Schwerpunktthemen

Pluripotente-Transaktionsanalyse

Dieser Beitrag handelt von der Herausforderung und den Möglichkeiten, Transaktionsanalyse professionell zeitgemäß neu zu erfinden. Und davon, wie wir unseren Kopf dafür gebrauchen könnten.
Bernd Schmid
Stiftungsvorstand,
Schmid Stiftung Isb GmbH,
info@schmid-stiftung.org
Dieser Beitrag handelt von der Herausforderung und den Möglichkeiten, Transaktionsanalyse professionell zeitgemäß neu zu erfinden. Und davon, wie wir unseren Kopf dafür gebrauchen könnten. Ich weiß, manchen TA-Freunden scheint ein solches Ansinnen verdächtig, scheint doch direkt Fühlbares oft wichtiger und plausibler zu sein. Doch ich halte es mit meiner verehrten, mittlerweile über hundertjährigen Lehrerin Fanita Englisch. Sie soll einst im Kollegenkreis, in dem einmal wieder emotionale Betroffenheit gegen theoretische Diskussion ausgespielt wurde, ausgerufen haben: «Lasst mir meinen Kopf. Das ist das Wertvollste, das ich habe!» Und ich möchte ergänzen: Kluges Denken schafft bedeutungsvollem Fühlen sinnvolle Rahmen!
Ich bin jetzt selbst im Ruhestand und genieße diesen (1). Zum Abschied von den TA-Gemeinschaften habe ich 2017 meine Beiträge zur TA noch einmal ausführlich auf Deutsch in Zürich und auf Englisch in Berlin dargestellt. Ich schließe mich mit dieser Skizze an eine Diskussion mit Leonard Schlegel aus dem Jahr 1997 an (2). Ausführliche Abhandlungen würden diesen Rahmen sprengen, doch stehen solche für Interessierte bereit. Videos und alle Materialien stehen kostenlos zur Verfügung. (3)
Was meint professionell?
Selbstverständlich verstehen sich Transaktionsanalytiker als professionell. Doch was meint das? Professionell meint einem alltäglichen Verständnis nach meist kompetent im Sinne von etwas versiert, methodisch bewusst und in einer gesicherten Qualität tun zu können. Eine TA’lerin gilt dann als professionell, wenn sie die bekannten Konzepte der TA verstanden hat und bei der Einschätzung von Menschen und in der Kommunikation mit diesen anwenden kann. Meist geht es dabei darum, anderen irgendwie zu helfen. Dazu gehört, sich selbst und andere aus Verwicklungen befreien, sowie Erlebens- und Verhaltensmuster positiv weiterentwickeln zu können.
Mittlerweile deutlich breiter angelegt findet sich auf der Website der DGTA die Beschreibung «Die Transaktionsanalyse ermöglicht einen qualifizierten Umgang mit der Gestaltung von Wirklichkeiten durch Kommunikation.» (4) Hierdurch entsteht die Herausforderung, zur Gestaltung von Wirklichkeit in vielen Bereichen und aus der Sicht vieler Professionen beitragen zu können. Dafür müsste die TA zu einem pluripotenten Ansatz weiterentwickelt werden. Bevor diese Metapher weiter ausgeführt wird, zunächst eine kurze Bestandsaufnahme.
So weit, so gut
Die Transaktionsanalyse wurde in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts im Feld der Psychotherapie in den USA entwickelt. Als Welt- und Menschenbild wie auch als Vorstellung vom gesunden Leben transportiert sie daher entsprechende Kulturvorstellungen. Wäre TA in Japan im Feld Militär entwickelt worden, hätte sie sicher andere Züge angenommen. Westliche Psychotherapie meinte seinerzeit, Individuen vorwiegend in Einzelbegegnungen zu helfen, ihre biographischen Belastungen zu identifizieren und sich durch korrigierende Erlebnisse von ihnen zu befreien.
Zu den Kern-Ideen der TA gehört, Menschen in Teile und zwar in Ich-Zustände zu unterteilen. Je nachdem werden eher strukturelle oder funktionale Betrachtungen angestellt. Dabei hängen innere Dynamik einerseits und Handlungsqualitäten andererseits zusammen, wobei letztlich ein mechanisches Modell «Funktion ist Struktur in Aktion» zugrunde liegt. Diese Implikation suggeriert als Konsequenz, dass man mit Funktion nur dann wirklich arbeiten kann, wenn man verursachende Struktur versteht: Fundierte Arbeit mit Ich-Zuständen erfordert ein Verständnis biographischer Hintergründe. Dieser gewohnheitsmäßig gelebte Teil der Identität der TA (5) macht es schwierig, sich dort von biographischen Betrachtungen und psychotherapeutischen Denk- und Verhaltensweisen zu lösen, wo TA für ganz andere Felder und Dienstleistungen weiterentwickelt werden soll (z.B. Politikberatung).
Wie weiter?
Eine weitere Kern-Idee der TA: Gesellschaftliche Entwicklung wird als die Summe der Entwicklung Einzelner gedacht und aus psychologischer Perspektive zu befördern versucht. In vielen Bereichen müsste es jedoch mehr um die Entwicklung von Systemen, Strukturen und Prozessen gehen. Diese können für Rahmen, in denen sich Einzelne und Gemeinschaften verstehen, handeln und entwickeln können, viel wichtiger sein. Stimmen die Verhältnisse nicht, gerät jeder unter dieser Belastung aus der Spur, wenn auch in seiner eigenen Weise. Hier durch Einzelhilfe zu helfen, wäre ein Fass ohne Boden. Die Gestaltungsbemühungen sollten sich gleichermaßen auf die Entwicklung der Verhältnisse richten. Auch dafür braucht es transaktionale Kompetenz. System- und Kulturentwicklung kann auch unter psychologischen Gesichtspunkten für viele Einzelne mehr bewirken. Die Organisation von Schwimmunterricht für alle kann auch mehr Leben retten als die Rettung Einzelner.
Für solche Kulturentwicklungen braucht es die Berücksichtigung von Inhalten, von Rollen und Kontexten und von Systemzusammenhängen und die «Orchestrierung» des Zusammenwirkens vielfältiger Gestaltungsfaktoren und -ebenen. All dies muss in transaktionale Kompetenz einfließen, die dabei Gütekriterien aus ganz verschiedenen Perspektiven genügen muss. Die Optimierung unter psychologischen Gesichtspunkten allein greift zu kurz. Professionelle müssen heute fast immer «Zehnkämpfer» sein. In der Praxis nehmen daher fast alle TA`ler weitere Ansätze mit hinzu. Dringend erforderlich wäre allerdings, sie mit TA-Konzepten programmatisch zu integrieren. Damit hält das Selbstverständnis von TA mit tatsächlichen Entwicklungen Schritt, und kluge Programmatik hilft Praxisentwicklungen zu steuern.


