Schwerpunktthema

Interview zum Thema Zukunft mit Dr. Jakub Samochowiec

Autor der Studie ‹Digital Ageing – Unterwegs in die alterslose Gesellschaft›
Dr. Jakub Samochowiec
Sozialpsychologe und Zukunftsforscher am Gottlieb Duttweiler Institut
Rüschlikon
jakub.samochowiec@gdi.ch
Barbara Heimgartner: Der Titel Ihrer Studie: ‹Digital Ageing – Unterwegs in die alterslose Zukunft›, löst in mir die Frage aus: Müssen wir das Alter abschaffen? Oder was heisst das, eine alterslose Zukunft?
Dr. Jakub Samochowiec: Nein, aber die klaren Verhaltensregeln und Rollenverständnisse fallen weg. Das kann man einerseits als Emanzipation älterer Menschen wahrnehmen, gleichzeitig natürlich als Druck. Es ist eine Freiheit, aber mit jeder Freiheit ist natürlich auch eine Verantwortung assoziiert.
Dann ist da der Begriff von der Weisheit. Früher war die Weisheit mit dem Alter gekoppelt. Innere Gelassenheit setzt häufig ein höheres Alter voraus mit positiv verarbeiteten Erfahrungen und einer gewissen Demut. Sind das in Zukunft noch gefragte Ziele?
Wir unterscheiden zwischen Wachstums- und Bewahrungsorientierung. Wachs­tumsorientierung muss nicht immer etwas Positives sein, oder Bewahrung immer nur negativ. Man kann sagen, dass Bewahrung durchaus einen gesellschaftlichen Wert von einer Stabilität hat. Und der auch ein Boden für Wachstumsbestrebungen ist, auf dem Wachstum entstehen kann.
Wie geht der Mensch mit der Flut an Informationen in Zukunft um?

Man entwickelt die Fähigkeit, Informationen herauszufiltern. Ich glaube, dass der Mensch sehr gut darin ist.
Plattformen wie Twitter oder Facebook sind aber auch dafür gemacht, dass sie die Informationen heraussuchen, die uns interessieren sollen. Das passiert einerseits individuell, andererseits ist es so, dass diese Informationskanäle, die wir konsumieren, darauf aus sind, es uns möglichst angenehm zu machen.
Das ist ein bisschen Überwachung. Es ist bekannt, was mir gefällt, was ich einkaufe, was ich bevorzuge. Wird das in Zukunft zunehmen?
Es ist sicher so, dass immer mehr Daten über uns gesammelt werden, ohne dass wir das überhaupt merken, von denen wir aber auch einen Nutzen haben. Was Überwachung ist und was nicht, muss man je nach Situation anschauen. Wenn Google Maps mir Staumeldungen angibt, weil sie sehen, dass sich viele Smartphones auf einer bestimmten Strecke langsam bewegen, dann kann das für mich nützlich sein.
Es gibt eine andere Form von Überwachung, die meiner Meinung nach problematischer ist; Stichwort Krankenkasse, Gesundheitsdaten. Krankenkassen haben immer mehr Interesse daran, Daten von uns zu bekommen. Es gibt jetzt eine Krankenkasse, bei der man sich ein Schrittzähler-App auf dem Handy installiert und dafür eine Verbilligung bei der Prämie hat, wenn man eine gewisse Anzahl Schritte macht. Das wird als Bonus verkauft. Es könnte auch umgekehrt eine Strafe darstellen für die Leute, die ihre Daten nicht freigeben. Das würde natürlich marketingtechnisch nicht so gut funktionieren. Je mehr man misst und Daten sammelt, desto mehr unterwandert man das Solidaritätsprinzip der Krankenkassen. Wieso soll ich gleich viel bezahlen wie der andere. Ich habe vielleicht ein kleineres Risiko für irgendwelche Krankheiten aufgrund von meinem Verhalten, auf Grund von meiner Genetik usw.
Aber es gibt sicher auch viele Leute, die finden, obwohl man die Daten sammeln kann, sollten wir nicht am Solidaritätsprinzip der Krankenkasse rütteln.
Eine andere Frage zum Thema soziale Medien. Wir müssen uns nicht mehr besuchen und sehen. Welchen Stellenwert hat in Zukunft noch der persönliche Kontakt?
