Thema

Unter Männern

Ein Treffen der Selbsthilfegruppe „der baum – aktiv nach Prostatakrebs“

Ruppig und liebevoll sind sie. Aufmerksam, respektvoll. Sie geben sich Halt. Zwölf Männer, die das gleiche Schicksal teilen haben sich zur ersten Selbsthilfegruppe für Männer in Südtirol zusammengeschlossen, „der baum – aktiv nach Prostatakrebs“. Geleitet wird sie von dem Psychoonkologen Dr. Anton Huber und Dr. Hartmann Aichner, Gynäkologe und selbst Betroffener.
Mittwoch, 9. November, 18 Uhr. Fotograf Othmar Seehauser und ich betreten zusammen mit Dr. Hartmann Aichner den Sitzungssaal des Brunecker Krankenhauses. Elf Augenpaare sind auf uns gerichtet. Der Psychologe Dr. Anton Huber und zehn Männer, die im Kreis sitzen. Wir fühlen uns fast als Eindringlinge. Die Regeln sind klar: absolute Diskretion, keine der anwesenden Personen mit Ausnahme der beiden Gruppenleiter dürfen erkennbar sein, weder auf den Fotos noch aus dem Text heraus. Eine Herausforderung für uns beide.
Kurz nach uns tritt ein neues Gruppenmitglied ein, Fritz aus dem Unterland. Fünf Minuten später nimmt auch Hartmut seinen Platz ein. Wir sind komplett. Zwölf Teilnehmer, die beiden Gruppenleiter, Othmar und ich. Im ersten Augenblick wissen wir nicht recht wohin mit uns. Ich will mich schon auf einen Tisch in den Hintergrund des Raumes zurückziehen. Aber, „Setzt Euch zu uns“, fordert uns Anton Huber auf, bevor er für Neuankömmling Fritz noch einmal kurz die Gruppenregeln zusammenfasst. Absolute Diskretion, gegenseitiger Respekt, Ausreden lassen, zuhören und man(n) duzt sich.
Nach fünf Minuten ist es, als seien wir gar nicht da. Othmar huscht hin und her, hockt sich auf den Boden, um die Füße der Teilnehmer zu fotografieren. Oder ihre Gesten. Den Rücken. Nie das Gesicht. Und ich erfinde Vornamen: Sepp, Martin, Günther, Hartmut, Fritz, Toni, Ulrich, Markus, Michl, Andreas, Siegfried.
Anton hat das Programm des Abends auf ein Flipp Chart geschrieben. Begonnen wird mit der Befindlichkeitsrunde. Wie geht es mir? Neuling Fritz will gleich loslegen, man erkennt ihm die Freude an, in dieser Runde zu sein. Endlich. Aber es wird der Reihe nach vorgegangen, Ulrich beginnt..

Wie geht es mir? Was mir gleich auffällt:
Allen, bis auf einen, geht es gut. Das heißt, das sagen sie. Mir geht es gut! Doch, ja. Und dann folgt ein „Aber“. Eine Verschlechterung der Kontinenz seit Beginn der Kälte. Ein leicht erhöhter PSA-Wert. Ein geschwollenes Bein. Kribbeln in den Zehen oder den Händen. Schlafprobleme, weil man nachts so oft auf die Toilette muss. Probleme mit der Potenz bzw. mit dem Mittel, das der Arzt verschrieben hat… Ganz so gut geht es eben doch nicht, und es tut so gut, endlich frei darüber zu reden, dazu mit Menschen, denen es ebenso geht. Dr. Hartmann Aichner beantwortet die ein oder andere medizinische Frage und spricht ganz offen über seine eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten.
Einer nach dem anderen ergreift das Wort. Mir als Frau fällt auf, wie wichtig für Männer Daten sind, und technische Details. Jeder weiß seinen letzten PSA-Wert. Dieser Wert ist ein echtes Trauma. Mit ihm hat alles begonnen und er ist zum ständigen Begleiter geworden. Ich merke, dass die Männer immer offener werden und lockerer. Sie hören einander aufmerksam zu. Was sie hören, kennen sie. Das gibt Sicherheit. Ich bin nicht allein. Oder es wird ein neuer Aspekt angesprochen und der interessiert.
Plötzlich verselbständigt sich das Ganze. Während Andreas gerade über seine Schlafprobleme aufgrund der Inkontinenz spricht, stellt Ulrich ihm eine konkrete Frage. „Und musst Du auch schwitzen in der Nacht?“ Die anderen folgen. Fragen, Feststellungen, Zweifel. Kreuz und quer. „Bei mir steigt das PSA, ich mache aber gerade eine Hormonkur.“ „Ich soll jetzt, zehn Jahre nach der OP, sicherheitshalber Heilbestrahlung machen. Warum?“ Anton Huber und Hartmann Aichner gewähren der Gruppe diesen Augenblick der freien Interaktion, dann ergreift der Psychologe das Wort. „So und jetzt zuhören und Klappe halten“. Stimmt. Die Befindlichkeitsrunde ist noch nicht abgeschlossen. Das Wort hat Hartmut.
Eine kompetente Leitung, erklärt mir Anton Huber, hilft der Gruppe aus sich heraus zu gehen, schafft Vertrauen. Und sie ist zielführend. Freie Interaktion ist gut, aber irgendwann muss wieder zur vorbestimmten Ordnung gefunden werden, wenn ein Resultat erreicht werden soll.
Die Männer sind mit Ernst bei der Sache. Tränen und Lachen gehören auch dazu. Ich folge aufmerksam der Diskussion und ich vermeine zu spüren, wie gut den Männern dieses Gefühl tut: „Ich werde verstanden und ich kann verstehen.“
Sie geben auch Verletzungen preis. Nicht nur körperliche, wie Verbrennungen, die durch die Bestrahlung hervorgerufen worden sind. Auch seelische. Dumme Bemerkungen von Kollegen, die glauben, die Nachricht von der Krebserkrankung mit einem dummen Spaß abtun zu müssen: „Oschtia, dann geht amol nix mehr“, musste sich Martin von einem Arbeitskollegen sagen lassen, der das auch noch witzig fand. In der Gruppe passiert so etwas nicht und gerade deshalb können die Männer auch ganz offen über so delikate Themen wie Inkontinenz und Impotenz sprechen.
In der zweiten Runde sind die Männer angehalten, in Kleingruppen darüber zu berichten, wie ihr soziales Umfeld, Familie, Arbeitsplatz, Verein, Freundeskreis auf ihre Diagnose reagiert hat. Anschließend stellen sie der ganzen Gruppe die Ergebnisse vor. Ich will nicht stören, halte mich zurück, gehe nicht von Gruppe zu Gruppe, um zu hören, was die Männer sich austauschen. Ich beobachte nur und kann erkennen, wie tief das geht.