Viele Professionsfelder
Schon die Gründergeneration legte Wert darauf, TA nicht auf Psychotherapie zu beschränken, sondern auch Feldern wie Erziehung und Bildung oder anderen Berufsgruppen, wie dem Krankenpflegepersonal zugute kommen zu lassen. Allerdings wurden die Modelle und Vorgehensweisen der TA dafür kaum neu entwickelt. Trotz der zunehmenden Bemühungen, die Verwendung von TA in weitere Gesellschaftsfelder, wie beispielsweise Organisationen auszuweiten, blieb es meist beim nicht wirklich reflektierten «Export» von gewachsenen Selbstverständlichkeiten psychotherapeutischer Ansätze in andere Felder. Zu den heutigen Herausforderungen gehört, für andere Felder fragwürdige Spezifikationen solcher Exporte zu erkennen. In vielen Fragestellungen im Organisationsbereich zum Beispiel wäre der im Strukturmodell der Ichzustände implizierte biographische Bezug infrage zu stellen.
Als Alternative habe ich das Rollenmodell für Persönlichkeit und Kommunikation entwickelt. Dieses legt nicht Biographie, sondern Lebenswelten als vorrangigen Bezug nahe (6). Um für solche Entwicklungen Ausgangssituationen zu schaffen, muss man TA-Konzepte auf ihre Grundfiguren und -ideen zurückführen. Mit diesen sind dann Angehörige vieler Professionen und Dienstleister in vielen Gesellschaftsfeldern frei und aufgefordert, eigene, jeweils passende Spezifikationen vorzunehmen. Muss TA für solche Professions- und Feldspezifischen Belange neu gedacht werden? Wie muss dabei gedacht werden?
PLuripotente Qualitäten
Man kann sich das wie die Rückverwandlung spezifischer Körperzellen in pluripotent (7) Stammzellen vorstellen. Solche Zellen verlieren ihre Spezialisierung und können dann wieder in vielfältiger Weise neu spezifiziert werden. Interessanterweise waren viele Ursprungsdefinitionen der TA von pluripotenter Qualität. Eric Berne definierte einen Egostate allgemein als «coherent system of feelings, thoughts and behavior». Das Eltern-Ich etwa als Zusammenfassung im strukturellen Ichzustands-Bereich (8) folgte als eine mögliche Spezifikation, dominierte aber schließlich das Bild. John Watkins, der wie Eric Berne bei Paul Federn studiert und die Idee der Egostates parallel weiterentwickelt hatte, definierte Egostate als «.... organized system of behavior and experience whose elements are connected by a common principle …».
Wird man sich der Konzeptkonstruktionen bewusst, dann können statt reflexhafter Exporte passende Spezifizierungen bewusst gewählt und wenn erforderlich für unterschiedliche Arbeitsfelder neu differenziert werden. Beispielsweise spezielle strukturelle Betrachtungen für Trauma-Therapie oder spezielle funktionale Betrachtungen für Karriere-Beratung. Diese müssen dann nicht untereinander übersetzbar sein. Man erwartet ja auch nicht, dass zwischen den Spezifikationen Leberzelle und Sehnerv ein Zusammenhang hergestellt werden muss.
Denk-Übungen
Ein bewusster Umgang mit Implikationen und Konsequenzen erfordert Abstrahieren, dann neu Spezifizieren und Konkretisieren. Beim Abstrahieren geht es um das Herausarbeiten der Prinzipien und Grundgedanken. Dafür kann eine bei Berne übliche Übung genutzt werden: Man nimmt ein konkretes Vorgehen oder Konzept und fragt: Wofür ist das ein Beispiel? Symbiotische Beziehungen sind dann etwa ein Beispiel dafür, wie Verantwortung vermieden und zum «Mitmachen» eingeladen wird. Ist diese allgemeine Fragestellung benannt, kann man sie auf andere Bereiche übertragen. Beispielsweise können im Organisationsbereich durch Strukturen, Prozesse und Zuständigkeiten initiierte Verantwortungs-Vermeidung identifiziert und transaktionale Konzepte zum Umgang damit entwickelt werden. Für das neue Spezifizieren kann man immer wieder nach den für die anstehende Kommunikation entscheidenden Unterschiede fragen. Also Unterscheide, die Unterschiede machen. Für die Konkretisierung kann sozusagen mit der Theatermetapher9 nach konkreten Szenen und Handlungsaufbau gefragt werden.
Goodluck
Nicht jedem liegen solche grundsätzlichen Überlegungen und oft kommt man in der Praxis mit einem Sammelsurium von Konzepten gut voran. Die Evolution lebt von Kompromissen, die sich ohne Programmatik herausgebildet haben. Sie hatte dafür aber auch viel, viel Zeit. Wer bei sich Talente und Interessen entdeckt, zu einer Professionen übergreifenden Entwicklung der TA beizutragen, der sei mit dieser Skizze inspiriert und eingeladen, einerseits mein reichliches Material zu nutzen, und andererseits eigene Entwicklungswege zu gehen.