Auch dort ist es nicht unbedingt so, dass Leute, die viele Freunde auf Facebook haben oder oft WhatsApp gebrauchen, sich weniger mit anderen Menschen treffen. Sicher gibt es einige, die es weniger gut im Griff haben und sich im Digitalen verlieren, doch, glaube ich, ist das eine Minderheit.
Was macht das mit den Menschen?
Es gibt verschiedene Phänomene. Das eine ist, dass man durch eine solche Vernetzung auch viel mehr Kontakte und Möglichkeiten hat, in andere Kulturen hineinzublicken. Das würde man sonst ja nicht machen, mit jemandem, sagen wir aus Brasilien zu schwatzen, einfach aufgrund einer Vernetzung.
Wer mitmacht, kann mit Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt treten. Es gibt zum Beispiel ein ganz spannendes Projekt mit Virtual Reality, wo einem syrischen Mädchen, das in einem Flüchtlingslager lebt, eine 360°-Kameramütze angezogen wird. Man kann die Welt gleichsam durch ihre Augen sehen. Das ist eine enorme Chance, Empathie für Leute aufzubauen, mit denen man sonst vielleicht nicht in Kontakt kommen würde, die eben durch eine solche Vernetzung ermöglicht wird. Vielleicht lerne ich dann jemanden kennen, weil er die gleiche Musik gut findet wie ich. Und ich kenne aber meinen Nachbarn nicht, weil der einen andern Musikstil gut findet. Ob ich meinen Nachbarn aber ohne Internet kennen würde?
Aber natürlich leben wir alle in Filter Bubbles, in unterschiedlichen Realitäten, weil unsere News-Aggregatoren, unsere Facebook-Feeds etc., nur das anzeigen, was uns persönlich am meisten interessiert. Und wir finden das interessant, was unsere Meinung bestätigt.
Ich habe zwei Kollegen. Der eine postet Artikel über, sagen wir, Donald Trump, der andere postet über Hillary Clinton. (Interviews kurz vor den US-Wahlen aufgenommen. Anm. d. Red.) Angenommen ich bin eher der Hillary-Clinton-Typ, dann ist die Chance, dass ich den Hillary-Clinton-Artikel like und share vermutlich grösser, als dass ich den andern Artikel von Trump like, share usw. Und irgendwann bekomme ich von Facebook nur noch Hillary-Clinton-Artikel, weil ich darauf anspreche. Und das führt zur Polarisierung einer Gesellschaft. Das führt dann eben zu Phänomenen wie Trump oder AfD in Deutschland, die mit dem Ausdruck Lügenpresse kommen. Wieso? Weil in ihrem Facebook-Feed eine andere Realität gezeichnet ist.
Das heisst, dass diese Schere sich immer weiter öffnet?
Eine Einstellungs-Geschmacks-Meinungsnähe wird wichtiger als die geographische Nähe. Es ist aber auch so, dass Leute dort wohnen, wo andere sind, die ihren Wertvorstellungen eher entsprechen.
Es kann einen gewissen problematischen Punkt erreichen, wenn Leute keine gemeinsame Realität mehr haben. Ein guter Teil hängt mit den sozialen Medien zusammen, wenn sich Leute zu wenig bemühen, aktiv nach Widersprüchen zu suchen. Einer wie Trump kann diese Polarisierung für sich nutzen. Ich glaube, das ist ein wichtiges Phänomen, das durch die Vernetzung und die extreme Informationsflut entsteht. Wir müssen als Gesellschaft auch erst lernen, mit diesen neuen Tools umzugehen.
Was passiert mit Leuten, die sich verweigern? Solche, die durch die Löcher fallen und sich nicht mehr anpassen können oder wollen? Nimmt das zu?
Grundsätzlich ist unsere Gesellschaft sehr unterschiedlichen Lebensformen gegenüber tolerant. Diversität ist heute viel einfacher als je zuvor, nicht zuletzt aufgrund technischen Fortschrittes. Psychische Krankheiten nehmen aber auch zu. Sicher sind das zum Teil banale Gründe, dass man mehr diagnostiziert. Andererseits muss man mit den Freiheiten auch umgehen können. Und auch mit Ungewissheiten, welche aus dem hohen Tempo heraus entstehen, in dem sich unsere Gesellschaft verändert. Da kommt nicht jeder mit.
