere Herausforderungen.
Es ist Frau Wagner durchaus bewusst, dass kein Mensch „perfekt“ sein kann und dass Fehler passieren. Beides gesteht sie anderen Menschen ohne weiteres zu, doch in Bezug auf sich selbst kann sie das nicht gelten lassen. Sie stellt an sich weit höhere Ansprüche als an ihre Mitmenschen. Denn der wahre Knackpunkt ist die innere Gefühlslage, die sich bei ihr einstellt, wenn der Antreiber „Sei perfekt!“ nicht bedient wird. Dann kommen Ängste und Befürchtungen hoch. Gefühle tiefen Ungenügens und der Wertlosigkeit stellen sich ein, wenn die selbst (zu hoch) gelegte Messlatte nicht erreicht wird. Als Konsequenz daraus stellt sie dann alles in Frage: trägt ihre motivierende Ansprache einem Mitarbeitenden gegenüber keine Früchte, stellt sie in Frage, ob sie eine gute Führungskraft ist. Kommt Kritik vom Vorstand an der Performance der Abteilung, bezweifelt sie, für die Rolle der Abteilungsleiterin überhaupt geeignet zu sein. Selbst wenn diese Momente meist nur kurz dauern, so sind sie doch energieraubend und schwächen das Selbstwertgefühl.
Wie geht das also, den inneren Antreiber zu entmachten und zu fühlen, dass wir human BEINGS (und nicht Human Doings) sind?
Ein erster Schritt ist, sich klar zu machen, welche positiven Aspekte und welchen Nutzen der Antreiber in unserer Kindheit hatte und welche er auch heute noch hat.
Als zweiten Schritt nutze ich gerne die Methode des Inneren Teams3, um den Ängsten und Befürchtungen eine Stimme und ein Gesicht zu verleihen und alle zu Wort kommen zu lassen.
Anschließend wird der Sklaventreiber nach und nach entmachtet, indem Frau Wagner sich auf ihre Situation zugeschnittene Erlaubnisse formuliert, die eine emotionale Reaktion bei ihr hervorrufen. Um das noch zu verstärken, hat sie sich ein Symbol gewählt, das sie an ihre Erlaubnisse erinnert. Inzwischen geht Frau Wagner gelassen und entspannt mit ihrem Antreiber um und nutzt seine motivierende Kraft, ohne sich versklaven zu lassen.
© Pixabay John Hain
Ganz grundsätzlich sei folgendes gesagt:
Wir können unsere Antreiber nicht einfach löschen oder ignorieren. Wir können sie jedoch so abmildern, dass sie wieder zu einer motivierenden Energie für uns werden. Dazu bedarf es Erlaubnisse, die wir ihnen wie einen Gegenzauber entgegenhalten.
Es gibt allgemein formulierte Erlaubnisse wie
„Ich bin gut genug!“
„Gut ist gut genug!“
„Ich bin wertvoll und liebenswert!“
„Ich darf Fehler machen!“
„Besser erledigt, als perfekt!“
„Ich habe alles, was ich brauche, um diese Aufgabe zu erledigen!“
Diese Erlaubnisse entlasten uns vom Druck, immer noch besser sein zu müssen. Wenn wir uns diese Erlaubnis in jeder Situation, in der uns unser Sklaventreiber drückt, geben, schwächen wir nach und nach seinen Einfluss. Doch oft scheint uns diese Erlaubnis nicht ganz glaubhaft und wir zweifeln daran, dass das wirklich stimmt. Wirksamer ist es meiner Erfahrung nach, die allgemeine Erlaubnis durch einen Bezug auf die konkrete Situation zu ergänzen. Das könnte dann z.B. so lauten:
„Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich erlaube mir jetzt, den Bericht abzuschließen, auch wenn noch Informationen fehlen. Denn es ist wichtiger, den Bericht fertigzustellen, als perfekt zu sein.“
Oder:
„Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich bin eine gute Mutter, auch wenn ich den Geburtstagskuchen kaufe.“
Oder:
„Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich erlaube mir, den Workshop zu moderieren, auch wenn mir noch die Schulung für das Schönschreiben am Flipchart fehlt.“
Oder
„Ich bin wertvoll und liebenswert, so wie ich bin! Auch wenn ich grade den Kaschmirpullover meiner Frau in der Kochwäsche mitgewaschen habe. Ich nehme das zum Anlass, nächstes Mal jedes einzelne Wäschestück in die Hand zu nehmen, bevor ich es in die Maschine lege.“
Oder
„Ich bin ein guter Mitarbeiter, so wie ich bin! Auch wenn ich vorhin den falschen Bericht an meinen Chef geschickt habe. Fehler sind Entwicklungshelfer.“
Oder
Durch diese individuelle Anpassung gebe ich mir gleichzeitig eine auf mein ganzes Sein bezogene Affirmation und eine spezifische, konkrete Erlaubnis. Die Erlaubnis-Sätze sollen positiv formuliert sein (also ohne die Wörter „nicht“, „kein“ etc.) und wir können sie mit einer kleinen Geste verstärken: die rechte Hand kreisen wir langsam oberhalb unseres Herzens in Richtung Schulter, atmen dabei tief in den Bauch und sprechen unsere Erlaubnis (laut oder leise) 3 Mal hintereinander. Das Kreisen der Hand beruhigt uns und die Worte dringen tiefer in uns ein. Nach und nach nimmt der Sklaventreiber dann wieder seine normale Form und Größe an und wird zu einer Energie, die uns motiviert und fordert, ohne uns zu Getriebenen zu machen.