1. Das Filmchen über meinen Ruhestand 2017https://www.youtube.com/watch?v=txsFBaJzE14&t=18s&spfreload=10
2. Bernd Schmid 1997: TA – auch eine professionenübergreifende Qualifikation – Stellungnahme zu Leonhard Schlegels Aufsatz «Was ist Transaktionsanalyse?»Zeitschrift für Transaktionsanalyse, Heft 1-2 1997 (14. Jahrgang), S. 31-42
3. Deutsch: www.youtube.com/watch?v=3Y__aMhM-6Y&list=PLUEMue3Ihake1S3csJADJDvUU_S4U2wgR und klassisch www.youtube.com/watch?v=6510k8847X8&list=PLUEMue3IhakeyJ4YmJD--jDPi3jWY5WkC Englisch: www.youtube.com/watch?v=Nf1sfe2M4k4&t=1945s und klassisch www.youtube.com/watch?v=le_K3Yd73ak&list=PLUEMue3IhakejADItJgN7vM4NeRjunNbn
4. https://www.dgta.de/fileadmin/user_upload/TA-eine_elegante_Theorie.pdf
vermutlich angelehnt an meine Definition von 1990: Die Transaktionsanalyse meint einen professionellen Umgang mit der Gestaltung von Wirklichkeit durch Kommunikation. Siehe Bernd Schmid 1990: Eine neue TA: Leitgedanken zu einem erneuerten Verständnis unseres professionellen Zugangs zur Wirklichkeit. Zeitschrift für Transaktionsanalyse 4,7, S. 156-172
5. Bernd Schmid 1988: Überlegungen zur Identität als Transaktionsanalytiker.ZeitschriftfürTransaktionsanalyse 5, 2, S. 75-77
6. 2008: The role concept of TA and other approaches to personality, encounter and co-creativity for all professional fields Anlässlich der Verleihung des Eric Berne Memorial Awards in San Francisco (Aug. 2007) Transactional Analysis Journal Vol. 38, No. 01, January 2008
7. https://de.wikipedia.org/wiki/Pluripotenz
8. Bernd Schmid 1994 Wo ist der Wind, wenn er nicht weht? Professionalität und Transaktionsanalyse aus systemischer Sicht. Junfermann, Paderborn. Als kostenloses active-book (Junfermann) verfügbar. www.active-books.de/kategorien/buch/350-wo-ist-der-wind-wenn-er-nicht-weht/
9. Bernd Schmid 2004: Der Einsatz der Theatermetapher in der Praxis.LO - Lernende Organisation. Zeitschrift für systemisches Management und Organisation, Nr. 18, März/April 2004, S. 56-63