In der anschließenden Diskussion kommen interessante Details zum Vorschein. Toni hat an seinem Arbeitsplatz ganz offen über seine Erkrankung geredet und war nicht schlecht erstaunt, als ein Kollege sagte, „ja, das hatte ich auch vor zwei Jahren“. Vorher hatte er nie darüber geredet. Günther erzählt gerührt, wie unterschiedlich seine zwei Kinder reagiert haben. Sepp berichtet vom Familienrat. Nach jeder Arztvisite bleibt am Abend der Fernseher aus und er muss der Familie berichten. Sie möchten mit-leben. Der Sohn von Andreas hat seinen Vater zu einem gesunden Lebensstil verdonnert und organisiert Wochenendtrekkings. Die Frau von Michl nimmt sich bei jeder Untersuchung frei, um ihn zu begleiten. Auch wenn sie vor der Tür sitzen muss. Anschließend lädt er sie zum Aperitif ein und sie machen sich einen schönen Tag.
Sie haben Glück diese Männer, oder jedenfalls die meisten von ihnen. Sie sind getragen von ihrer Frau, ihrer Familie, von ihrem sozialen Umfeld. Rückverbundenheit nennt Psychologe Huber das. Der wichtigste Aspekt auf dem Weg zur Bewältigung der Krankheit. Und Rückverbundenheit gibt auch die Gruppe. Zwölf Männer, die sich getraut haben. Aber an Prostatakrebs erkrankte Männer gibt es viel mehr.
Fotograf Othmar und ich bleiben länger als vorgesehen. Als wir gehen, steht der vierte Programmpunkt an: Was tue ich, wenn es mir schlecht geht. - Wir sind glücklich über das Vertrauen, das uns diese Männer entgegengebracht haben, glücklich, dass wir diesen besonderen Moment miterleben durften und glücklich, darüber berichten und damit vielleicht den Anstoß zur Gründung neuer Gruppen geben zu können.

Thema

Die erste Männer-Selbsthilfegruppe


Dr. Hartmann AichnerDr. Hartmann Aichner

Ein Arzt, der sich während seines ganzen Berufslebens mit Krebserkrankungen auseinandergesetzt hat, erkrankt selbst an Krebs und stellt fest, dass die medizinische Betreuung alleine nicht reicht. Er hat Fragen. Es geht ihm nicht gut. Er möchte sich austauschen. Von seinen Patientinnen kannte Dr. Hartmann Aichner die positive Wirkung von Selbsthilfegruppen und so machte er sich auf die Suche nach einer Gruppe für Männer mit Prostata-Krebs. Vergebens. Es gab keine. Zumindest nicht in Südtirol. Die nächste, die er fand war in Innsbruck. Eine andere in Bayern. Zu weit weg. Als er mit seinem Kollegen, dem Psychoonkologen Anton Huber darüber spricht, wird eine Idee geboren: „Wir gründen selbst eine Gruppe.“ Sie besprechen das Konzept, die Südtiroler Krebshilfe und der psychologische Dienst am Krankenhaus Bruneck unterstützen das Projekt, sie finden einen Namen, entwerfen ein Faltblatt und legen es aus. Im Mai soll es losgehen. Telefonisch melden sich fünf Männer an. Zum ersten Treffen kommen zwölf…