Die Technologie verändert sich schneller als unsere Wertvorstellungen. Ein interessantes Beispiel habe ich im Zusammenhang mit dem bedingungslosen Grundeinkommen gehört. Über Fünfzigjährige, die arbeitslos sind, neigen beispielsweise sehr oft zu Depressionen. In dem Moment, wo sie pensioniert werden, hören bei einigen die Depressionen auf. Ab dann brauchen sie nichts mehr zu machen im Sinn von gesellschaftlich anerkannten, statusbezogenen Leistungen.
Ja, keinen Job mehr zu finden, kann eine gewisse Ächtung sein.
Genau, geächtet. Ich habe schon von älteren Menschen gehört, die finden, unter der Woche rausgehen ist peinlich. Das heisst ja, man macht nichts ‹Rechtes›. Aber ich glaube, dass sich die Wertvorstellungen ändern und sich langsam anpassen. Leistung muss z.B. nicht mehr nur mit Geld verdienen einhergehen. Das bedingungslose Grundeinkommen, was man davon auch immer hält, wäre etwas, das extrem dafür sprechen würde. Man kann die stattfindende Veränderung angehen, ohne Angst zu haben, dass man zu den Verlierern gehört. Die Leute haben dann auch nicht mehr Angst, dass Roboter ihnen langweilige Jobs wegnehmen.
Vor hundert Jahren dachten die Leute, dass die Roboter für uns arbeiten würden. Das heisst, man hatte sich darauf gefreut, und jetzt macht es plötzlich Angst. Und der Grund dafür ist, dass unsere Wertvorstellungen, unser politisches System nicht dieses Tempo hat wie die Technologie. Und diese Diskrepanz hat unter anderem mit der Zunahme der psychischen Erkrankungen zu tun. Dass es mehr Erkrankungen gibt, weil wir in den Köpfen immer noch in der industriellen Zeit feststecken, während wir schon in der postindustriellen Zeit leben. Ich glaube, dass die Wachstumsorientierung Freiheiten, aber auch Verantwortung mit sich bringt. Immer noch ist es so, dass die meisten Menschen eine Ausbildung machen, und dann arbeiten sie. Die Gesellschaft hat immer noch die Einstellung, man hat einen Job, und der bleibt bis zur Pensionierung.
Und das bedeutet, dass, wenn dieser plötzlich wegfällt, man nicht in der Lage ist, für sich selber zu entscheiden, was man will und was einen interessiert. Das ist etwas, was eine gesellschaftliche Entwicklung sein muss.
Vielleicht nehmen in dem Moment psychische Erkrankungen ab, wo die Leute mehr dazu angeregt werden, sich zu entscheiden: ‹Was will ich überhaupt? ›
Noch eine letzte Frage: Wie kommt ein Zukunftsforscher zu seinen Aussagen?
Einer der grössten Treiber für die Veränderung sind unter anderem die Technologie, gesellschaftliche Veränderungen, vielleicht auch Wertvorstellungen. Wir reden mit Forschern.
Und wir extrapolieren gewisse Trends. Wir gehen davon aus, dass die Wachstums-Bewahrungsorientierung etwas ist, das es schon seit Jahrtausenden gegeben hat und vermutlich auch weiterhin geben wird. Wenn man den technologischen Wandel anschaut, kann man sich überlegen, was können diese Entwicklungen für die Motive von Wachstum und Bewahrung in diesem Beispiel bedeuten. Und das heisst, dass wir auf die Literatur zurückgreifen, auf psychologische Forschung. Durchaus auch sozialwissenschaftlich, vielleicht auch ökonomische. Und schlussendlich ist es immer ein bisschen Spekulation. Weshalb man dann auch gerne verschiedene Szenarien aufstellt. Was wir nicht machen können ist eine Prognose, wie es wird. Wir können eher einen Möglichkeitsraum aufspannen, in der Hoffnung, dass wir vielleicht auch Leute aus ihren Alltagsgeschäften rausholen, um sich zu überlegen: Was wäre sonst noch möglich. Was kann man machen, das anders ist und nicht nur darauf warten, was passiert.
Das würde wieder dafür sprechen, dass wir lernen flexibel zu sein, auch in Bezug auf unser eigenes Leben.
Genau. Weil man dadurch die Zukunft erschafft. Jeder trägt ein kleines Teilchen dazu bei.