Schwerpunktthemen

Was sagen Sie, nachdem das Gruppendynamische Forum eröffnet ist…?

Ein gruppendynamischer Segeltörn in Nordholland
Margot Ruprecht
CTA-Trainerin und Supervisorin-E/C,
Gruppendynamikerin (eidg.dipl. psychosoziale Beraterin),
ruprecht.m@bluewin.ch
Benno Greter
CTA-E,
Gruppendynamiker (eidg.dipl. psychosozialer Berater),
benno.greter@bluewin.ch
Sie waren meine Lieblingsveranstaltungen während meiner eigenen TA-Ausbildung: die internationalen, gruppendynamischen Foren. Was haben wir, in einer mit Stühlen gestellten Spirale sitzend, gerungen, gesucht und gefunden: Persönliches, Soziales und auch Länderspezifisches. Nie werde ich vergessen, wie ich als Schweizerin realisiert habe, dass ich mich «neutralisiere», wenn sich beispielsweise deutsche und holländische Teilnehmende in die Haare gerieten und dabei feststellen mussten, wie stark die Länderskripts bis ins Hier und Jetzt reichen. Und ich als Schweizerin versuchte zu vermitteln und «bilateral» zu verhandeln, und ich lernte für mich in eindrücklicher Weise zu verstehen, wie tief meine Schweizer Prägung greift.
Heute bilde ich selber aus und auch heute begleiten mich – nun in der Leitungsrolle - Gruppendynamische Veranstaltungen. Unsere Muster und unsere tiefen Prägungen stammen aus Gruppen. Wir wachsen in Gruppen auf, meistens in der Familie. Wir lernen, spielen, arbeiten und vergnügen uns in Gruppen, und wir leben verschiedenen Rollen und Positionen. Wir sind Redende und Schweigende, Vorantreibende und Verlangsamende, Anführerinnen und Gefolgsleute, Unterstützer und Kritikerinnen. So selbstverständlich bewegen wir uns in diesen und weiteren Richtungen, dass wir die stattfindende Dynamik, das Kräftespiel und die Veränderungen, die dabei geschehen, in aller Regel nicht bewusst wahrnehmen. Eric Berne hat in seinem Werk «Principles of group treatment» einzigartige Ideen entwickelt, um mit und in der Gruppe Skriptarbeit durchzuführen. Berne interessierte sich für die Theorie der Gruppenprozesse und für das Phänomen der Gruppe als Ganzes. Er hob hervor, dass jede Gruppe ihre besondere Kultur hat, und dass jede Gruppe auch mit den Aspekten der Ich-Zustände beschrieben werden kann.
Besonders faszinierend und interessant sind Bernes Arbeiten zu den Themenbereichen Gruppenimago, Gruppenentwicklung und Gruppengrenzen. Wir – mein Arbeitspartner und ich - haben seine Ideen weiter entwickelt, verfeinert und auf den aktuellen Zeitgeist übertragen. In den oben beschriebenen Gruppendynamischen Foren hat uns die Reflexion des Erlebten auf der Metaebene gefehlt. Die Erfahrungen waren und sind nachhaltig und brauchen unserer Ansicht nach auch eine theoretische Einbettung. Wir laden die Frauen und Männer zur Selbstforschung in Gruppendynamischen Foren ein mit der Idee, die eigene Wahrnehmung zur Verfügung zu stellen, und wir regen danach das Reflektieren des Erlebten in Theoriegruppen an.
Das Weitsichtseminar – der besondere Segeltörn
Ich lege in der Ausbildung neben Theorievermittlung, Supervision und Selbsterfahrung grossen Wert auf gruppendynamische Trainings.