Neben den Erlaubnissen lade ich meine Coaching- Klientinnen und Klienten ein, sich Symbole oder Bilder zu wählen, die sie an ihre Erlaubnisse erinnern oder die den Antreiber veranschaulichen. Bei „Mach es allen Recht!“ kann z.B. die Figur von Pippi Langstrumpf als Gegenbild dienen, der es egal ist, was Andere von ihr halten.
Dem „Sei perfekt!“ Antreiber könnten der liebenswert unperfekte „Donald Duck“, Forrest Gump oder Bridget Jones entgegengesetzt werden.
Manchmal passen auch ein Symbol aus der Natur oder eine geometrische Figur besser als Figuren oder Menschen. Nur wir selbst können wissen, was am besten passt.
In den letzten Jahren ist verstärkt zu beobachten, dass der Antreiber „Sei perfekt!“ immer größeren Raum in unserer Gesellschaft einnimmt. Der Druck dieses Antreibers ist überall spürbar und wird durch unsere technischen Möglichkeiten, die weltweite Vergleiche ermöglichen, noch verstärkt. Der Wunsch, ein „perfektes“ Äußeres zu haben oder zu präsentieren, zeigt sich sowohl in den durch Styling oder Schönheits-OPs optimierten Gesichtern und Körpern, als auch an den Fotos, die in den sozialen Netzwerken gepostet werden. Make-up-Spezialisten bringen uns bei, uns so zu schminken, dass unser Gesicht dem angesagten Schönheitsideal gleicht. Photoshop und Snapchat sorgen für den Rest.
Trainer weisen Männern den Weg zum ultimativen Sixpack und Schönheits-OPs nehmen weltweit bei allen Geschlechtern zu. Junge Mütter wetteifern, schon kurze Zeit nach der Geburt ihren „After Baby Body“ präsentieren zu können; Männer zeigen ihren durchtrainierten Körper in enganliegenden Hemden. Das perfekte Äußere – egal, ob es sich um den eigenen Körper, einen Kuchen oder die Wohnungseinrichtung handelt – soll auf die „innere Perfektion“ verweisen: der After Baby Body und das enge Hemd versinnbildlichen die Fähigkeit zur Disziplin. Die perfekte Wohnung, das perfekte Haus sind Zeichen für die perfekte Familie(nharmonie).
Der Sklaventreiber „Sei perfekt!“ führt dazu, dass wir uns permanent vergleichen und uns unter Druck setzen: alles könnte immer noch besser sein… Deshalb begreifen wir Fehler als persönliches Versagen und versuchen, alles, was nicht diesem Bild entspricht, zu verstecken oder – zumindest auf den geposteten Fotos – zu korrigieren.
„Sei perfekt!“ ist der Antreiber, der uns unterstützt, die beste Version unserer selbst zu werden. Nutzen wir seine motivierende Energie, ohne uns von ihr versklaven zu lassen!
Fußnoten
1. Das Konzept der „inneren Antreiber“ geht auf die Transaktionsanalyse zurück, die Eric Berne (1910-1970) begründet hat.