Danke vielmals für das Gespräch.
Barbara Heimgartner

Redaktionelles
Rezension

Matthias Horx: Zukunft wagen

Über den klugen Umgang mit dem Unvorhersehbaren - DVA, 2013
Matthias Horx behandelt in seinem neuesten Buch Zukunft wagen – Über den klugen Umgang mit dem Unvorhersehbaren nicht etwa allfällige generelle Zukunftsvisionen, er richtet den Blick vielmehr auf den einzelnen Menschen und seinen spezifischen, innerpsychischen Umgang mit Unvorhergesehenem. Sicherheitsbewusste Menschen, denen es oft an Flexibilität mangelt, dürften sich mit allen Überraschungen schwer tun. Matthias Horx, der Zukunftsforscher, fordert mehr Selbstverantwortung, Entscheidungsfreudigkeit und Autonomie. Transaktionsanalytisch ist also das integrierte ER, wie auch das freie K gefragt, hingegen wäre das krit. EL (welches u.a. Sicherheit sucht) nicht speziell dafür geeignet, sich mit überraschenden – oft Angst auslösenden – Ereignissen auseinanderzusetzen. Transaktionsanalytische Erkenntnisse und Verbindungslinien werden von Matthias Horx erwartungsgemäss nicht erwähnt, diese sind vom transaktionsanalytisch geschulten Leser selbst zu finden, und er findet eine Menge TA-Konzepte. So beispielsweise das Bezugsrahmensystem, die Ich-Zustände, der Autonomie-Zirkel, Skript-Entscheidungen und deren Auflösung mittels Erlauber und viele andere mehr. Horx ruft zu vielfältigen Vernetzungen auf, was er anhand vieler Beispiele aufzeigt. Dazu stellt er den Begriff Effizienz dem Begriff Effektivität gegenüber. Effizienz will immer mehr und immer billiger, wobei die Umweltbelastung keine Rolle spielt.
Effektivität hingegen erreicht Ziele nicht mit Maximierung, sondern durch intelligente Vernetzungen. Das braucht eine Horizonterweiterung (sprich Bezugsrahmenerweiterung). Dazu ist Vertrauen in andere notwendig, nur so können auch gegenseitige Verbindlichkeiten erfüllt werden.
Und noch ein letztes Stichwort: Resilienz. Dieses Lebensprinzip sorgt für das ‹Überleben›, für innere Stabilität. Matthias Horx überträgt diesen Begriff vom Persönlichen auch auf die Umwelt, sogar auf unseren Planeten Erde. So seien Wissenschaftler, vorwiegend Biologen 25 Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl zu einer Expedition in die verstrahlte Zone um den zerborstenen Reaktor aufgebrochen. Was sie dort fanden war sensationell. Obwohl direkt nach dem Unglück fast alle Bäume abgestorben sind, entstand jetzt ein neuer Wald, neue Flora und Fauna.
Ich zitiere (Seite 225): ‹Die ganze Zone um Tschernobyl ist heute die artenreichste Naturzone Europas. Praktisch alle grossen und kleinen Tierarten der Klimazone – Wildschweine, Wölfe, Luchse, Bären, seltene Wildpferde, Elche, Vögel – kommen in üppiger Zahl in diesem nun von Menschen verlassenen Gebiet vor. Keine Spezies dieser Breiten fehlt, im Gegenteil, die Artenvielfalt hat sich erhöht.›
Die Wissenschaftler vermuteten, dass es hier zu einer Selektion der Strahlenresistenz gekommen sei und sprachen von einer Darwin’schen Turbo-Evolution. Dadurch seien viele dämonische Fantasiegebilde zusammengebrochen.
Es geht letztlich in Matthias Horx’ Buch Zukunft wagen um den Umgang mit der Angst. Angst kann ein Eigenleben führen, in uns selbst, in der Kultur, in der Gesellschaft und in unseren Zukunftsbildern. Angst ist in vieler Weise der Schlüssel der Zukunft, so Matthias Horx.
Dieses Buch hat mir mein persönliches Egogramm verändert (krit. EL verkleinert, freies K und ER – wie ich hoffe – erhöht) und deshalb empfehle ich es allen, die vermehrt an die Zukunft glauben möchten und damit bei der eigenen Einstellung beginnen wollen.
Jürg Schläpfer
TSTA-E