Die Teilnehmenden reflektieren kontinuierlich ihre eigenen Erfahrungen. Sie lernen etwas über die Dynamik von Gruppen und darüber, wie sich der Einzelne darin bewegt und sie mitgestaltet. Anders als bei herkömmlichen Lernprozessen, in denen Lehrende ihr Wissen präsentieren, sind Teilnehmende in einem gruppendynamischen Training Lernende und Lehrende zugleich.
Diese Prozesse ermöglichen in hohem Masse das Nachdenken, das Hinterfragen und Erspüren, welche Prägungen und Alltagstheorien und welche Verhaltensweisen uns leiten Unserer Erfahrung nach bewirkt der «gruppendynamische Lernweg» intensive persönliche Prozesse und eindrückliche, nachhaltige Lernerfahrungen. Einer der Höhepunkte meiner TA-Weiterbildung und unserer Berater-Ausbildung stellt ein gruppendynamischer Segeltörn mit seinen ausgeprägten Interaktionen dar. Zwanzig Frauen und Männer erfahren während einer Woche unter Anleitung Aspekte zum Thema «Die Gruppe und ich».
Leitgedanken der Veranstaltung
In unserem privaten und beruflichen Leben bewegen wir uns in Systemen, Gruppen und in Teams. Oft entstehen besondere Entwicklungen, welche mit einer «gruppendynamischen Brille» gedeutet und verstanden werden können. Wie wir das Zusammenleben- und Arbeiten gestalten, hängt oft mit unserem Skript und mit unseren Gruppenerfahrungen aus der Vergangenheit zusammen.
Aufgrund der Vielfalt von Beziehungen in einer Gruppe und den damit verbundenen Übertragungsmöglichkeiten, entstehen in einem gruppendynamisch orientierten Anlass ein lebensnaher Arbeitsort, in welchem sich das Geschehen nicht «nur» auf die Dyade Trainerin/Trainee beschränkt. Das sensible Erforschen der Übertragungen und der Gegenübertragungen im Hier und Jetzt bietet viele Lernchancen und Experimentierraum in einem geschützten Umfeld. Der Perspektivenwechsel vom «Ich» zum «Wir» ermöglicht dabei neue Einsichten und neue Erkenntnisse für eine Welt, die zunehmend ein pluralistisches ‹Wir› fordert. Skriptthemen kommen zum Vorschein und können bearbeitet werden. Die Segelarbeit mit ihren Naturerlebnissen und die dabei gemachten Erfahrungen lassen dabei schwer empfundene Themen oft leichter erscheinen.
Wir meinen, dass unsere gruppendynamische Segeltörnarbeit auch Friedensarbeit ist. Nach Carolin Emcke («Gegen den Hass») haben wir die Aufgabe, eine offene, plurale Gesellschaft zu leben, in der soziale, religiöse und politische Vielheit gedeihen kann. Nur in dieser Vielfalt blüht die Freiheit des auch individuell Abweichenden. Und nur in einem liberalen Raum würden, so Emcke, Widerspruch, Selbstzweifel und Ironie Platz und Ausdruck finden. Hannah Arendt schreibt in Vita Activa: «Sofern wir im Plural existieren und das heisst, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur Sinn, worüber wir miteinander und wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt».
Wir dürfen also in der Gruppe erkennen, dass wir keinem anderen Menschen, der je gelebt hatte, lebt oder leben wird, gleichen und dass wir dennoch zugehörig sind.
So gesehen, verstehen wir diese Seminararbeit auch als wichtige politische Arbeit.