2. Name geändert.
3. nach Schulz von Thun
Dr. Angelika Marighetti
Marighetti Coaching & Consulting, Beraterin und Coach mit den Schwerpunkten,
Führung, (agile) Transformation / Change Management, Teamentwicklung, Kommunikation
Aus- und Weiterbildungen: Agile Culture Coach bei Synnecta, Köln – Kommunikationspsychologie / Kommunikationsberatung beim Schulz-von-Thun-Institut, Hamburg – Familien- und Systemaufstellungen bei Angelika Glöckner, Bammental
Diverse interne Weiterbildungen als angestellte Unternehmensberaterin – Beraterin und Coach beim Institut für Transaktionsanalyse und Tiefenpsychologie, Kassel. – R.O.M.P.C.-Beraterin und Coach beim Institut für Transaktionsanalyse und Tiefenpsychologie, Kassel.

www.consulting-marighetti.de | marighetti@consulting-marighetti.de

artikeljanuar2021

Eine warme WohlFühl-Dusche statt perfekt sein zu müssen -
vom umgang mit einem fiesen antreiber

Autorin: Monique Naef – Vater: «Beeil dich, wir sind spät dran!» – Nora: «Ich bin noch müde, ich mag nicht.» – Mutter: «Sei stark und mach vorwärts!» – Nora: «Ich kann den Reissverschluss nicht schliessen, er klemmt!» – Vater: «Streng dich an, wir müssen gehen.» – Nora: «Ich bin soweit, tschau Mami.» – Mutter: «Tschau, sei brav im Kindergarten und bring mir wieder die schönste Zeichnung nach Hause!»
In diesem kurzen Gespräch sind der 4jährigen Nora von ihren Eltern erzieherisch gemeinte Aufforderungen vorgeschrieben worden. Diese Verhaltensweisen versucht das Kind zu erfüllen, um von den Eltern für ok gehalten zu werden. In diesem Beispiel hat das Kind alle fünf sogenannten Antreiber («mach schnell», «sei stark», «streng dich an», «machs andern recht» und «sei perfekt») erfüllt. Mit den Antreibern versucht ein Mensch, das Gefühl nicht zu genügen mit dem entsprechenden Verhalten zu korrigieren. Beispielsweise hat Nora gelernt, dass sie «nur» für die schönste (perfekte) Zeichnung Anerkennung erhält. Die meisten Menschen haben einen bevorzugten Antreiber, ihren Primärantreiber.
Sind Antreiber nicht auch fördernd in einer Leistungsgesellschaft? Genauigkeit, Unabhängigkeit, Durchhaltevermögen, Freundlichkeit und Schnelligkeit – sind das nicht Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft von wichtiger Bedeutung sind und unsere Kinder zu guten Leistungen anspornen? In der Schule ist Bewertung von Leistung ein zentrales Thema, auch wenn heute von «Kompetenzstufen» gesprochen wird und die «Leistung» an Bedeutung verlieren soll. Das Kompetenzkonzept an den Schulen ist mit Pisa gross geworden, der Idee von Messbarkeit mit standardisierten Tests in internationalen Schulleistungsuntersuchungen. Die Qualität von Bildungsinhalten, pädagogischen Konzepten lässt sich so nicht verbessern, die Bedürfnisse der Kinder werden kaum beachtet.
Antreiber wirken sich deswegen negativ auf die Kinder aus, weil sie immer, selbst in unpassenden Situationen erfüllt werden müssen. Das «OK-Gefühl» des Kindes ist vom Einhalten des Antreibers abhängig, das kostet Zeit und Kraft. Es bedeutet eine Belastung für das Kind, es bemüht sich um ein unerreichbares Ziel.
Miniskript
Das Nicht-ok-Miniskript hat 4 Positionen und beginnt immer mit einem Antreiber.
Taibi Kahler und seine MitarbeiterInnen haben das «Konzept der Antreiber» in die Transaktionsanalyse (TA) eingeführt. Die Antreiber gehören zu einem umfassenden Verhaltensmuster das Kahler «Miniskript» nannte. Das Konzept beschreibt das übertriebene und unpassende Ausleben dieser Eigenschaften. Der Antreiber zwingt den Menschen zum entsprechenden Verhalten, er kann nicht mehr wählen.
© Diagramm aus «Transaktionsanalyse» von Ian Stewart und Vann Joines S. 243
Die Positionen zwei, drei und vier haben die Funktion eine Abwehr zu bilden gegen die Wirksamkeit von Bannbotschaften und machen den Impuls, sich durch Anstrengung ok zu fühlen zunichte.
Der Ablauf des Miniskripts dauert einige Sekunden bis einige Minuten, die Positionen können unterschiedlich durchlaufen werden.
Nora kommt mit ihrem Vater im Kindergarten an. Sie verabschieden sich und Nora zieht sich in der Garderobe um. Sie begrüsst die anderen Kinder, Neuigkeiten werden ausgetauscht. Ich werfe einen Blick in die Garderobe und mache die Kinder auf die Zeit aufmerksam. Nora erlebt sich nur noch als bedingt ok und ihre Antreiber, insbesondere «sei perfekt» werden wirksam. Sie erschrickt, blickt mich reumütig an und gerät in die 2. Position, wo sie sich weiterhin als nicht ok erlebt und beschuldigt die anderen Kinder, sie nicht in Ruhe gelassen zu haben. Dadurch gerät sie in die 3. Position, sie tadelt die anderen Kinder und fühlt sich wieder ok. Bald kommt sie in den Raum, nimmt mich an der Hand und führt mich in die Garderobe, um mir zu zeigen, dass ihre Kleider alle am vorgesehenen Platz sind. Perfekt, Nora hat ihren Antreiber «sei perfekt» nach einem Umweg über das Miniskript doch noch erfüllen können. Nochmals bedient sie ihren Antreiber, indem sie mich auch darauf aufmerksam, dass nicht alle Kinder ihre Schuhe schön hingestellt haben. Nora sucht eine Bestätigung für ihr perfektes Verhalten. Diesen Wunsch möchte ich so nicht erfüllen, um ihren Antreiber nicht zu unterstützen. Ich lobe sie für ihr Erinnerungsvermögen an die Ordnungsregeln in der Garderobe und freue mich über ihren Kontakt zu den anderen Kindern. Ich frage Nora, was sie in der Garderobe erzählt hat, um ihr die Erlaubnis zu geben Freude am Austausch mit den anderen zu haben.
Nun möchte Nora ein Spiel spielen nur mit mir allein. Dazu bin ich nicht bereit, ich möchte sie wieder in die Gruppe führen und ihr keine Gelegenheit geben in die «Verzweiflung» (4. Position) zu geraten. Sie hat in der Garderobe ihre Freundinnen zu Unrecht bei mir angeschuldigt und braucht jetzt Unterstützung, um wieder zu ihnen zu finden. Ich biete ihr ein Spiel an, in welchem kooperatives Verhalten zum Ziel führt und es keine Sieger oder Verlierer gibt. Sie holt die betroffenen Kinder und wir spielen zusammen.
Die Antreiber bei den Kindern zu fördern, hilft ihnen kaum bessere Leistungen zu erreichen. Mit gezielten Erlaubnissen versuche ich Nora immer wieder dabei zu unterstützen, ihrem Antreiber nicht mehr zu gehorchen und sie von nichterreichbaren Zielen zu befreien.
Gezielte Erlaubnis: Du bist gut genug, so wie du bist, du darfst Fehler machen!
Neben dem Nicht-ok-Miniskript gibt es auch das Ok-Miniskript. Hier wird «Einhalt» durch Motivation, «Tadel» und «Verzweiflung» durch Freude ersetzt und es entsteht ein motivierender, konstruktiver Kreislauf.
Lernbereitschaft
Wie können wir Kinder mit Freude zum Lernen motivieren?
Glücklicherweise wollen Kinder üben! Sie wiederholen Fertigkeiten, bis sie diese beherrschen – vom ersten Stehen bis zum ersten Schritt übt das Kind unermüdlich. Vorausgesetzt es fühlt sich ausreichend geborgen und nicht so allein gelassen, dass seine Neugier erlahmt. Kinder lernen, weil sie dafür Anerkennung erhalten. Können sie dabei schöne Beziehungserfahrungen machen, spannende Inhalte kennen lernen und sich kompetent fühlen sind sie motiviert zum Lernen.
Die TA bietet uns eine Fülle von Konzepten, die uns helfen das Kind in seiner Lernfreude zu unterstützen.
Ich erzähle hier von meinen Erfahrungen in einem öffentlichen Kindergarten in Zürich, mit der Überzeugung, dass sich diese Anwendungsmöglichkeiten der TA auch auf alle anderen Schulstufen anpassen lassen.