Ziele der Veranstaltung
Mit diesem Anlass sollen vier Lernebenen ermöglicht werden:

Das Erleben und die Reflexion der Prozesse in der Selbsterfahrung und im Hier und Jetzt
Die Vermittlung kognitiver Prozesse, welche die eigene Gruppenerfahrung strukturiert und erklärt
Die Reflexion und das Bearbeiten des Erlebten in der Gruppe, im Einzelcoaching und in der Einzelberatung
Das Training von Interventionskompetenzen

Letztlich zeigt unsere Erfahrung, dass das unübliche Erleben, das Experimentieren, das Verstehen, das Sprache-Finden und das Arbeiten in einem geschützten Raum ungeahnte Möglichkeiten und berührende Erfahrungen ermöglichen.
Design der Veranstaltung
Folgende Strukturelemente haben wir entwickelt, um intensive Lernerfahrungen zu ermöglichen:
Gruppendynamische Foren: Täglich 1,5 Stunden - die Hauptgruppe sitzt im Kreis oder in einer Spirale und wird von der Leitung aufgefordert, sich der Erforschung der Situation, der Gruppe und ihrer selbst anzunehmen. Dieser Prozess findet nicht in aller Ruhe statt, sondern mitten in den Turbulenzen des Geschehens selber. Sichtweisen und unterschiedliche Werte stossen aufeinander und Sympathien und Antipathien zeigen sich. Die Leitung verhält sich angemessen abstinent und schützt dabei Zeit und Raum. Sie interveniert situationsangemessen aus einer Haltung geprägt durch Ruhe und Bewegung, und andererseits um Steuerung und Gegensteuerung zu schaffen und Feedbackprozesse und Kontaktaufnahmen zu initiieren.

Arbeitsgruppen: Vier Arbeitsgruppen, welche von einer selbst gewählten Person geleitet werden, bearbeiten von uns vorgegebene Fragestellungen: Kriterien zum Erkennen von Kernkonflikten einer Gruppe, Kriterien für eine gute Feedbackkultur, Wochenziele für die Arbeitsgruppe, «Macht, Einfluss und Vertrauen» in Gruppen. Im Anschluss präsentieren sie die Resultate ihrer Arbeit in der Hauptgruppe. Die Leiterin/der Leiter der Gruppe erhält von uns ein Coaching und die Gelegenheit, das eigene Tun zu hinterfragen.
Kochgruppen: Drei Kochgruppen sorgen für unser leibliches Wohl. Jede dieser Gruppen wird von einer Leitungsperson geführt und auch diese erhält ein Führungscoaching.