Gefühle und Emotionen
Der Schultag beginnt für die Kinder mit dem Eintreffen in der Garderobe. Bei der Begrüssung können wir dem Kind unser persönliches Interesse an ihm zeigen, indem wir nach seinem Befinden fragen, Veränderungen wie z. B. die neue Frisur beachten und sie so willkommen heissen.
Im Kindergarten versammeln sich die Kinder im Kreis. Es hat sich bewährt, den Kindern die Möglichkeit zu geben ihr Befinden zu spüren und zu zeigen. Dazu hat jedes Kind die Kreisgesichter mit den 4 Grundgefühlen zur Verfügung. Die TA geht davon aus, dass ein Baby von der ersten Sekunde an die Gefühle Freude, Wut, Trauer und Angst zeigen und ausleben kann.
Jedes Kind legt das passende Gefühl vor sich hin. Um Unstimmigkeiten auszuräumen und eine gute Stimmung für das Einzelne und die Gruppe zu erreichen, frage ich jedes Kind nach dem gewählten Gefühl. Wütende Kinder erhalten die Gelegenheit ihre Wut in den Boden zu stampfen, in die Luft zu boxen oder herauszuschreien. Traurige Kinder suchen sich ein anderes Kind aus, von dem sie sich festhalten und trösten lassen. Angstgefühle sind selten aktuell, bei der Erarbeitung der einzelnen Grundgefühle, behaupten viele Kinder, insbesondere Knaben, nie Angst zu haben, eventuell ein Hinweis perfekt sein zu müssen. Ab und zu erzählen die Kinder aber von Träumen, die ihnen Angst gemacht haben. Das Erzählen hilft ihnen die Angst nochmals zu spüren und aus dem Gefühl heraus zu finden. Können alle Kinder sich wieder freuen singen wir ein passendes Lied, mit dem die Kinder, auch mit Bewegung ihre Freude ausdrücken können.
Über Gefühle zu sprechen hilft den Kindern ihre eigenen Emotionen im Blick zu haben. Emotionen zu versprachlichen, unterstützt sie in der Steuerung ihres Gefühlslebens. Gefühle in der eigenen, persönlichen Ausprägung sind Folgen eines anhaltenden Lernprozesses, beeinflusst durch die Interpretation von Situationen, Reaktionen, ihren Zusammenhängen und Auswirkungen. Dadurch entstehen die unterschiedlichen Gefühle der jeweiligen Menschen in ähnlichen Situationen. Durch die täglichen Gespräche in verschiedenen Situationen, verstehen die Kinder zunehmend auch die Gefühle der anderen anzunehmen.
Hilfreich ist es Möglichkeiten kennen zu lernen sich selbst zu guten Gefühlen zu verhelfen.
Warme Dusche
Strokes
Das englische Wort «stroke» bedeutet sowohl streicheln wie auch Schlag, Stoss, Hieb, Schicksalsschlag, Schlaganfall. Berne wählte das Wort, um damit das ursprüngliche Bedürfnis des Säuglings nach körperlicher Berührung, nach streicheln, deutlich zu machen. Als Kinder und auch noch als Erwachsenen sehnen wir uns nach körperlichem Kontakt. Mit der Zeit lernen wir uns auch mit anderen Formen von Anerkennung zufrieden zu geben. Der Begriff «Stroke» wird für jede Art von menschlichem Kontakt verstanden, Hauptsache wir werden überhaupt wahrgenommen. Die englische Vielfalt ist im deutschen Wort Zuwendung nicht enthalten. Ich benutze Zuwendung, Anerkennung und Stroke gleichwertig.
Kinder probieren gerne viele verschiedene Arten von Verhalten aus, um herauszufinden, welche davon ihnen Zuwendung bringen und welche nicht. Sie lernen, welches positive oder negative Verhalten die Strokezufuhr aufrechterhält. Hat das Kind das Gefühl zu wenig Anerkennung zu bekommen, kämpft es um mehr. Erhält es vorwiegend negative Beachtung, wird es sich um diese bemühen, um nicht komplett auf Strokes verzichten zu müssen.
Die Kinder in unserem Kindergarten können Strokes einfordern, indem sie eine warme Wohlfühl-Dusche geniessen. Eine Halbkugel symbolisiert einen Duschkopf. Die farbigen Papierstreifen stellen das warme Wasser dar und schützen das Kind auch vor Blicken. Das Kind setzt sich unter die warme Dusche und erhält von jedem Kind und auch von mir eine positive Zuwendung. Anfänglich geben die Kinder viele bedingte Strokes zu Kleidung und Aussehen. In dieser Situation achte ich darauf in meiner Vorbildfunktion ausschliesslich unbedingte Zuwendung zu formulieren, wie beispielsweise «du kannst schön singen».
Das Angebot wird oft gebraucht, es werden zuweilen auch «Probleme» erfunden, um sich eine warme Wohlfühl-Dusche zu gönnen. Dies ist der Moment, die Kinder erleben zu lassen, dass sie Zuwendung um der Zuwendung willen verlangen dürfen, «einfach so, weil ich es möchte».
Strokes erlauben den Kindern sich selbst zu guten Gefühlen zu verhelfen:
wenn ich Zuwendung möchte, kann ich sie verlangen
wenn ich Zuwendung gebe, fühle ich mich glücklich
wenn ich Zuwendung gebe, erhalte ich auch Zuwendung
wenn ich Zuwendung geben will, darf ich sie geben
Für Nora ist es wichtig für alle ihre Handlungen eine Reaktion zu erhalten, sie sucht nach Bestätigung, wie alle Kinder. Aber nur wahrgenommen werden reicht für sie häufig nicht, sie möchte es korrekt gemacht haben. Anderen Kindern Strokes zu geben fällt ihr schwer, insbesondere bedingungslose, nicht an eine Leistung gebundene Zuwendung auszusprechen. Anfänglich bewirkt die warme Dusche bei Nora eine starke Anspannung, die sich mit «Hustenanfällen» oder lautem räuspern zeigt. Es hilft ihr, wenn ich vor ihr meinen Stroke äussere, so kann sie dieselbe Zuwendung wiederholen und den in ihren Augen perfekten Stroke geben. Es ist für sie auch schwierig selbst eine warme Dusche zu nehmen, weil sie hohe Ansprüche an die Gruppe hat: »Ich spiele gerne mit dir» genügt nicht «Ich spiele am liebsten mit dir oder nur mit dir» möchte sie hören. Sie möchte keine warme Dusche mehr nehmen. Es dauert ein halbes Jahr bis Nora beginnt warme Duschen zu geniessen.
Die vier Hunger des Menschen
Die täglichen Rituale, die Kinder mit «Kreisgesichtern» und «warmen Wohlfühl-Duschen» ihre Emotionen spüren zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich wohl zu fühlen, stärkt sie ihre zentralen Bedürfnisse («Hunger») zu erfüllen: ihr Bedürfnis nach körperlicher und seelischer Stimulation, der Stimulus-Hunger, ebenso ihr Hunger nach Strokes, ist befriedigt. Der sich täglich wiederholende Ablauf unterstützt den Hunger nach einer sinnvollen Zeitstrukturierung. Auch der Hunger nach Position, den die Kinder bei einer persönlichen Begrüssung und dem Eingehen auf ihr Befinden erleben stärkt sie. Nora hat einen grossen Hunger nach Position. Sie drängt sich vor, gibt ungefragt Antworten und wirkt dadurch vorlaut. Ihre ungefragt erteilten Ratschläge möchte sie von mir als richtig und passend beurteilt haben. Damit befriedigt sie nicht nur ihren Hunger nach Position, sie ist auch getrieben von ihrem «sei perfekt»-Antreiber und will in eine +/- Haltung (ich bin ok, du bist nicht ok) kommen. Sie stellt sich damit über die anderen Kinder, die auch entsprechend reagieren. Immer wieder mache ich Nora darauf aufmerksam, wie ihr Verhalten auf andere wirkt, indem wir solche Szenen mit Stofftieren nachspielen. Wichtig ist bei der Darstellung das Nora nicht beschämt wird, ein positives Rollenangebot stärkt sie und hilft den anderen Kindern wieder freundlich auf Nora zuzugehen.