Theorie-Plena: Das Fachbuch «Einführung in die Gruppendynamik» von Oliver König und Karl Schattenhofer wird kapitelweise und methodisch ansprechend gestaltet von jeweils zwei Teilnehmenden vorgetragen. Die Vorarbeiten dazu finden vor dem Seminar statt. Die Leitung entscheidet, wann welches Kapitel vorgetragen wird.

Beratung: Jede Teilnehmerin/jeder Teilnehmer erhält, falls gewünscht, Beratung von der Leitung zu persönlichen Themen (Skriptthemen), die im Verlaufe des Prozesses auftauchen.

Gruppendynamisches Palaver: Wenn Verwirrung im System entsteht, berufen wir ad hoc eine Plenumsveranstaltung ein, um die Situation zu verstehen, zu klären und um Prozesse deutlich zu machen.

Weitsichtforum am Abend: Nach dem Abendessen trifft sich die Gruppe mit der Leitung. Jede Frau/jeder Mann erhält noch einmal die Gelegenheit, sich über ihre/seine Befindlichkeit und über ihre/seine Wahrnehmung der Prozesse zu äussern. Als Regel gilt: Der Anlass dauert so lange, bis alle gesprochen haben.

Segelgruppen: Die Leiterin/der Leiter der Segelgruppen ist, gemeinsam mit dem Matrosen, verantwortlich für die Umsetzungen der Anweisungen des Kapitäns. Sie/er muss, falls gefordert, genügend ‹Personal› für die Segelarbeit stellen.

Leitungstafel: Gut sichtbar platziert werden von der Leitung alle Anlässe und Foren mit Angaben von Zeit und Raum eingetragen.

Zeit als Grenze: Wir vereinbaren mit der Hauptgruppe, dass die Zeiten auf die Minute einzuhalten sind. Die von uns vorgegebenen Zeiten gelten als rote Grenze. Diese Begrenzung ermöglicht der Leitung und der Gruppe, gruppendynamisch verborgene Themen sichtbar zu machen und zu thematisieren. Dabei wird beispielsweise auch deutlich, wie die Gruppe Verantwortung für Einzelne und für das Ganze wahrnimmt.

Nachklang
Noch einmal zitiere ich Carolin Emcke: «Das ‹Wir› ist immer ein Potential und nicht etwas Unveränderliches, Messbares, Verlässliches. Das ‹Wir› definiert niemand allein. Es entsteht, wenn Menschen zusammen handeln.»
Und: «Zu den dissidenten Strategien gegen Exklusion gehört deswegen auch, Geschichten vom gelungenen Leben und Lieben zu erzählen und Erzählungen von Möglichkeiten des Glücks Raum zu geben….»
Und nochmals zurück auf das Schiff: Wir sprechen von uns und unseren Wahrnehmungen, wir suchen und finden Worte, wir lachen, wir streiten und umarmen, wir arbeiten und wir feiern, wir trinken zusammen und erfreuen uns an einem Sonnenuntergang. Manchmal finden wir keine Worte oder wir sprudeln über vor Freude, wir wandern auf dem Watt, wir vermitteln Theorien, wir diskutieren, wir kochen feines Essen, wir dekorieren den Tisch, wir erzählen uns Geschichten und Anekdoten und wir gestalten das Leben sechs Tage: energievoll, hart am Wind, Segel setzend, auf dem Klüvernetz liegend und GEMEINSAM.


Literaturangaben:
Arendt, H. (1958/2016), Vita activa oder Vom tätigen Leben; TB Piper, DE-München
Berne, E. (1966), Principles of group treatment, New York, NY: Oxford Universtity Press
Emcke, C. (2016), Gegen den Hass, Fischer Verlag GmbH, DE-Frankfurt am Main
König, O.,& Schattenhofer, K. (2011), Einführung in die Gruppendynamik, Carl Auer, DE-Heidelberg