Die Konzentration und die Neugier für die anschliessende Kreissequenz sind bei den meisten Kindern nun gegeben. Die Aufgabe für den heutigen Tag weckt das Interesse der Kinder, sei das die Einführung eine Bastelarbeit, eines Spiels, einer neuen Technik, eines Liedes oder das Erzählen und Darstellen einer Geschichte. Im Kreis kann ich für alle Kinder gleichzeitig erklären und vorzeigen, ich kann die Kinder für einzelne Schritte einbeziehen. Stelle ich ein Beispiel für eine Bastelarbeit vor, ist das für Kinder, die meinen perfekt sein zu müssen, schwierig. Darum ist es wichtig den Kindern immer wieder zu erklären, dass ich schon viele Jahre üben konnte und sie selbst, es so gut machen dürfen, wie es ihnen gelingt. «Sei perfekt»-Kinder brauchen zusätzliche Unterstützung, um mit ihrem Resultat zufrieden zu sein. Insbesondere Nora, die sprachlich und mathematisch von ihren Eltern gefördert wird, motorisch, aber ungeschickt ist. Kinder, die denken sie hätten die gestellte Aufgabe verstanden, dürfen sich ihren Arbeitsplatz einrichten. Es stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, entweder Einzelplätze oder unterschiedlich grosse Gruppentische. Es ist eine grosse Herausforderung einen Arbeitsplatz auszuwählen, der dem einzelnen Kind erlaubt die gestellte Aufgabe zu erfüllen. Die beste Freundin kann vielleicht gute Unterstützung anbieten, aber auch viel Ablenkung. Die Nachbesprechung im Kreis hilft den Kindern für sie sinnvolle Arbeitskombinationen zu finden.
4 P
Meine Bewusstheit über die «3 P» (Protection: Schutz, Permission: Erlaubnis, Potency: Überzeugungskraft) ist für eine fördernde Unterstützung der Kinder besonders wichtig und hilft ihnen sich in der Gruppe aufgehoben zu fühlen. In der täglichen Arbeit kommen die drei P vereint zur Anwendung. Die Wirkung einer Erlaubnis (Permission) ist nur möglich, wenn sich das Kind geschützt weiss (Protection) und meine Ermutigung, mein Einfluss und meine Überzeugungskraft (Potency) genügend stark sind. Für die pädagogische Arbeit möchte ich ein «viertes P» einbringen, nämlich Patience: Geduld. Bei der Arbeit mit so jungen Kindern merke ich, dass Geduld eine bedeutsame Eigenschaft ist. Die ursprünglichen Bannbotschaften, Antreiber, die skriptgebundenen Verhaltensweisen beeinflussen und prägen auch (unbewusst) den Alltag der Kinder. Ich muss ebenso überzeugend sein, wie es die jeweiligen Autoritätspersonen waren. Es braucht viel Geduld, immer wieder genügend Zeit, den Moment abzuwarten, in dem das Kind bereit ist. Eine Konfrontation kann beim Kind auch Trotz auslösen oder es reagiert mit Anpassung. Das ist der Moment, um eine Intervention zu unterbrechen und auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Viele Kinder erleben bereits im Kindergartenalter einen hektischen Alltag und werden durch Zeitdruck und hohe Anforderungen teilweise in ihrer Selbständigkeit und Selbstverantwortung gehindert. Wichtig ist jedoch, dass die Kinder sich die Zeit nehmen dürfen, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Daraus entstehen ganz normale Konflikte mit sich und anderen. Wir können die Kinder unterstützen ihre Persönlichkeit in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln, ihnen genügend Zeit zur Entfaltung zu gewähren und unsere geduldige Unterstützung anzubieten. Den Wert von positiven Beziehungen auch in Lernbeziehungen zu erleben und einen sinnvollen Umgang mit ihren Gefühlen zu üben, stärkt die Kinder in ihrer weiteren Entwicklung. Die Grundeinstellung «ich bin ok, du bist ok» ist eine Voraussetzung für eine sinnvolle Arbeit im Klassenzimmer.
Literatur
Berne, Eric: Was sagen Sie, nachdem Sie «Guten Tag» gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens. Fischer Taschenbuch Verlag 2007
Steiner, Claude: Emotionale Kompetenz. Deutscher Taschenbuch Verlag 2006
Schlegel, Leonhard: Die Transaktionale Analyse. Deutschschweizer Gesellschaft für Transaktionsanalyse, Zürich 2001
Stewart, Ian und Joines, Vann: Die Transaktionsanalyse. Taschenbuch Verlag Herder 2000
Kleinewiese, Elisabeth: Kreisgesicht-Symbole. Institut für Kommunikationstherapie 1999
Monique Naef
Transaktionsanalytikerin CTA-E / Kindergartenlehrperson / Montessori Heilpädagogin Practitioner für Emotionale Kompetenz (DGEK) / Erwachsenenbildnerin (SVEB 1)

monique.naef@bluewin.ch